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Kritik der Freiheit - Das Grundproblem der Moderne

Otfried Höffe

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2015

ISBN 9783406675041 , 399 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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22,99 EUR

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1.  FREIHEIT UND MODERNE AUF DEM PRÜFSTAND


Die Freiheit, so lautet die Leitthese dieser Studie, hat für den Menschen generell und für die Moderne im besonderen eine konstitutive Bedeutung. Für beide ist sie das höchste Gut. Gegen diese These werden freilich erhebliche Zweifel vorgebracht. Weder das Prinzip Freiheit noch das Projekt der Moderne, folglich auch deren Verklammerung, können noch mit spontaner Zustimmung rechnen. Statt dessen liebt man es hier, allerdings mit rückläufigem Interesse, von einer Postmoderne mitsamt Postdemokratie und Fortschrittsskepsis, und dort von der Freiheit als einer Illusion zu sprechen. In dieser Situation empfiehlt es sich, die Freiheit auf den Prüfstand zu stellen und die Moderne einer Neuvermessung zu unterwerfen, die eine Kritik im ursprünglichen, judikativen Sinn des Wortes anstrebt.

Gemäß diesem Verständnis ist die Kritik nicht als Anklage und Beschuldigung, aber auch nicht in planem Gegensatz als Verteidigung gemeint. Freiheit und Moderne sowie ihre Verklammerung werden weder einer Ablehnung noch einer Apologie, vielmehr einer richterlichen Kritik ausgesetzt. Statt einem radikalen Pessimismus oder einem ebenso radikalen Optimismus zu verfallen, sollen Argumente des Für und Wider aufgesucht und deren Abwägen vorgenommen werden: Welches Potential an Legitimation, welches an Limitation enthalten das Prinzip Freiheit und das Projekt der Moderne? Näherhin: Was versprechen sie, in der Steigerung von Chancen über Erwartungen bis zu Hoffnungen? Wie weit halten sie ihr Versprechen? Wo ist mit Mißbrauch zu rechnen, und wo liegen Kehr- und Schattenseiten? Welche Zumutungen stellen sich ein?

Diese Fragen bündeln sich in der Leitfrage, ob man gegen die schon modisch gewordene Skepsis nicht seinerseits skeptisch sein und auf der Grundlage genauerer Diagnosen, selbstverständlich mit der Anstrengung von Begriff und Argument, für eine Erneuerung beider, des Prinzips Freiheit und des Projekts der Moderne, plädieren darf.

Zu diesem Zweck ist zunächst der facettenreiche Gehalt zu klären: Auf welche Freiheit kommt es an? Und: Welche Moderne ist gemeint? Sodann muß man der entweder bleibenden oder aber verlorengegangenen Berechtigung nachspüren, durchaus Gefährdungen und Gefahren aufdecken, um schließlich, unter Verzicht auf ein heroisches Pathos, Möglichkeiten der Regeneration auszuloten.

Ein Denken, das sich dem Prinzip Freiheit verpflichtet hat, pflegt man Liberalismus zu nennen. Übernimmt es zum Zweck der Regeneration Elemente der Aufklärung, so kann es «Liberalismus aus dem Geist der Aufklärung» oder kürzer «aufgeklärter Liberalismus» heißen. Für einen derartigen Liberalismus plädiert diese Studie.

1.1 Konstitutive und epochenspezifische Bedeutung


An dem für sie wesentlichen Prinzip der Freiheit zeigt die Moderne, daß sie kein schlechthin neues Ziel verfolgt, sondern eine anthropologische Grundintention, eben die Freiheit, zur Blüte, am liebsten sogar zur Vollendung bringen will.

Wer das Prinzip Freiheit aufgibt, setzt also mehr als bloß das Projekt der Moderne und Einsichten ihrer großen Denker aufs Spiel. Er gefährdet auch das Wesen des uns bisher bekannten Menschen, weshalb man das sowohl anthropologisch als auch für die Moderne wesentliche Prinzip nicht leichtfertig aufgeben sollte. Ohnehin dürfte Karl Marx mit seiner Behauptung zumindest in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht recht haben: «Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der andern» (Debatten über Preßfreiheit, MEW I 1, 143). Nach der ersten und grundlegenden These dieser Studie gilt jedenfalls die Freiheit in drei Hinsichten, als Wirklichkeit, als Aufgabe und als Sehnsucht, als ein integraler Bestandteil der einzigartigen Natur des Menschen.

Weil der Verzicht folgenreich ist, empfiehlt es sich, das Prinzip Freiheit, bevor man es verabschiedet, zuerst kennenzulernen. Dabei stößt man, so die zweite These, auf Gefährdungen und Gefahren, die nicht notwendig auf Verabschiedung, wohl aber auf immanente Verbesserungen dringen.

Ob Individuen, Gruppen oder Institutionen – dem, der die Freiheit gefunden hat, droht sie in anderer Weise zu entgleiten. So erweist sich die Freiheit samt Moderne als ein vielschichtiges, inneren Spannungen ausgesetztes, in mancher Hinsicht sogar widersprüchliches Ziel. Warum soll man aber nicht diese drei Eigenarten anerkennen und die Freiheit als ein (1) facettenreiches, (2) intern spannungsgeladenes und (3) von Widersprüchen durchwirktes Phänomen verstehen?

