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Keine Angst, wir kommen - Unfassbare Geschichten vom Rettungsdienst

Georg Lehmacher

 

Verlag Fontis, 2014

ISBN 9783038486343 , 318 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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11,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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1


Furchtbare Schmerzen


Mai 1983


Josef steht im Hof, als ich kurz nach 17.00 Uhr bei der Rettungswache ankomme. Er stopft in seiner Pfeife herum und versucht immer wieder, sie anzuzünden. «Du kannst schon mal den Rettungswagen durchsehen», brummt er. «Ich glaub, die linke Sauerstoffflasche muss gewechselt werden. Und nachher fahren wir dann noch tanken.»

Meine erste Nachtschicht hinten im Rettungswagen. Quasi als Verantwortlicher für den Patienten. Und doch nicht richtig. Ich bin ja nur Rettungsdiensthelfer und Josef der höher qualifizierte Rettungssanitäter. Aber ein ZDL darf bei uns nicht fahren.

«Wir hatten da ein paar, die sind hier mit den Autos so in der Gegend herumgeräubert», hatte Christian, der Wachleiter, mal bemerkt, «was die alles kaputtgefahren haben, das kann keiner bezahlen.» Also ist der Rettungsdiensthelfer und ZDL grundsätzlich immer hinten beim Patienten.

Ich bin ziemlich verschwitzt von der Fahrt an diesem heißen Tag. Mein Fahrrad binde ich an der Halterung der Regenrinne fest. Das Schutzblech ist abgegangen. Wenn ich Glück habe, sperrt mir Josef später die Werkstatt auf, und ich kann es wieder anschrauben.

«Das kannst du auch in die Halle stellen», brummt Josef und nickt in Richtung meines Fahrrads, «es ist eh genug Platz drinnen. Der 1er ist gerade in der Werkstatt.»

Der «1er» ist ein Krankentransportwagen, er hat das Kennzeichen AIC-UV 1. Ein besonderer KTW. Weil er das Vorführfahrzeug der Herstellerfirma war und einen 180-PS-Motor hat, und nicht die zu dieser Zeit üblichen 76-Diesel-PS, wird er gerne gefahren.

«Hatte der UV-1 einen Unfall?», frage ich.

«Nein», schüttelt Josef den Kopf und pafft Rauchwolken vor sich hin. Endlich ist seine Pfeife angebrannt. Ein etwas süßlicher Tabakduft.

«Die Elektrik hatte ein Problem, das Blaulicht ging immer von alleine an. Als ich mit Wolfgang letzte Woche auf der Rückfahrt von Murnau war», lacht er jetzt, «hab ich mich gewundert, dass auf einmal alle vor mir zur Seite fahren. Das war vielleicht peinlich!»

«Und was habt ihr dann gemacht?»

«Die Sicherung raus», sagt er.

«Ach, klar.» Logisch, da hätte ich auch selbst drauf kommen können.

«Aber dann», grinst er, «ging auch der Funk nicht mehr.»

«Aha. Wie ging es dann weiter?», er wartet wohl darauf, dass ich ihn alles einzeln frage.

«Dann ist Wolfi hochgestiegen und hat die Blaulichter mit Dreiecktüchern und Leukosilk zugeklebt.»

«Guter Plan», bemerke ich.

«Ja», sagt er, «und als wir dann in Königsbrunn waren, haben wir tatsächlich einen Notfall bekommen und den Schalter umgelegt und zuerst vergessen, dass die Dinger zugeklebt sind. Aber wir haben es schnell gemerkt. Ist ja niemand zur Seite gefahren.»

Jetzt muss ich grinsen.

«Seid ihr dann erst wieder hochgestiegen und habt die Tücher weggemacht?»

Er schüttelt den Kopf. «Nein, es war nicht weit bis zum Einsatz. Das hätte nur noch länger gedauert. Wir haben den Warnblinker angemacht, und: das Horn ging ja. Und als wir dann am Einsatz waren, ging dafür das Horn nicht mehr aus.»

Ich kratze mich am Kopf. Solche Pannen brauche ich heute nicht. Die erste Schicht hinten im Patientenraum – das ist eh aufregend genug.

«Heute Nacht wird es sicherlich ruhig», sage ich, während ich das Fahrrad wieder losmache.

«Sicher nicht», bemerkt Josef, «der erste warme Tag. Und das noch vor dem Feiertag. Du kannst drauf warten, dass es scheppert. Wenn du ein Motorrad haben willst», scherzt er, «brauchst du dir für so einen Tag nur eine große Wiese zu kaufen.»

Das ist nicht witzig, Josef!

Ein beklommenes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus.

«Ich hoffe, es bleibt trotz des Vatertags morgen ruhig», bemerke ich.

«Christi Himmelfahrt!», poltert er.

«Wie?», frage ich.

«Das ist Christi Himmelfahrt! Nicht Vatertag», brummt er noch einmal. «Erstens», sagt er, «ist es nicht das gleiche! Und zweitens sind wir in Bayern.»

Ich nicke.

«Ich wette, wir haben noch vor Sonnenuntergang einen Verkehrsunfall mit einem Motorrad, Moped oder … Fahrrad», wechselt er wieder das Thema.

Weil mir das erstens nicht recht ist und ich zweitens aus Prinzip gerne widerspreche, setze ich dagegen:

«Ich wette, es wird ruhig heute Nacht und wir haben gar nichts», erkläre ich bestimmt.

Er hält mir die ausgestreckte Hand hin. «Die Wette gilt! Zwei Mark.»

Ich schlage ein.

So eine blöde Idee, gegen ihn zu wetten. Er hat viel mehr Erfahrung. Ich stelle mein Fahrrad in die Halle und schaue in meinem Geldbeutel nach. Es sind noch 1,62 DM drin. Lauter Kupfergeldstücke.

