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Nimm mich mit nach Gestern

Renate Delfs, Rike Schmid

 

Verlag Herbig, 2016

ISBN 9783776682144 , 208 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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16,99 EUR


 

Mai 2002

Liebe Rike,

wie schön, dass wir uns beide entschlossen haben, unsere Gespräche schriftlich fortzusetzen. Es freut mich, dass Du Dich für mich und meine Vergangenheit interessierst.

Das, was am 11. September passiert ist, wird uns alle noch lange beschäftigen. Im Krieg gegen den Terror werfen die Amerikaner Bomben auf Afghanistan – das wird nicht folgenlos bleiben. Aber der Kampf gegen den Terror ist etwas anderes als der Weltkrieg, der damals von Deutschland ausging.

Das Thema »Drittes Reich« beschäftigt mich nach wie vor. Alles ist so lange her, aber mir bleibt bis heute ein Stachel im Fleisch. Und so passiert es mir, dass ich gerade in der Begegnung mit Jüngeren auf einmal wieder mittendrin bin in dieser Zeit, indem ich erzähle und versuche, zu erklären, zu ergründen …

Der Abstand zwischen Dir heute und meinem Leben damals ist ebenso groß wie der zwischen meiner Schulzeit und der Kaiserzeit, in der meine Eltern lebten! Wenn meine Mutter aus ihrer Jugend berichtete, dann war das für mich nicht weiter spannend, es handelte sich um »Kränzchen« und »Tanzstunden«, und wir konnten höchstens feststellen, dass wir zum Beispiel im Umgang mit Knaben schon ein wenig kühner waren. Wenn unsere alte Biologielehrerin uns vorm Küssen warnte, weil man davon Syphilis bekommen könne, haben wir nur gegrinst. Aber diese Phase, die mich so nachhaltig geprägt hat, ist grundverschieden zu Deinen eigenen Erfahrungen, und manches Wort, mancher Ausdruck muss für Dich sehr fremd klingen, wie eine Geschichte aus einer fernen Zeit.

Du sagtest in Deinem letzten Brief, Du würdest viele Fragen an mich haben, und schreibst: »Die Zwänge, unter denen Du als junges Mädchen standst, sind für mich schwer vorstellbar.« Ach Rike, ich kann es selber kaum begreifen.

Als meine Kinder noch zur Schule gingen und im Geschichtsunterricht das »Dritte Reich« durchgenommen wurde, habe ich versucht, mit ihnen ausführlich und ehrlich über diese Zeit zu reden. Sie fragten: »Was habt ihr damals getan?«, »Was habt ihr gewusst?«, »Habt ihr euch schuldig gemacht?« Damals war der Tenor anklagender und fast vorwurfsvoll. Es waren die Fragen der Siebzigerjahre, und in vielen Familien wurden die Heranwachsenden mit dem Schweigen der Vätergeneration nicht fertig. Heute wollt Ihr von uns wissen, warum wir uns nicht gegen die herrschenden Zustände aufgelehnt haben.

Um im Versuch der Beantwortung all dieser gewichtigen Fragen einen Anfang zu finden – der zugleich einen Schlussstrich darstellt –, möchte ich mit Dir zurückgehen in das Jahr 1945.

Der Krieg war schon seit einigen Wochen aus. Ich brauchte nicht mehr jeden Morgen um sechs Uhr in die Fabrik zu gehen und durfte weiterhin in meinem schönen Elternhaus leben. Die Krankheit meines Vaters war weit fortgeschritten, und wir alle waren sehr bedrückt, seinetwillen, aber auch wegen der hoffnungs- und aussichtslos erscheinenden Situation in unserem Land.

