dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Plädoyer für die Tiere

Matthieu Ricard

 

Verlag nymphenburger Verlag, 2015

ISBN 9783485061087 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

Geräte

19,99 EUR


 

Einleitung

Es gibt Menschen, die kommen mit einer natürlichen Neigung zu Mitgefühl auf die Welt. Von frühester Kindheit an begegnen sie ihrer Umgebung mit spontaner Güte, die sie auch Tieren gegenüber zeigen. In meinem Fall war das anders. Ich stamme aus einer bretonischen Familie und ging bis zu meinem 15. Lebensjahr angeln. Auch erinnere ich mich noch gut daran, als kleines Kind zusammen mit meinen Kameraden, mit denen ich die kleine Schule im Ort besuchte, Sonnenstrahlen mithilfe einer Lupe gebündelt zu haben, um Ameisen zu grillen. Rückblickend schäme ich mich dafür, mehr noch, ich frage mich, wie ich dieses Verhalten damals normal finden konnte. Als ich fünf Jahre alt war, nahm mich mein Vater bei einem Mexikobesuch zu Stierkämpfen mit. Es waren rauschende Feste, die Musik war mitreißend und die Darbietungen begeisterten offensichtlich alle Gäste … Warum bin ich damals nicht heulend davongelaufen? War dies einem Mangel an Mitgefühl, Erziehung oder Vorstellungsvermögen geschuldet? Ich kam nicht auf die Idee, mich in die Lage des Fisches, der Ameise oder des Ochsen zu versetzen. War ich schlicht hartherzig? Oder hatte ich einfach nicht nachgedacht, nicht die Augen geöffnet?

Bevor ich mir all dessen bewusst wurde, sollte noch einige Zeit vergehen. Ich lebte viele Jahre bei meiner Großmutter, die alle Qualitäten hatte, die man sich von einer Oma nur wünschen kann. Wie viele Menschen, die auch gute Eltern oder gute Kinder sind, war sie eine begeisterte Anglerin. In unseren gemeinsamen Urlauben verbrachte sie ihre Nachmittage oft an den Ufern eines Sees oder, in Begleitung alter Bretoninnen, die noch die traditionellen weißen Hauben der Bigouden trugen, an den Kais von Le Croisic. Diesen ehrlichen und mutigen Menschen wäre es ansonsten nie in den Sinn gekommen, irgendjemandem Unheil anzutun. Ich erinnere mich noch genau, wie die kleinen zappelnden Fische in der Sonne funkelten, wenn wir sie am Angelhaken aus dem Wasser zogen. Sicherlich gab es dann diesen bedrückenden Augenblick, wenn sie in dem Weidenkorb erstickten und ihre Augen glasig wurden, aber dann schaute ich einfach schnell weg.

Einige Jahre später – ich war inzwischen 14 Jahre alt – machte mich eine Freundin ohne Umschweife auf mein Treiben aufmerksam: »Was? Du angelst?« Der Ton ihrer Stimme und der Ausdruck ihres Gesichts, gleichzeitig erstaunt und missbilligend, waren unmissverständlich.

»Du angelst?« Plötzlich sah ich die ganze Sache in einem anderen Licht: Erst jetzt fiel mir auf, dass der Fisch an einem Eisenhaken aus seinem Element gezogen wurde, um anschließend genauso elend an der Luft zu ersticken, wie wir im Wasser ertrinken würden. Hatte ich nicht eigenhändig Maden bei lebendigem Leib durchbohrt, um aus ihnen einen lebenden Köder zu machen? Opferte ich damit nicht ein Leben mit der Absicht, ein anderes noch einfacher zu zerstören? Wie hatte ich so lange diese Tatsachen, dieses Leid übersehen können? Mir krampfte sich das Herz zusammen und ich ließ fortan vom Angeln ab.

Angesichts der Tragödien, die überall auf der Erde das Leben so vieler Menschen vernichten, mag manchem meine Sorge um die kleinen Fische lächerlich erscheinen. Aber für mich war das ein entscheidendes Erlebnis.

Im Alter von 20 Jahren hatte ich das große Glück, spirituellen Meistern aus Tibet zu begegnen, die seither jeden einzelnen Augenblick meines Lebens inspirieren. Die Lehre, die ich von ihnen erhielt, basiert auf dem Königsweg von universeller Liebe und Mitgefühl.

Auch wenn ich mich lange nicht in andere hineinversetzen konnte, lernte ich dank der Anleitung dieser Meister langsam, was altruistische Liebe ist. Nach und nach öffnete ich meinen Geist sowie mein Herz so gut ich konnte dem Schicksal anderer. Ich übte mich in Mitgefühl und dachte sowohl über das menschliche Dasein als auch über das von Tieren nach. Es liegt zweifelsohne noch ein langer Weg vor mir, und ich gebe weiterhin mein Bestes, um die Lehren, die ich erhalten habe, besser zu verstehen.

Mir liegt es fern – das haben Sie sicher bereits gemerkt –, den Stab über jene zu brechen, die Tiere auf die eine oder andere Art leiden lassen – so wie ich es selbst früher oft und ohne darüber nachzudenken tat. Man übersieht in der Tat leicht, dass die Herstellung oder Entwicklung vieler Dinge, darunter alltägliche Konsumgüter wie Nahrungsmittel und Arzneien, die uns das Leben retten können, das Leiden von Tieren mit sich bringt.