Denn auch dies ist richtig: Viele Vorhaben und Visionen, erneut sowohl der Menschheit im allgemeinen als auch der Moderne im besonderen, sind von einem Freiheitsgedanken inspiriert. Diese Inspiration tritt umso deutlicher zutage, wenn man drei nahverwandte Begriffe hinzunimmt: Emanzipation, Selbstbestimmung und Autonomie. Dann springt nämlich deutlicher ins Auge, daß der Moderne, also dem zweiten Leitbegriff dieser Studie, Visionen zugrundeliegen wie Vernunft und Aufklärung, auch Fortschritt, die wesentlich vom Gedanken der Freiheit geprägt sind. Ob man die Aufklärung als Befreiung von Aberglauben oder von der Bevormundung durch Staat und Kirche, ob man die Emanzipation von Naturzwängen und mühevoller Arbeit dank neuer Kenntnisse und Fertigkeiten, ob man den Abbau von Privilegien, die Kontrolle politischer Macht und die Demokratie als Selbstbestimmung der Betroffenen betrachtet – diese und weitere für die Moderne typischen Prozesse bleiben trotz mancher Skepsis gegen die Moderne willkommen. Vor allem lassen sich diese Prozesse im gemeinsamen Ausdruck der Freiheit bündeln, was für eben diesen Ausdruck spricht. Allerdings bündeln sie sich kaum in einem gemeinsamen Begriff.

Das Verständnis der Freiheit als einem Konstitutiv des Menschen, das in der Moderne seine bislang höchste visionäre Gestalt gefunden hat, setzt jedenfalls, so die dritte These, kein homogenes Freiheitsverständnis voraus. Im Gegenteil, wer mit dem Prinzip Freiheit die Moderne vermessen will, hat als erstes die Vieldeutigkeit des Prinzips zu klären. Und weil die verschiedenen Bedeutungen in unterschiedlichen Diskursen verhandelt werden, sind verschiedene, bislang voneinander abgeschottete, für unser Thema aber gleichermaßen wichtige Diskurse zusammenzuführen, etwa die Diskurse um Technik und Umweltschutz, auch um Medizin, die um Erziehung, um religiöse Toleranz wie um die Gefahren von seiten religiöser Fanatiker, die um Markt und Kapitalismus, um Datenschutz, Mediendemokratie und die um die hochfahrenden Ansprüche der Hirnforschung.

Ein weiteres Phänomen spricht für die doppelte Aufgabe, die Moderne mit Hilfe des Prinzips Freiheit neu zu vermessen und im Zuge der Neuvermessung eine Regeneration vorzunehmen: Auch wenn man die Geschichte der letzten Jahrhunderte als eine Freiheitsgeschichte und die Moderne als ein Freiheitsprojekt versteht, erweist sich ein häufig mitlaufendes Verständnis als hoffnungslos naiv. Ob ausgesprochen oder stillschweigend – manche Visionäre der Freiheit (und ähnlich der Moderne) glauben an einen linearen Fortschritt, durch den das Maß an Freiheit mehr und mehr zunehmen und am Ende zu einem umfassenden und vollkommenen «Reich der Freiheit» führen soll. Tatsächlich treten Phänomene auf, die einem lange dominanten Optimismus widersprechen, ihn sogar in Pessimismus umschlagen lassen.

Pessimismus förderlich sind beispielsweise: (1) Dilemmata, nämlich Zwangslagen, in denen man sich bei der Entscheidung für die eine Freiheit zugleich gegen eine andere Freiheit ausspricht; ferner (2) eine Dialektik der Selbstgefährdung – ein Zuwachs an Freiheit schlägt in einen Verlust von Freiheit um oder bietet einem Mißbrauch von Freiheit Vorschub; nicht zuletzt (3) Aporien beim Versuch, Freiheit und Freiheiten zu erringen und das Errungene zu bewahren.

Über diesen negativen Phänomenen darf man aber die Errungenschaften der Freiheitsprozesse weder kleinreden noch gar vergessen. Ohnehin gibt es immer noch bahnbrechende Innovationen, so etwa in den Bereichen der Informationstechniken, der Molekularbiologie und der Neurowissenschaften, in anderer Weise im Völkerrecht. Allerdings sind auch diese Bereiche dem genannten Trio von Dilemmata, Dialektik und Aporien kaum enthoben. Ohne deshalb jeden Glanz zu verlieren, müssen daher Freiheit und Moderne ihre Bereitschaft zu Selbstkritik und Reformbereitschaft stärken. Eine Einstellung, die sich auf einen derartigen Lernprozeß einläßt, bezeichne ich wie gesagt als aufgeklärten Liberalismus (s. Kap. 5). Und wer am Ausdruck der Moderne festhalten will, spreche von einer regenerierten Moderne.

Diese Studie widmet sich drei Aspekten der Freiheit. Nach ihrem ersten, normativen Aspekt ist die Freiheit der Inbegriff heroischer Visionen, nämlich der ineinandergreifenden Prinzipien von Vernunft, Aufklärung und Emanzipation, deren Zusammenspiel hier das «Freiheitsprojekt der Moderne» heißt. Gemäß einem zweiten, weithin empirischen Aspekt, dem der gelebten Freiheitsprozesse, bestehen diese im Versuch, möglichst viel von den Visionen zu realisieren, wobei aber Schwierigkeiten, Dilemmata und Aporien auftreten. Der dritte Aspekt...