Am 14. Juni 1945 ging in Flensburg ein Munitionslager in die Luft, unser Haus lag knappe drei Kilometer in unmittelbarer Luftlinie. Der Luftdruck von der Detonation war so stark, dass meine Schwester und ich fast aus den Betten flogen. Wir rannten ans Fenster, da sahen wir einen gewaltigen Feuerpilz, und im gleichen Moment gab es einen zweiten Knall. Wir wurden zu Boden gerissen, mit uns die Fensterscheiben und -rahmen, die Verdunklungsrollos und Bilder an den Wänden. Als wir uns von dem ersten Schock erholt hatten, lag neben meinen Füßen ein Hitlerbild. Seine Rückseite hatte mir als Passepartout für van Goghs Bild »Der Weg zur Arbeit« gedient; nun war es aus dem Rahmen gerissen und zeigte wieder dies inzwischen so verhasste Gesicht. Ich trampelte auf der hässlichen Visage herum, als könnte ich damit alles, was geschehen war, auslöschen.

Erst einige Jahre zuvor hatte dieses Bild in meinem Zimmer gehangen. Ich liebte mein Zimmer sehr, und wenn ich die verschiedenen Dekorationen recht erinnere, die in meinen Kinder- und Jugendjahren seine Wände schmückten, so ist damit sicher viel ausgesagt über meine jeweilige Befindlichkeit. So waren es zunächst Jesusbildchen aus dem Kindergottesdienst, später kamen Filmstars dazu, die aber weichen mussten vor Geistesheroen wie zum Beispiel dem jungen Schiller und später dann vor leibhaftigen jungen Männern. Wann ich auch »meinem Führer« einen Platz an der rosa tapezierten Wand meines Zimmers eingeräumt habe, weiß ich nicht mehr.

Ich weiß aber ganz genau, dass ich ihn demonstrativ am 1. September 1939, dem Tag des Kriegsausbruchs, ins Herrenzimmer hing. Das war eine sehr kühne Tat, denn was dort aufgestellt oder hingehängt wurde, bestimmten die Eltern und nicht wir Kinder. Aber ich war sicher, dass am Anfang dieser nun so »großen Zeit« auch die Eltern diesem bewunderten Staatsmann ihre Hochachtung erweisen mussten, indem sie ihn sozusagen bei sich willkommen hießen. Denn nach meiner damaligen Überzeugung waren die Eltern in dieser Beziehung ein bisschen rückständig und brachten ihm nicht allzu viel Begeisterung und Glauben entgegen.

Nun lag sein Bild unter Glasscherben und Schutt auf dem Boden, und dass ich darauf herumtrampelte, konnte die letzten Jahre auch nicht mehr ungeschehen machen. Ein Kreis hatte sich geschlossen – aus der begeisterten Vierzehnjährigen bei Kriegsausbruch war sechs Jahre später jemand geworden, der mit grenzenlosem Entsetzen zurückblicken musste. Dazwischen liegt das bewusst erlebte »Dritte Reich«.

Ich glaube, ich sollte Dir erst mal ein bisschen von meinen Lebensumständen erzählen, damit Du Dir von der Welt, in der ich aufwuchs, und von mir ein Bild machen kannst. Ich war acht Jahre alt, als Hitler Anfang 1933 Reichskanzler wurde. Und viele der Eindrücke, an die ich mich jetzt beim Schreiben erinnere, haben mit dieser ungeheuren Zeitenwende etwas zu tun.

Ich hatte eine wunderschöne, unbeschwerte und behütete Kindheit. Ich spürte nichts davon, dass mein Vater durch die Inflation sein Vermögen verloren hatte, und ich glaube, es hätte mich auch gar nicht interessiert. Ich hatte meine Phantasien, meine Bücher, meine Puppen, und ich hatte Sellmi – unser Kinderfräulein, von der ich Dir sicher noch häufiger erzählen werde. Sellmi war 1919 nach der Geburt meiner Schwester als Säuglingsschwester zu uns gekommen und blieb bis zu ihrem Tode 1982 bei uns. Sechzig Jahre lang gehörte sie zur Familie, von fünf Generationen geliebt. Sie war die absolut wichtigste Person meiner Kindheit, sie war immer für mich da, kannte die herrlichsten Geschichten, kannte all meine Puppen beim Namen – und sie lehrte mich Urvertrauen.

