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Schattenwege - Island Krimi

Arnaldur Indriðason

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN 9783732513079 , 428 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Zwei


Immer wenn sie über die belebtesten Straßen der Stadt gingen, bemühten sie sich, es nicht so aussehen zu lassen, als seien sie ein Pärchen. Ihre Eltern hatten sich fürchterlich aufgeregt, als sie von der Beziehung erfuhren, und sie hatten verlangt, dass sie unverzüglich Schluss mit ihm machen müsste. Ihr Vater hatte ihr angedroht, sie aus dem Haus zu werfen, und sie wusste, dass er zu seinem Wort stehen würde. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass die Reaktion so heftig und hasserfüllt sein würde. Es fiel ihr schwer, etwas gegen den Willen der Eltern zu tun, aber sie konnte ihre Beziehung zu dem jungen Mann auf gar keinen Fall beenden. Sie redete einfach nicht mehr über ihn, sie tat, als sei die Sache vorbei. Aber sie trafen sich immer noch heimlich, so wie jetzt, als sie an den Sandsäcken vor dem Nationaltheater vorbeiliefen.

Es gab nicht viele Stellen, wo sie sich lieben konnten. Zu Beginn ihrer Beziehung im Spätherbst hatten sie sich bei gutem Wetter manchmal in dem Wald unterhalb der Heißwassertanks getroffen. Jetzt aber herrschte tiefster Winter, und es gab nicht viele Möglichkeiten. Ein Hotelzimmer zu mieten oder sich in eine der Militärbaracken zu schleichen kam absolut nicht in Frage. Sie hatten sich schon einmal im Dunkeln hinter dem Nationaltheater getroffen, das wie eine Felsbastion an der Hverfisgata aufragte. Umrahmt von Basaltsäulen sollte sich in diesem Haus die isländische Schauspielkunst entfalten. Die Architektur des Theaters signalisierte ehrgeizige Pläne, doch es war noch nicht weit über den Rohbau hinausgekommen. Bereits während der Weltwirtschaftskrise wurde ein Baustopp verhängt. Und als der Krieg ausgebrochen war, wurde das Gebäude von der britischen Besatzung beschlagnahmt, die dort ein großes Depot einrichtete. Diesem Zweck diente es auch noch, nachdem die Briten von den Amerikanern abgelöst worden waren. Und zudem trafen sich dort Liebespaare, die ungestört sein wollten.

»Diesen Mann wirst du nie wieder treffen!«, hatte ihr Vater sie wutschäumend angeschrien. Zum ersten Mal in ihrem Leben hätte er sie beinahe geschlagen, wenn ihre Mutter nicht dazwischengetreten wäre.

Sie hatte es ihrem Vater hoch und heilig versprochen, aber das Versprechen sofort wieder gebrochen. Ihr Freund hieß Frank und kam aus Illinois, ein geschniegelter, gestriegelter und wohlriechender junger Mann mit schönen weißen Zähnen, der sich ihr gegenüber immer wie ein Gentleman verhielt. Sie hatten darüber gesprochen, zusammen nach Amerika zu gehen, wenn der Krieg vorüber war. Sie war überzeugt, dass ihr Vater bestimmt noch Gefallen an dem Amerikaner finden würde, wenn der sture Alte nur erst bereit sein würde, ihn zu treffen.

Ihre Beziehung zu Frank war keineswegs etwas Einmaliges, und sie war nicht allein mit ihrem Problem. Bei Ausbruch des Krieges war Reykjavík eine Stadt von vierzigtausend Einwohnern, in die es in den ersten Jahren des Kriegs Tausende von Soldaten der Besatzungsmächte verschlug. Dass sich dabei gewisse Beziehungen zwischen ihnen und den isländischen Frauen anbahnen würden, war unvermeidlich. Zuerst ging es um die Tommys, aber die Liebe wurde nicht geringer, als die Briten von den Amis abgelöst wurden. Sie waren wesentlich gepflegter, warfen mit Dollars um sich und traten sehr viel eleganter auf. Fast so wie Filmstars. Die Sprache war kein Hindernis. Im Bett verstand jeder jeden. In Island wurde eigens eine Kommission eingerichtet, um dem entgegenzusteuern. Diese angespannte Situation spiegelte sich in nur einem einzigen Wort wider, im Volksmund wurde sie als »der Zustand« bezeichnet.

Ihr selber waren die Kommission und der sogenannte »Zustand« völlig egal, als sie mit Frank aus Illinois über die Hverfisgata lief. Es war Mitte Februar und ziemlich kalt. Der Wind heulte um diese Felsbastion von Menschenhand, die an die isländischen Volkssagen über Elfen und anderen verborgenen Wesen erinnern sollte. Die zukünftigen Theatergäste sollten in die glänzend schöne und märchenhafte Welt der Elfen versetzt werden, die dem Volksglauben zufolge überall im Land in Felsen und Hügeln lebten. Die Soldaten, die sich in ihrer Sandsackstellung gegen die Kälte zu schützen versuchten, schenkten den beiden kaum Aufmerksamkeit, als sie um die Ecke des Theaters bogen und dorthin gingen, wo es keine Straßenbeleuchtung gab. Sie trug einen dicken Wintermantel, den sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, und er steckte in seiner Uniform, die sie so sehr bewunderte. Darüber trug er einen Militärmantel. Er war Sergeant, aber sie wusste nicht so recht, was für eine Funktion so ein Sergeant hatte. Ihr Englisch beschränkte sich auf nicht viel mehr als yes und no und darling, und nicht anders verhielt es sich mit seinen Isländischkenntnissen. Trotzdem hatte es zwischen ihnen bislang keinerlei Verständigungsprobleme gegeben. Doch heute musste sie ihm etwas sagen, was ihr große Sorgen bereitete.

