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Die Lügenbrücke

Beatrix Binder

 

Verlag Der Kleine Buch Verlag, 2015

ISBN 9783765021268 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR


 

I


»Hallo? Johanna? Bist du noch dran?«

Ich ging auf die Sitzgruppe in der Mitte des Foyers unseres Radiosenders zu und flehte in Gedanken den Elefantenbaum, der zwischen zwei Sofas stand, an: Bitte mach, dass er es nicht ist! Aber er war es und ich erkannte sofort seine Stimme, die sich in den dreiundzwanzig Jahren nicht verändert hatte. Ich nahm bei der für ihn typischen Begrüßung Servus Johanna, mit dem rollenden R, jeden Nerv meines Körpers wahr.

Ich setzte mich auf einen der dunkelbraunen Ledersessel. Meine Haut juckte und ich spürte, wie der Schweiß von meinem BHBügel zum Bauch hinunter rann und wie es unter meinen Achseln nass wurde. Hatte ich ein Deo dabei? Übelkeit stieg in mir hoch. Aber nicht wegen des Essensgeruchs, der aus der Kantine kam und sich im Foyer verbreitete. Das Telefonläuten am Empfang nahm ich nur als dumpfen, weit entfernten Ton wahr. Dafür dröhnte es in meinem Kopf: ServusJohannaServusJohannaServusJohanna.

»Ja, mit wem spreche ich bitte?«, versuchte ich so sachlich wie möglich zu klingen.

»Ich bin’s, Udo.« Seine Stimme war unsicherer als damals.

»Wer? Udo? Udo Schwarz?« Ich schenkte mir Wasser in eines der Gläser, die auf dem Beistelltisch standen, trank einen Schluck. Der gallige Geschmack in meinem Mund wollte dennoch nicht verschwinden. Am liebsten hätte ich das Telefon weggelegt und mir die Hände an meiner Hose abgewischt, als hätte es mich schmutzig gemacht.

»Woher hast du meine Nu…«, stammelte ich, bekam jedoch nur weitere Gegenfragen gestellt, auf die ich stotternd, mit einer Stimme, die nicht zu mir gehörte, antwortete: »Gut, danke … Ich verstehe nicht … Eigentlich für Kultur … Das weiß ich schon, aber ich muss nach Paris … Nein, du kannst davon ausgehen, dass jemand anders kommen wird … Ach, du und dein brisantes Material!? Wovor willst du mich denn warnen?« Die Starre in mir löste sich langsam auf.

»Nein, ich sagte doch eben: Ich bin ab morgen in Paris. Udo, ich habe auch heute Abend einen Termin! Sag doch jetzt, worum es … Nein, ich denke, wir haben uns auch sonst nichts mehr zu sagen. Nein, Udo, das geht nicht! Sag mal, bist du taub? Nein, verdammt nochmal!« In meine Stimme presste sich die ganze Wut, Enttäuschung und Angst, die ich all die Jahre mit diesem Namen verbunden hatte. Ich schrie und sah sofort schuldbewusst zur Empfangsdame, die mich erschrocken ansah. Ich hob zur Entschuldigung und als Zeichen, dass alles in Ordnung sei, die Hand und stand auf.

»Udo, ich muss zurück in die Sitzung. Ich gebe deine Nummer einem Kollegen …« Es schien ihn nicht zu interessieren. Er hörte einfach nicht auf zu sprechen. Und ich schaffte es nicht, das Gespräch zu beenden.

Ob er immer noch einen Bart trug wie vor dreiundzwanzig Wintern? Ich hatte nicht vergessen, mit welcher Unbeschwertheit ich ihn wegen seiner vom Raureif weißgefärbten Haare im Gesicht liebevoll ausgelacht hatte. Ich hatte nicht vergessen, wie nass und kalt sich sein Bart angefühlt hatte, damals, als Udo mich vom Pacea Kino nach Hause gebracht und vor dem Haustor geküsst hatte. Zärtlich, mit seinen warmen, weichen Lippen, bei minus zwanzig Grad.

Die Tür des Konferenzraums ging auf. Meine Kollegin sah mich fragend an.

»Zwei Sekunden«, flüsterte ich. Sie nickte und ließ die Tür einen Spalt weit offen.

»Udo, ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Ja, ja gut … ich höre …«, seufzte ich genervt in den Hörer. Ich setzte mich wieder auf das Sofa, riss von der FAZ auf dem Beistelltisch eine Ecke ab, kritzelte eine Nummer darauf und steckte den Zettel in die Tasche meines Blazers. Bevor ich in den Sitzungsraum ging, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Es spiegelte mich. Von rot leuchtenden Lippen war nichts mehr zu sehen. Ich brachte den Kragen meiner weißen Bluse in Ordnung und ging hinein.

Meine Kollegin schenkte mir ein Glas Wasser ein.

»Können wir jetzt endlich anfangen?« Tom Krajewski, unser Ressortleiter, saß am Kopfende des Konferenztisches und schenkte sich mit zitternder Hand eine Tasse Kaffee ein. Dabei verschüttete er die Hälfte und ich wusste, das machte ihn noch aggressiver. Er ließ die Kaffeelache Lache sein und trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. Die Stirn legte er in Falten und blickte überheblich in die Runde.

