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Amrita

Banana Yoshimoto

 

Verlag Diogenes, 2015

ISBN 9783257606447 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[45] Willkommener Regen

Ich hab schon oft gehört, daß einem plötzlich alles vollkommen verändert vorkommen soll, wenn man etwas extrem Heftiges erlebt hat, aber bei mir, glaube ich manchmal, liegt der Fall doch noch anders.

Jetzt weiß ich! Jetzt kann ich mich endlich an alles erinnern, an sämtliche Episoden meines Lebens als Sakumi Wakabayashi seit meiner Geburt vor achtundzwanzig Jahren, an die Zusammensetzung meiner Familie, an meine Lieblingsspeisen, an die Dinge, die ich hasse – ich kann mir diese ganzen Elemente, die mich zu der Person machen, die ich bin, genau wie eine Geschichte in Erinnerung rufen.

Aber nicht anders. Nur als Geschichte.

Deshalb fehlt mir, um ehrlich zu sein, jedes Mittel, herauszubekommen, welche Gedanken oder Gefühle ich über mein Leben gehabt habe, bevor dieser kleine Unfall passierte. Aber vielleicht habe ich auch schon immer so gedacht wie jetzt. Tja, wer weiß?

Sind es Tage und Monate gewesen, die sich einfach so angehäuft haben wie leise fallender Schnee?

Wie bin ich mit mir selbst ausgekommen?

Wenn man sich die Haare radikal abschneiden läßt, soll sich, weil die anderen einem eine Spur anders [46] gegenübertreten, auch der eigene Charakter etwas verändern… Auch so eine Geschichte, die ich oft zu hören bekomme. Nachdem ich bei der Operation zum Glatzkopf geworden war, habe ich jetzt endlich, wo der Winter vor der Tür steht, zumindest wieder einen nennenswerten Kurzhaarschnitt.

Meine Familie, meine Freunde sagen alle wie aus einem Mund: »Saku-chan, so haben wir dich ja noch nie gesehen, du siehst ganz neu aus, so frisch, wie ein anderer Mensch!«

Ja? Ich lächele sie an und schlage nachher heimlich meine Fotoalben auf. Und wirklich, da bin ich: mit langen Haaren, lachend. An allen möglichen Orten, im Urlaub, in allen möglichen Situationen. Ich weiß das auch alles noch ganz genau. Da war das Wetter soundso, hier hatte ich in Wahrheit gerade Menstruationsschmerzen und konnte so eben wieder stehen… und so weiter und so fort. Deshalb bin ich das, und niemand anders.

Aber es sagt mir nichts.

Ein eigenartiges Gefühl, als schwebte ich im luftleeren Raum.

Am liebsten würde ich mir Beifall klatschen, weil ich trotz dieses seltsamen Gemütszustands unermüdlich weitermache, »mich selbst« zu spielen, als wenn nichts wäre.

Um es kurz zusammenzufassen: Bei uns zu Hause leben derzeit meine Mutter, ich, mein kleiner Bruder, der in die vierte Klasse geht, außerdem Junko, eine Jugendfreundin meiner Mutter, die freie Kost und Logis bei uns hat, und meine Cousine Mikiko, die studiert. Mein Vater ist schon lange tot, meine Mutter hat noch einmal geheiratet und sich wieder scheiden lassen. Das heißt, mein Bruder Yoshio und [47] ich haben verschiedene Väter. Zwischen mir und Yoshio gab es eigentlich noch Mayu. Meine jüngere Schwester. Wir hatten denselben Vater. Sie war Künstlerin, hat aber damit aufgehört, mit einem Schriftsteller zusammengelebt, ist schließlich seelisch krank geworden und gestorben, durch eine Art Selbstmord. Das ist lange, lange her.

Fünf Tage die Woche arbeite ich als Kellnerin. Abends schenken wir auch Alkohol aus, aber es ist eine kleine, altmodische Kneipe, nichts Anstößiges. Ein Laden, wie es viele gibt, mit dem Ambiente einer Studentenparty – der Wirt ist ein alter Hippie. Wenn ich Zeit habe, arbeite ich tagsüber noch im Büro der Firma eines Freundes – na ja, und was sonst so anfällt. Mein verstorbener Vater hatte einigermaßen Geld. Es muß eine Zeit gegeben haben, in der ich lange an dieser Lebensweise rumüberlegt habe, es irgendwie gut und schick zu finden, daß ich Geld habe, daß ich mich amüsieren und einfach so leben kann. Unbewußt, aber lange. Dann, als es mir bewußt wurde, hatte ich mir eine seltsame Position erobert: Ich war weder ein verwöhntes Töchterchen geworden, noch war ich in der rebellischen Phase steckengeblieben. Ich mag mein Leben, ich liebe es, ich liebe es zum Schlapplachen, ich kann nichts dafür, ich bitte um Verzeihung. Das muß an meinem Weltbild liegen, deshalb wünschte ich, Ihr würdet das alle so sehen, bitte, ich kann nicht anders!

Als ich in jener Nacht um drei Uhr von der Arbeit nach Hause kam, saß meine Mutter mit zusammengezogenen Brauen am Küchentisch.

Das macht sie oft, wenn sie etwas mit mir zu bereden hat. [48] Vor Urzeiten zum Beispiel, als sie wieder heiraten wollte. Ich dachte an Mutter, wie sie damals unnötigerweise ein todernstes Gesicht aufgesetzt hatte, obwohl ihr die Mundwinkel vor Glück zuckten. In letzter Zeit schien sie alles mit Junko zu besprechen, deshalb war eine solche Situation lange nicht mehr vorgekommen.