«Geht auch 1,62 DM?», frage ich ihn.

«Das Kleingeld kannst du behalten», bemerkt er.

«Dann 1,50 DM.»

*****

Fernsehen. Es gibt nur drei Programme. Die Nachrichten sind schon rum.

«Das mit den Hitlertagebüchern, die sie da angeblich jetzt gefunden haben …», fängt Josef an. «Das glaube ich nicht.»

«Die würden das nicht so groß bringen, wenn es nicht sicher wäre.»

«Ach was», winkt er ab. «Das glaubt doch keiner. Dass der Tagebücher geführt hat und keiner hat jemals etwas davon gehört.»

«Und was sonst? Meinst du, die hat jemand nachgemacht?»

«Jedenfalls glaube ich es nicht», sagt Josef noch einmal.

«Die weiße Feder» läuft. Den Film habe ich schon drei Mal gesehen, aber immer noch besser als diese Sendung mit Volksmusik, die Josef vorher unbedingt ansehen wollte.

Ich muss grinsen: Der coole Cowboy hat sich verliebt, küsst die Squaw. Während sie danach immer mit verzücktem Blick im siebten Himmel schwebt, wischt er sich mit coolem Blick den Mund ab.

Die Uhr, die über der Küchentür hängt, zeigt 20.45 Uhr. Draußen ist es noch hell, aber die Sonne ist schon hinter dem anderen Gebäudeteil verschwunden. Ich stelle mich ans Fenster: Auf der anderen Straßenseite sieht man oben auf dem Möbelhaus noch das gelbliche Streiflicht.

«Siehst du», bemerke ich, «ich hab die Wette gewonnen.»

Es ist immer noch schön ruhig. Auch am Funk, der auf der Wache leise im Hintergrund mitläuft, meldet sich nur selten jemand.

«Hm», brummt Josef.

Gerade als die Kamera im Film auf die menschlichen Gerippe im Tal des Todes schwenkt und die Reiter stehen bleiben, klingelt das Leitstellentelefon.

«Von wegen», höre ich Josef.

Aber dann lege ich zufrieden auf. «Ein eiliger Krankentransport. In Gersthofen. Ein älterer Patient mit einem schlechten AZ.» AZ bedeutet «Allgemeinzustand».

«Die Wette habe ich verloren.»

Ohne weiteren Kommentar nimmt Josef das Ledermäppchen, das auf dem Tisch liegt, schnappt sich seine Jacke und geht in den Flur. Ich laufe ihm nach. Er schaut kurz auf dem Augsburger Plan nach der Straße.

«Das ist auf der anderen Seite von Gersthofen», erklärt er, «wir fahren durch Lechhausen und dann auf die A8 und dann über die B17.»

Ich kenne mich in Gersthofen noch überhaupt nicht aus.

Wir fahren vor uns hin. Josef erzählt mir, dass er Zither spielt und wo er schon überall aufgetreten ist, dass dies aber schon lange her ist. Ich höre ihm nur halb zu. In Lechhausen kommen wir an einem Haus vorbei, in dem ich vor etwa zwei Monaten schon einmal war: Wir hatten einen Notfall, eine akute Linksherzinsuffizienz, eine Patientin, der es extrem schlecht ging. Im Treppenhaus hatte sie sich übergeben, im Rettungswagen war sie bewusstlos geworden. Eine Hausärztin war dazugekommen, die sich erst vor kurzem niedergelassen hatte und in den Jahren davor in München auf dem dortigen Notarztwagen tätig war.

«Alles halb so wild», hatte sie gesagt, die Patientin intubiert und dann den Transport begleitet.

«Du kannst dich setzen», meinte sie dann, «ich stehe lieber.»

Christian war losgefahren, Pit hatte den vorderen Sitz im Patientenraum besetzt. Ich den neben der Patientin. Die Ärztin stand mir gegenüber, hatte sich an der Haltestange festgehalten und mir dann noch einmal erklärt: «Alles nicht so schlimm, auch wenn es mal heftiger kommt», sagte sie, «entweder der Patient ist eh schon tot, dann eilt es nicht mehr so. Oder es gibt viel zu tun, dann ist man gut beschäftigt und denkt nicht viel nach.»

Ich hatte ihr zugenickt. Lieber nichts sagen, dann ist es auch nicht falsch.

«Es ist wichtig, dass du nicht weiter groß über diese ganzen Dinge nachgrübelst», hatte sie dann behauptet, «sonst drehst du irgendwann durch.»

Pit hatte ihr zugestimmt: «Am besten gehst du nach dem Dienst nach Hause und vergisst alles wieder.»

Ein paar Tage danach hatte ich den Namen der Patientin bei den Todesanzeigen in der Zeitung gefunden und das Gesicht der älteren Dame immer noch vor Augen. Und die kleine Wohnung, in der alles vollgestellt war. Das Zimmer mit den vielen Nähutensilien, in dem sie keuchend auf dem Sessel gesessen hatte.

Und jetzt, beim Vorbeifahren an ihrem Haus, erinnere ich mich wieder an diesen Einsatz und hab es immer noch nicht vergessen. Okay – vielleicht werde ich nie ein guter Sani, denke ich.

«Heee», keift Josef von der Seite, «hörst du schlecht?»

Der Funk. Die Leitstelle ruft uns wohl schon zum zweiten Mal. Ich nehme den Hörer und melde mich. «31/37 Auftragsänderung: Verkehrsunfall schwer, B300, Gallenbacher Berg», höre ich den Leitstellendisponenten.

Wir sind kurz vor Augsburg-West. Josef gibt Gas, nimmt die Ausfahrt, aber statt rechts...