Auch prägen kulturelle Traditionen maßgeblich die Art, wie wir Tiere, unsere Weggefährten auf diesem Planeten, wahrnehmen. Verschiedene Gesellschaften haben kollektive Denkmuster entwickelt, aufgrund derer sie der Überzeugung sind, Tiere seien dazu geschaffen, den Menschen zu dienen. Andere Kulturen wiederum sind schon seit Langem der Auffassung, dass jedes Lebewesen, ganz gleich, ob Mensch oder nicht, respektiert werden sollte.

Mein Anliegen ist es, in diesem Buch, das die logische Fortsetzung des Plädoyer für den Altruismus[1] ist, überzeugend die Gründe und den moralischen Imperativ darzulegen, weshalb wir den Altruismus ohne qualitative oder quantitative Einschränkung auf alle fühlenden Wesen ausweiten sollten. Es steht außer Zweifel, dass es auf der Welt bereits unter den Menschen so viel Leid gibt, dass man es selbst mit einem lebenslangen Engagement nur ein klein wenig mindern kann.

Dennoch ist es sinnvoll und somit keinesfalls unpassend, sich um die 1,6 Millionen anderen Arten zu sorgen, die unseren Erdball bevölkern. Schließlich ist es in den meisten Fällen nicht nötig, zwischen dem Wohl der Menschen und dem der Tiere abzuwägen. Wir leben in einer Welt, in der alles grundlegend voneinander abhängt und in der das Schicksal eines jeden Lebewesens immer eng mit dem der anderen verbunden ist. Es geht also nicht darum, sich nur um Tiere zu kümmern, sondern darum, auch für sie Sorge zu tragen.

Zudem bin ich nicht der Meinung, dass man Tieren menschliche oder Menschen tierische Eigenschaften zusprechen sollte, sondern plädiere dafür, unser Wohlwollen auf sie beide auszuweiten. Dies entspringt einer verantwortungsvollen Haltung denjenigen gegenüber, die uns umgeben, und ist nicht so sehr eine Frage der Verteilung der begrenzten Ressourcen, die uns zur Gestaltung des Zusammenlebens auf der Erde zur Verfügung stehen.

Mit diesem Buch möchte ich Sie zu einem Erkenntnisprozess einladen: Obwohl uns die Tierwelt einerseits immer wieder in Staunen versetzt, verüben wir andererseits an Tieren tagtäglich ein Massaker, dessen Umfang in der Geschichte der Menschheit beispiellos ist. Jedes Jahr werden 60 Milliarden Land- und eine Billion Meerestiere für unseren Konsum getötet.

Diese Massenschlachtereien und ihre logische Folge – der übertriebene Verzehr von Fleisch in reichen Ländern – stellen, wie wir sehen werden, darüber hinaus einen Wahnsinn globalen Ausmaßes dar: Sie sind für den Hunger auf der Welt mitverantwortlich, verschlimmern das ökologische Ungleichgewicht und schaden der menschlichen Gesundheit.

Auch wenn die industrielle Produktion von Fleisch und die Überfischung der Ozeane zweifellos das größte Problem darstellen, verursachen auch andere Formen der Missachtung von Tieren viel Leid und Tod, so etwa Tierversuche, der Schmuggel von Wildtieren, Jagd und Angeln als »Sport«, Stierkämpfe, der Umgang mit Zirkustieren und viele andere Formen der Instrumentalisierung von Tieren. Nur nebenbei bemerkt: Die Auswirkungen unserer Lebensart auf die Biosphäre ist beachtlich: Wenn wir weitermachen wie bisher, werden bis zum Jahr 2050 30 Prozent aller Tierarten der Erde ausgestorben sein.[2]

Wir wissen nicht, was wir Tieren alles antun, denn die wenigsten von uns haben je eine industrielle Tierhaltung oder einen Schlachthof von innen gesehen. Unsere Einstellung ist eine Art moralischer Schizophrenie: Während wir uns liebevoll um unsere Haustiere kümmern, stechen wir fast täglich unsere Gabeln in Schweine, die man zu Millionen in die Schlachthöfe schickt, obwohl sie nicht weniger bewusst, schmerzempfindlich oder intelligent sind als unsere Hunde und Katzen.

Das vorliegende Buch ist ein Plädoyer, unsere Beziehung zu Tieren zu ändern. Es belässt es jedoch nicht bei einer rein moralischen Ermahnung, sondern stützt sich gleichermaßen auf die Arbeit der Anhänger der Evolutionstheorie wie auf die Erkenntnisse von Ethikern und weltweit anerkannten Philosophen. Die in diesem Buch erwähnten Forschungsergebnisse beleuchten darüber hinaus den Reichtum der – zu oft ignorierten – emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten eines Großteils der Tierarten. Sie zeigen außerdem die Kontinuität, die alle Tiere verbindet, und anhand derer wir die Evolutionsgeschichte der Arten, die heute auf unserem Planeten leben, nachverfolgen können. Seit der Zeit, in der wir mit anderen Tierarten gemeinsame Vorfahren hatten, sind wir durch einen langen, stufenweisen Prozess der minimalen Veränderungen zum Homo sapiens geworden. Im Laufe dieser langen Evolutionsgeschichte gab es keinesfalls einen »magischen Augenblick«, also eine Art Evolutionssprung, der es erlauben würde, uns eine grundlegend andere Natur zuzuschreiben als den vielen Arten der Hominiden, die uns vorangingen. Es gab also nichts, das eine absolute Vorherrschaft des Menschen über Tiere rechtfertigen würde.

Die beeindruckendste...