Wahrscheinlich geht’s um Brüderchen, erfaßte ich sofort. Er war ein wenig seltsam und sorgte offenbar in der Schule des öfteren für Gesprächsstoff. Seit Mayu gestorben war, schien »Kindererziehung« für Mutter zu einer Obsession zu werden. Es machte mich immer ein bißchen traurig, wenn ich an Mutter dachte. Sie schien ihr Leben nämlich manchmal nicht gerade zu lieben.

Es war traurig, mit ansehen zu müssen, wie jemand unter demselben Dach das Leben schwernahm, während man es selbst in vollen Zügen genoß.

»Gibt’s was?« fragte ich.

Im Haus schliefen bereits alle, die Küche war dunkel, nur die kleine Neonröhre über der Spüle war an. In ihrem Schein glich Mutter einem Schwarzweißporträt.

Auf ihren grimmig verzogenen Brauen und Lippen lagen tiefe Schatten.

»Komm, setz dich ein bißchen zu mir«, sagte sie.

»Ja. – Ach, willst du nicht auch einen Kaffee?«

Darauf sagte sie sofort: »Laß nur, ich mach uns schon einen«, und stand auf. Ich zog mir quietschend einen Stuhl heran und ließ mich drauffallen. Wegen der Arbeit im Stehen verließen mich sofort sämtliche Kräfte, als ich mich hingesetzt hatte. Ich spürte, wie die Müdigkeit schleichend vom Kreuz auf den ganzen Körper übergriff.

[49] Irgendwie verbinde ich schöne Erinnerungen mit heißem Kaffee in der Nacht. Warum bloß? Ich denke an früher, als ich Kind war. Obwohl ich doch damals gar keinen getrunken habe. Heißer Kaffee in der Nacht ist mir jedesmal willkommen, so wie der Morgen nach dem ersten Schnee oder eine Taifun-Nacht.

Mutter sagte: »Es geht um Yoshio.«

»Und inwiefern?«

»Er sagt, er will Schriftsteller werden.«

Das war ja mal was ganz Neues.

»Und wie kommt er plötzlich darauf?« fragte ich. Im großen und ganzen war mein Brüderchen nämlich ein vollkommen normaler Junge von heute, das heißt so ein fieser Bengel, der allen Ernstes Geschäftsmann in einer großen Firma werden wollte, weil man da viel verdient oder weil das in irgendeiner Fernsehserie so prima ausgesehen hatte.

»Ja, also… er sagt, daß Gott im Traum an seinem Bett gestanden hätte«, sagte Mutter. Fast wäre mir der Kaffee zur Nase rausgekommen.

»Ach, so was ist wahrscheinlich gerade in«, sagte ich lachend. »Er ist doch noch ein Kind, laß ihn einfach in Ruhe.«

»Aber er ist so komisch.« Mutter blieb ernst.

Ich sagte: »Trotzdem, das Beste wird sein, du siehst es dir eine Weile an, ohne ihn darauf anzusprechen.«

»Du meinst, er wird irgendwann genug davon haben?«

»Ja, und außerdem: Was ist denn eigentlich so schlecht daran, wenn einer Schriftsteller werden will?«

»Ach, irgendwie…«

»Wahrscheinlich, weil er der einzige Junge in der Familie ist. Du mußt abwarten, was aus ihm wird«, sagte ich.

[50] »Mayu ist tot, du hast dir den Kopf angeschlagen, und jetzt das. Ich möchte wirklich wissen, ob ich irgendwann auch mal eine Zeit ohne Probleme erleben darf!« sagte Mutter. »Das Kind schreibt Blatt um Blatt voll, als wäre es besessen von irgendwas!«

»Das ist wirklich merkwürdig.« Ich nickte.

Strahlt ein Leuchtturm allzu hell, verwirrt er die vorüberfahrenden Schiffe und zieht die wunderlichsten Schicksale an, dachte ich bei mir. Mutter war wie so ein Leuchtturm, das wußte ich instinktiv. Ich glaube, es gibt eine bestimmte Art von Anziehungskraft, deren Daseinsenergie unermüdlich nach Veränderung verlangt. Mutter ahnte das schwach, und sie litt darunter. Deshalb sprach ich es nicht an.

»Bestimmt wird allerhand passieren in unserem Haus, wie in Yukio Mishimas Ein schöner Stern.4 Das wär doch toll, ich freu mich schon!« Das sagte ich einfach so, obwohl ich später erst erfahren sollte, wie sehr es in gewisser Weise stimmte.

Mutter lachte.

»Aber ich werd mir Yoshio mal vorknöpfen und ihn interviewen, morgen oder so.«

»Ja, mach das, dann wirst du endlich begreifen, warum ich mir Sorgen mache!«

»Ist er so merkwürdig?«

»Wie ein anderer Mensch!« Sie nickte, machte aber ein viel fröhlicheres Gesicht als vorhin. So mußte das sein, das war noch in Ordnung.

[51] Alleine in einer nächtlichen Küche können einem die Gedanken nämlich für immer stehenbleiben, so ein Ort ist das. Auf keinen Fall sollte man sich lange darin aufhalten. Man darf die Mutter, die Ehefrau, die Tochter nicht dort einschließen. Neben tollen russischen Eintöpfen entstehen hier nämlich auch Mordgelüste und heimliche Alkoholikerinnen. In diesem großartigen Herzen des Hauses.

Kürzlich hatte ich am eigenen Leib erfahren müssen, daß so ein Mensch, diese scheinbar stabile, feste Masse, in Wirklichkeit ein furchtbar weiches, wabbeliges Geschöpf ist, das jederzeit, durch einen winzigen Stich oder Stoß etwa, ganz einfach kaputtgehen...