Sobald sie Schutz vor dem Wind gefunden hatten, begann Frank, sie leidenschaftlich zu küssen. Sie spürte seine tastenden Hände unter dem Mantel und musste an ihren Vater denken. Wenn der sie jetzt sehen würde! Sie hörte die zärtlichen Worte, die Frank ihr ins Ohr flüsterte, spürte seine kalten Hände auf der Bluse, die sie sich nach Neujahr bei Jacobsen gekauft hatte. Er streichelte ihre Brüste unter der Bluse, er knöpfte sie auf und berührte ihre nackte Haut. Sie hatte kaum Erfahrung in Sachen Liebe und verhielt sich deswegen eher zurückhaltend. Aber sie liebte es, ihn zu küssen, und wenn er sie berührte, spürte sie, wie eine siedend heiße Welle durch ihren Körper lief. In diesem Moment aber war ihr kalt und ganz und gar nicht danach zumute, weil der Zorn ihres Vaters allzu präsent war. Und auch das, worüber sie mit Frank reden wollte, ließ ihr keine Ruhe.

»Frank, ich muss dir etwas sagen …«

»My darling.«

Er bedrängte sie so sehr, dass sie das Gleichgewicht verlor und auf irgendetwas trat, das sie beinahe zu Fall gebracht hätte. Er hielt sie fest und wollte weitermachen, aber sie bat ihn, damit aufzuhören. Sie standen bei einem der Seiteneingänge, und dort lag etwas, worüber sie fast gestolpert wäre. Sie sah ein Stück von einem Pappkarton und dachte, er stamme aus dem Depot. Den hatte sie gar nicht bemerkt, als er sie in die Nische gedrängt hatte. Jetzt sah sie, dass unter dem braunen Karton zwei halbnackte Beine herausragten.

»Jesus«, stöhnte Frank.

»Was ist das?«, fragte sie. »Wer ist das?«

Sie starrten auf die Beine – in Schuhen mit Schnürriemen, in Socken, die knapp bis über die Knöchel reichten, darüber weißlich blaue Haut. Mehr war nicht zu sehen. Frank zögerte einen Augenblick, bevor er sich bückte und nach dem Pappkarton griff.

»Was machst du denn da?«, flüsterte sie. Er zog die Pappe weg, und zum Vorschein kam eine junge Frau, kaum älter als zwanzig. Sie lag auf der Seite, mit dem Rücken zur Wand. Im selben Augenblick wussten beide, dass sie tot war.

»Um Gottes willen«, stöhnte sie und klammerte sich an Frank, der seine Blicke nicht von der Leiche losreißen konnte.

»What the hell?«, hörte sie ihn flüstern, als er neben dem Mädchen niederkniete. Er griff nach ihrem Handgelenk, um den Puls zu fühlen, doch er spürte nichts. Er legte ihr zwei Finger an den Hals, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Ein Schauder durchfuhr den amerikanischen Soldaten. Er hatte noch nie an einem Gefecht teilgenommen und hatte noch keine Leichen gesehen. Ihm war klar, dass sie dem Mädchen nicht mehr helfen konnten, und er suchte hastig nach Spuren, die auf die Todesursache hindeuten konnten. Er fand aber nichts.

»Was sollen wir machen?«

Frank richtete sich auf und nahm seine isländische Freundin in die Arme. Er mochte sie, aber er verstand auch gut, warum sie ihn noch nie zu sich nach Hause eingeladen und ihrer Familie vorgestellt hatte. Soldaten waren nicht überall willkommen.

»Let’s get the hell out of here«, sagte er und blickte sich um, ob noch andere Leute unterwegs waren.

»Müssen wir nicht die Polizei verständigen?«, fragte sie. »Get police.«

Es waren keine anderen Menschen in der Nähe, und als er um die Ecke spähte, sah er, dass die Wachsoldaten hinter den Sandsäcken immer noch an Ort und Stelle waren.

»No police. No! Let’s go. Come on!«

Er packte sie bei der Hand, und sie liefen rasch zur Lindargata und dann zu dem Hügel mit der Statue des ersten Siedlers. Frank war schneller als sie und musste sie mehr oder weniger hinter sich herziehen. Die beiden fielen aber einer alten Dame auf der Lindargata auf, die unterwegs zur Hverfisgata war. Sie bemerkten sie nicht, doch die Frau sah, wie die beiden aus einer dunklen Nische am Theater auftauchten und wegrannten. Die jungen Mädchen waren heutzutage wirklich nicht mehr ganz normal, dachte sie. Und dieses Mädchen kannte sie nämlich, aber sie hatte nicht gewusst, dass sogar sie sich mit Soldaten herumtrieb.

Als die alte Dame am Theater vorbeiging, warf sie einen Blick in die dunkle Ecke, aus der das Pärchen zum Vorschein gekommen war. Sie hielt inne, als sie die nackten Beine bemerkte. Dann trat sie einen Schritt näher heran, um besser sehen zu können, und da sah sie die Leiche einer jungen Frau, die offensichtlich unter Pappkartons und Abfallpapier versteckt worden war. Sie bemerkte sofort, wie unpassend das Mädchen für diese Jahreszeit gekleidet war, sie trug nur ein ganz leichtes Kleid.

Der Wind heulte um das Gebäude.

Die junge Frau war auch im Tod noch schön, ihre gebrochenen Augen schienen an dem Bauwerk...