dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Endlich mein - Commissario Brunettis vierundzwanzigster Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2015

ISBN 9783257606959 , 320 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

[13] 2

Hinter dem Vorhang war Schluss mit der Schauspielerei. Flavia entfernte sich grußlos von den drei Männern und eilte zu ihrer Garderobe. Der Tenor sah ihr nach und machte ein Gesicht wie Cavaradossi, als der an ihre »dolci baci, o languide carezze« dachte, auf die verzichten zu müssen schlimmer wäre als der Tod. Scarpia zückte sein telefonino und teilte seiner Frau mit, er sei in zwanzig Minuten im Restaurant. Der Dirigent, den an Flavia nur interessierte, dass sie seinen tempi folgte und ordentlich sang, nickte den Kollegen stumm zu und machte sich auf den Weg zu seiner Garderobe.

Auf dem Korridor blieb Flavia mit dem Absatz im Saum ihres tiefroten Gewandes hängen, geriet ins Stolpern und stürzte nur deswegen nicht, weil sie sich gerade noch an einer Kostümassistentin festhalten konnte. Die junge Frau erwies sich als überraschend kräftig und geistesgegenwärtig: Sie umschlang die Sängerin mit beiden Armen und fing so ihr Gewicht und die Wucht auf, ohne dass sie beide zu Boden gingen.

Sowie Flavia wieder sicher stand, löste sie sich aus der Umarmung der Jüngeren und fragte: »Sie haben sich doch nichts getan?«

»Nichts passiert, Signora«, sagte die Assistentin und rieb sich die Schulter.

Flavia legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Danke, das war Rettung in höchster Not.«

[14] »Ich habe gar nicht nachgedacht, ich habe einfach zugepackt. Ein Sturz reicht für heute, finden Sie nicht?«

Flavia nickte, bedankte sich noch einmal und ging weiter zu ihrer Garderobe. Sie wollte schon die Tür öffnen, doch da erfasste sie ein Zittern, das sie innehalten ließ, von dem knapp verhinderten Sturz, aber auch all dem Adrenalin, mit dem eine Aufführung ihren Körper überflutete. Benommen stützte sie sich mit einer Hand am Türpfosten ab und schloss sekundenlang die Augen. Erst als am Ende des Korridors Stimmen ertönten, riss sie sich zusammen, öffnete die Tür und ging hinein.

Rosen hier, Rosen da, Rosen, Rosen überall. Es verschlug ihr den Atem, der ganze Raum war vollgestellt mit Vasen, deren jede Dutzende von Rosen enthielt. Sie schloss die Tür hinter sich. Regungslos musterte sie das gelbe Blütenmeer, und ihr Unbehagen wuchs noch, als sie bemerkte, dass es sich bei den Vasen nicht um die üblichen billigen Dinger handelte, wie sie die meisten Theater für alle Fälle in Reserve haben: angeschlagen oder mit Farbe beschmiert, und deshalb aus der Requisite aussortiert.

»Oddio«, flüsterte sie und wich durch die Tür zurück, die sich soeben für die Garderobiere geöffnet hatte. Die dunkelhaarige Frau war alt genug, dass sie die Mutter der Kostümassistentin hätte sein können, die Flavia eben vor dem Sturz bewahrt hatte. Wie nach jeder Vorstellung wollte sie Flavias Kostüm und Perücke abholen und in den Fundus zurückbringen.

Flavia trat zur Seite und fragte mit einer Handbewegung, die das Zimmer umfasste: »Marina, haben Sie gesehen, wer diese Blumen gebracht hat?«

[15] »O, che belle«, rief Marina. »Was die gekostet haben müssen! Das sind ja Hunderte!« Und dann fielen auch ihr die Vasen auf. »Wo kommen die denn her?«, fragte sie.

»Gehören die nicht dem Theater?«

Marina schüttelte den Kopf. »Nein. So etwas haben wir nicht. Die hier sind echt.« Als Flavia verwirrt dreinsah, zeigte Marina auf eine große Vase, auf der sich weiße und durchsichtige Streifen abwechselten. »Aus Glas, meine ich. Die ist von Venini«, erklärte sie. »Lucio hat dort gearbeitet, daher weiß ich das.«

Flavia, die sich nur wundern konnte, wie das Gespräch sich entwickelte, wandte der Frau den Rücken zu und bat: »Können Sie mir den Reißverschluss öffnen?«

Sie hob die Arme, und Marina half ihr aus Schuhen und Kostüm. In ihrem Morgenmantel setzte Flavia sich vor den Spiegel und begann sich abzuschminken. Marina hängte das Kleid an die Tür, trat hinter Flavia und half ihr beim Abnehmen der Perücke, indem sie mit den Fingern von hinten unter die Perücke fuhr und sie hochhob. Nachdem das geschafft war, schälte sie ihr die engsitzende Gummikappe von den Haaren. Endlich! Flavia seufzte erleichtert auf und massierte sich eine volle Minute lang mit beiden Händen die Kopfhaut.

»Alle sagen, das ist das Schlimmste«, meinte Marina. »Die Perücke. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Sie alle das aushalten.«

Flavia spreizte die Finger und fuhr sich mehrmals durchs Haar; in dem überheizten Raum würde es schnell trocknen. Es war kurz wie das eines Jungen, einer der Gründe, warum sie auf der Straße so selten erkannt wurde, denn ihre Fans [16] hatten natürlich immer die langhaarige Schönheit auf der Bühne vor Augen, nicht diese Frau mit kurzem Lockenschopf, die bereits einzelne graue Haare hatte. Sie rubbelte fester und stellte erleichtert fest, dass ihre Frisur schon fast trocken war.