Wir wohnten im Norden der Stadt, nicht weit von der Förde und somit von der Grenze zu Dänemark entfernt, in einem schönen, großen Haus, das ich so sehr liebte. Die »Villa«, wie es damals hieß, und auch heute noch so genannt wird, war Ende des 19. Jahrhunderts gebaut und nahm sich fast ein wenig zu großartig aus zwischen Mietshäusern und Hinterhöfen. Es hatte wohl mal einen städtebaulichen Plan gegeben, wonach eine feine Allee zum Strand führen und die Gegend in der Nähe von Strand, Wald und Wasser zu einem privilegierten Wohnviertel gemacht werden sollte. Aber dann nahm die Industrialisierung an Bedeutung zu, und es wurden andere Wohnungen nötig. Wichtig für Flensburg war vor allem die Gründung der bis heute noch für das Wohlergehen der ganzen Stadt bedeutenden Schiffswerft 1872. Ferner gab es ein Elektrizitätswerk, eine Gasanstalt und die Wasserwerke – alle mit Arbeitsplätzen verbunden, sodass viele Menschen aus der immer enger werdenden Innenstadt in den Norden zogen.

Vor 1933 galt dieser Norden der Stadt als »rot«, und ich erinnere mich gut daran, dass in der Verlängerung unserer Straße fast aus jedem Fenster eine rote Fahne wehte. Jetzt gab es dort Arbeitslosigkeit und Armut. Die Werft hatte keine Aufträge mehr und musste schließen. Bei einer Einwohnerzahl von etwas mehr als 67.000 gab es in Flensburg 1932 fast 9000 Arbeitslose.

Ein Erlebnis ist mir unvergesslich: Da trat ein Mann auf der Straße auf meine Mutter zu – ich ging neben ihr – und sagte auf Plattdeutsch: »Was meint ihr, wenn wir euch das Deutsche Haus mal anzünden?« Nicht gerade taktvollerweise wurde das Deutsche Haus, ein architektonisch sehr schönes, repräsentatives Gebäude mit Konzertsaal, Bibliothek und Gastronomie, am 27. September 1930 feierlich eingeweiht. »Reichsdank für deutsche Treue« steht über dem Portal, eine Belohnung dafür, dass die Flensburger sich 1920 entschieden hatten, deutsch zu bleiben und nicht Dänemark angegliedert zu werden. Fünf Wochen vor der Einweihung des »Deutschen Hauses«, am 11. Juli 1930, hatte die Werft schließen müssen und dem letzten Arbeiter gekündigt. Die Nähe dieser beiden Ereignisse muss ja eine Provokation gewesen sein.

Als Kind habe ich sicher etwas von diesen bedrückenden Verhältnissen wahrgenommen, denn ich war sehr ängstlich vor manchen, mir unerklärlichen Dingen. So gab es am Abend oft kleine, aber mir unheimliche Umzüge an unserem Haus vorbei – Männer, Frauen und Kinder mit sehr ernster Miene. Den Takt ihrer Schritte gab eine dunkle Trommel vor: bumm, bumm, bummbummbumm. Sie sprachen nicht, auch die Kinder nicht, und ich hatte Angst vor ihnen. Ich dachte, sie würden mir böse sein, weil ich es so viel besser hatte als sie. Ich hatte Angst, wenn es an der Haustür klingelte und fremde Männer mit leiser Stimme um etwas baten. Wir wurden dazu angehalten, sehr höflich und bescheiden zu sein und uns keine Frechheiten zu erlauben. Ich wusste, Geld durften wir ihnen nicht geben, aber wir durften ihnen sagen, dass wir etwas zu essen holen würden. Aber dann gingen sie meistens stumm wieder weg. Ich weiß, dass...