Erst als wir alle saßen, schlug er die Aktenmappe auf, blätterte hektisch in seinen Unterlagen, überflog fahrig die zahllosen Seiten und notierte etwas auf dem letzten Blatt. Dann formte er die losen Papiere zu einem Stapel, legte sie in die Mappe zurück und klappte diese energisch zu. Ich beobachtete durch das Fenster die in sich zusammengefallenen Fahnen, die den Haupteingang des Senders säumten.

Zu gut kannten wir die Ton- und Stimmungslagen unseres Chefs. Ich war sicher, jeder im Raum wusste, dass die Schreierei gleich losgehen würde.

»Das war ja ein tolles Interview, Maier. Bravo!« Er klatschte in die Hände. »Wo zum Teufel haben Sie das denn gelernt? Bei Inge Meysel im Tanzunterricht?« Krajewski sprang von seinem Stuhl auf, riss die Augenbrauen nach oben, streckte Hals und Kopf nach vorne und breitete die Arme aus. »Nur Klischees Maier, nur Klischees …« Angriffslustig zog er seine Bahnen hinter unseren Rücken. Meine Kollegin, die neben mir saß, drückte mit dem Nagel des rechten Daumens die Nagelhaut des linken zurück. Bei der Kollegin, die mir gegenüber saß, hatte ich den Eindruck, dass sie vor Angst die Luft anhielt. Ich hörte jetzt schon ihre Kommentare: Armer Wicht, hält wohl den Druck nicht aus. Hochmut kommt vor dem Fall. Ist ihm wieder eine Mieze weggelaufen? Er hatte wohl keinen Sex.

»Das war ein Rapper, Maier!! Ein Rapper!! Der mag es, an den Eiern gepackt zu werden. Da kommen Sie mit Ihrem Schmusekurs nicht weiter …«

Dass er während der Sitzungen aber auch immer so ausrasten musste. Gut, er war der Chef, aber das Interview meines Kollegen fand ich nicht so schlecht, wie Tom es darstellte. Natürlich, es hätte ein bisschen tiefgründiger sein können, aber diese Rapper lassen nun einmal nicht gerne die Hosen herunter. Der Angebrüllte würgte zwei weitere Beleidigungen hinunter – ich sah das an der Bewegung seines Adamsapfels –, aber sonst war ihm keine Regung anzumerken, während Krajewskis Kopf immer roter wurde und die Ader auf seiner Stirn anschwoll.

Das war Toms Art, Druck auszuüben. Das war seine Art, den Mitarbeitern mitzuteilen, wie er es gerne hätte. Sein Führungsstil war davon geprägt, seine Leute einzuschüchtern und zu verunsichern. Er war zu schwach – zu schwach, sich einen angemessenen Ton und Umgang anzueignen. Er hatte zu große Angst, Autorität einzubüßen, dabei …

»Hören Sie mir überhaupt zu?«, brüllte Tom weiter. Er stand genau hinter mir, ich schämte mich für ihn und musste mich zusammennehmen, nichts zu sagen. Schon lange nahm ich diese Art nicht mehr ernst. Schon lange hatte er mich nicht mehr angeschrien.

»Ja, klar«, kam Maiers ruhige Antwort. Ich war sicher, dass mein Kollege sich das ›ist ja nicht zu überhören‹ verkniff. Während des Bombardements hatte er scheinbar gelassen in die Ecke des Sitzungsraums geblickt. Er war Profi genug. Er rechtfertigte sich nicht. Ich folgte seinem Blick und sah eine Spinne, die emsig ihr Netz spann.

»Dann ist ja gut! Meine Damen, meine Herren, ab an die Arbeit«, beendete Krajewski den Jour fixe. Mehr als gerne hätte ich mich meinen Kollegen angeschlossen, die sich in der Cafeteria verabredet hatten, um die erhaltenen Aufträge zu besprechen. Doch schon ertönte Toms Stimme: »Frau Roth, wir sehen uns gleich? Sagen Sie mal, hat Graf Dracula Sie um ein Rendezvous gebeten? Sie sehen ja erbärmlich aus.« Sein Ton war barsch, aber der Blick passte nicht zum Ton. Die Kollegen lachten höflich. Ich wollte eine freche Antwort geben, war jedoch nicht dazu fähig. So fragte er weiter mit der Disharmonie zwischen Blick und Ton: »Wie war denn eigentlich Ihr Termin mit Kelinaj, Frau Roth? Wann kann ich den ersten Entwurf sehen? Ich habe gehört, sie hat zugesagt, nächsten Mittwoch in der diesjährigen Kulturhauptstadt eine Lesung zu halten. Hat sie Ihnen das nicht erzählt? Sie sind doch in Sibiu geboren. Sie machen das, in Ordnung?« In diesem Augenblick hasste ich ihn.

»Nein, ich meine ja, wir haben darüber gesprochen, aber ich bin in Paris.« Ich riss mich zusammen, einigermaßen vernünftig zu antworten. Ich konnte es nicht fassen. Was passierte hier gerade? Hatte Udo auch Tom angerufen? Hatte er von ihm meine Nummer? Wie kam Tom ausgerechnet jetzt auf Hermannstadt? Er forderte mich auf, ihm in sein Büro zu folgen. Der Geruch nach Essen war noch immer zu riechen, was in Tom sicherlich einen erneuten Wutanfall auslösen würde. Obwohl ich schon oft in seinem Büro war, blieb ich jedes Mal, bevor ich das Vorzimmer betrat an dem Schild hängen:

Tom...