Das Telefon klingelte; zögernd meldete sie sich mit ihrem Namen.

»Signora, können Sie mir sagen, wie lange Sie noch brauchen?«, fragte eine Männerstimme.

»Fünf Minuten«, antwortete sie wie immer, ganz gleich, ob sie tatsächlich nur noch fünf Minuten brauchte oder eine halbe Stunde. Die anderen würden warten.

»Dario«, sagte sie, bevor er auflegen konnte. »Wer hat diese Blumen gebracht?«

»Die wurden mit einem Boot angeliefert.«

Was in Venedig ja wohl auch kaum anders möglich war, doch sie fragte nur: »Wissen Sie, wer sie geschickt hat? Wessen Boot das war?«

»Keine Ahnung, Signora. Zwei Männer haben alles hier vor die Tür gestellt.« Dann fiel ihm noch ein: »Das Boot habe ich nicht gesehen.«

»Haben sie einen Namen genannt?«

»Nein, Signora. Ich dachte … na ja, ich dachte, bei so vielen Blumen werden Sie schon wissen, von wem sie kommen.«

Flavia ignorierte das. »Fünf Minuten«, wiederholte sie und legte auf. Marina war mit Kleid und Perücke verschwunden, Flavia blieb allein in der stillen Garderobe zurück.

Sie starrte in den Spiegel, nahm eine Handvoll [17] Papiertücher und reinigte ihr Gesicht, bis der größte Teil der Schminke entfernt war. Am Ausgang würden womöglich Fans auf sie warten, also legte sie Mascara auf, überdeckte die Spuren von Müdigkeit um ihre Augen mit etwas Make-up und schminkte sich sorgfältig die Lippen. Völlig erschöpft schloss sie die Augen und hoffte, das Adrenalin werde sie schon wieder munter machen. Schließlich schlug sie die Augen wieder auf und besah sich die Gegenstände auf dem Tisch, dann zog sie ihre Umhängetasche aus der Schublade und fegte alles hinein – Make-up, Kamm, Bürste, Taschentuch. Irgendwelche wertvollen Dinge nahm sie schon seit langem nicht mehr ins Theater mit. In Covent Garden hatte man ihren Mantel gestohlen; im Palais Garnier ihr Adressbuch, sonst nichts, alles andere hatte der Dieb in ihrer Handtasche gelassen. Wer um Himmels willen konnte etwas mit ihrem Adressbuch anfangen? Sie hatte es seit Ewigkeiten, kein Mensch war imstande, das Chaos von durchgestrichenen Namen und Anschriften mit den dazwischengequetschten neuen E-Mail-Adressen und Telefonnummern zu entziffern – ihre einzige Verbindung zu den ständig auf der ganzen Welt umherreisenden Kollegen in diesem seltsamen Beruf. Zum Glück hatte sie die meisten Angaben auch in ihrem Computer, aber es dauerte Wochen, bis sie die fehlenden halbwegs wieder beisammenhatte. Und da sie kein neues Adressbuch fand, das ihr gefiel, beschloss sie, ganz auf ihren Computer zu vertrauen, und konnte nur beten, dass kein Virus oder Absturz ihr alles auf einen Schlag nehmen würde.

Die heutige Vorstellung war erst die dritte ihres Gastspiels, also warteten draußen bestimmt noch Fans. Sie zog [18] eine schwarze Strumpfhose an, darüber den Rock und den Pullover, in denen sie gekommen war. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, nahm den Mantel aus dem Schrank und schlang sich einen Wollschal – rot wie ihr Bühnenkostüm – um den Hals. Ein Schal war für Flavia so etwas wie ein Hidschab: Ohne ging sie nicht aus dem Haus.

An der Tür blieb sie stehen und sah sich noch einmal um: War dies die Wirklichkeit, als die sich der Traum vom Erfolg entpuppte? Eine kleine, unpersönliche Kammer, die nacheinander von verschiedenen Leuten benutzt wurde? Ein Schrank; ein von Glühbirnen umrahmter Spiegel, genau wie im Kino; kein Teppich; ein winziges Bad mit Dusche und Waschbecken. Sonst nicht viel: Und das machte einen zum Star? Sie hatte es, also musste sie ein Star sein. Aber sie fühlte sich nicht so, nur – sie sah dieser Tatsache bewusst ins Gesicht – wie eine Frau in den Vierzigern, die gut zwei Stunden lang geschuftet hatte wie ein Tier und jetzt hinausgehen und irgendwelchen namenlosen Leuten zulächeln musste, die sich nach ihr sehnten, die ihr Freund, ihr Vertrauter oder womöglich gar ihr Geliebter sein wollten.

Sie selbst wollte nur ins nächstbeste Restaurant, etwas essen und trinken, dann nach Hause, ihre beiden Kinder anrufen, hören, wie es ihnen ging, und ihnen gute Nacht sagen. Schließlich, wenn das Adrenalin sich verflüchtigte, wieder ein wenig Normalität eintrat, zu Bett gehen und hoffentlich etwas Schlaf finden. Bei Inszenierungen, an denen ihr bekannte oder befreundete Kollegen mitwirkten, freute sie sich immer auf die gesellige Runde beim gemeinsamen Essen nach der Vorstellung, die Scherze und Anekdoten über Agenten, Intendanten und Regisseure, das [19] Zusammensein mit Menschen, mit denen sie das Wunder des Musizierens erlebt hatte. Aber hier in Venedig, einer Stadt, in der sie viel Zeit verbracht...