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Erbe und Schicksal - Die Clifton Saga 3 - Roman

Jeffrey Archer

 

Verlag Heyne, 2016

ISBN 9783641155216 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

PROLOG

Big Ben schlug viermal.

Obwohl der Lordkanzler erschöpft war und die Ereignisse der letzten Nacht seine ganze Kraft gefordert hatten, strömte noch so viel Adrenalin durch seinen Körper, dass er nicht einschlafen konnte. Er hatte Ihren Lordschaften versichert, dass er in der Sache Barrington gegen Clifton ein Urteil sprechen und darüber entscheiden würde, welcher der beiden jungen Männer den Titel und die umfangreichen Besitztümer der Familie erben würde.

Noch einmal erwog er die Fakten, denn er war davon überzeugt, dass die Fakten – und nur die Fakten – seine endgültige Wahl bestimmen sollten. Schon als er vor etwa vierzig Jahren nach Beendigung seines Jurastudiums sein Praxisjahr begonnen hatte und noch bevor er als Anwalt zugelassen worden war, hatte sein Supervisor ihm eingeschärft, alle persönlichen Gefühle, vagen Eindrücke und Voreingenommenheiten zurückzustellen, wenn es darum ging, gegenüber dem Mandanten und dem Fall, mit dem er sich beschäftigte, zu einer Entscheidung zu kommen. Das Gesetz, so hatte sein Supervisor betont, war nichts für ängstliche Gemüter oder romantische Schwärmer. Doch obwohl der Lordkanzler vier Jahrzehnte lang dieses Mantra beherzigt hatte, musste er zugeben, dass er noch nie mit einem Fall befasst war, in welchem der Anspruch beider Seiten auf eine so nachdrückliche Weise gleichermaßen berechtigt schien. Er wünschte sich, F. E. Smith wäre noch am Leben, damit er ihn um Rat fragen könnte.

Auf der einen Seite … wie er diesen klischeehaften Ausdruck hasste. Auf der einen Seite war Harry Clifton drei Wochen vor seinem besten Freund Giles Barrington geboren worden: eine Tatsache. Auf der anderen Seite war Giles Barrington zweifellos der eheliche Sohn von Sir Hugo Barrington und seiner ihm rechtmäßig angetrauten Frau Elizabeth: eine Tatsache. Doch das machte Giles Barrington noch nicht unbedingt zu Sir Hugos Erstgeborenem, und genau auf diesen Punkt bezog sich die entscheidende Passage des Testaments. Auf der einen Seite hatte Maisie Tancock Harry am achtundzwanzigsten Tag des neunten Monats nach ihrer einmaligen Beziehung zu Hugo Barrington – sie hatten an jenem Tag an einem Ausflug nach Weston-super-Mare teilgenommen – zur Welt gebracht. Eine Tatsache. Auf der anderen Seite war Maisie Tancock mit Arthur Clifton verheiratet, als Harry geboren wurde, und in der Geburtsurkunde wurde Arthur unmissverständlich als Vater des Kindes genannt. Eine Tatsache.

Auf der einen Seite … die Gedanken des Lordkanzlers schweiften ab zu den Ereignissen, die sich im Oberhaus abgespielt hatten, nachdem von den Mitgliedern der Kammer darüber abgestimmt worden war, ob Giles Barrington oder Harry Clifton den Titel samt allem, was darin inbegriffen ist, erben sollte. Er erinnerte sich an die genauen Worte des leitenden Repräsentanten der Parteien, mit denen dieser einem bis auf den letzten Platz besetzten Haus das Ergebnis der Abstimmung verkündet hatte:

»Ja-Stimmen zur Rechten: zweihundertdreiundsiebzig. Nein-Stimmen zur Linken: zweihundertdreiundsiebzig.«

Unruhe war daraufhin auf den roten Bänken ausgebrochen. Der Lordkanzler akzeptierte, dass ihm aufgrund der Stimmengleichheit die wenig beneidenswerte Aufgabe zufiel, über das Erbe des Familientitels der Barringtons einschließlich der angesehenen Schifffahrtslinie, der Ländereien und aller sonstigen Besitztümer zu entscheiden. Wenn doch nur nicht so viel von seiner Entscheidung abhängen würde im Hinblick auf die Zukunft der beiden jungen Männer. Sollte er sich von der Tatsache beeinflussen lassen, dass Giles Barrington den Titel erben wollte und Harry Clifton nicht? Nein, keineswegs. Wie Lord Preston in seiner überzeugenden Rede für die Opposition ausgeführt hatte, würde dies einen Präzedenzfall schaffen, der höchst unglückliche Folgen haben konnte, auch wenn eine solche Entscheidung im Augenblick bequem erscheinen musste.

Wenn er jedoch auf der anderen Seite zum Schluss käme, dass Harry zu begünstigen wäre … der Lordkanzler nickte schließlich ein, doch nur um, so schien es, gleich darauf von einem leisen Klopfen an seiner Tür zu ungewöhnlich später Stunde wieder geweckt zu werden: Es war sieben Uhr morgens. Er seufzte, doch seine Augen blieben geschlossen, während er die Schläge Big Bens zählte. Schon in drei Stunden würde er seine Entscheidung verkünden müssen, und er war noch immer zu keinem Entschluss gelangt.

Der Lordkanzler seufzte ein zweites Mal, senkte die Füße auf den Boden, schlüpfte in seine Hausschuhe und ging ins Bad. Selbst als er in der Badewanne saß, ließ ihm das Problem keine Ruhe.

Eine Tatsache: Harry Clifton und Giles Barrington waren genauso farbenblind wie Sir Hugo. Eine Tatsache: Farbenblindheit wird nur über die mütterliche Linie vererbt, weswegen dieses Charakteristikum nur ein Zufall war und nicht in die Überlegungen mit einbezogen werden sollte.

Er stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und streifte einen Morgenmantel über. Dann verließ er das Bad und ging durch einen mit dicken Teppichen ausgelegten Korridor in sein Arbeitszimmer.

Der Lordkanzler griff nach einem Füllfederhalter, schrieb die Namen »Barrington« und »Clifton« auf ein weißes Blatt Papier und notierte darunter die Dinge, die für oder gegen den jeweiligen jungen Mann sprachen. Als drei in seiner fein säuberlichen Handschrift abgefasste Seiten vor ihm lagen, schlug Big Ben achtmal. Aber der Lordkanzler hatte immer noch keine Lösung gefunden.

Er legte den Füllfederhalter nieder und erhob sich widerstrebend, um etwas zu essen.

Der Lordkanzler saß alleine und stumm beim Frühstück. Er verzichtete bewusst darauf, einen Blick in die Morgenzeitungen zu werfen, die ordentlich am anderen Ende des Tisches ausgebreitet waren, oder das Radio einzuschalten, denn er wollte nicht, dass irgendein schlecht informierter Kommentator sein Urteil beeinflussen würde. Die seriösen Zeitungen sprachen in besorgtem Ton über die zukünftigen Aussichten bei der Vererbung von Adelstiteln, sollte der Lordkanzler zugunsten Harrys entscheiden, während die Massenblätter nur daran interessiert schienen, ob Emma den Mann, den sie liebte, würde heiraten können.

Als er ins Badezimmer zurückging, um sich die Zähne zu putzen, hatte sich Justitias Waage noch in keine Richtung geneigt.

Kurz nachdem Big Ben neun geschlagen hatte, ging der Lordkanzler wieder ins Arbeitszimmer und sah seine Notizen durch, denn er hoffte, dass sich jetzt eine der beiden Schalen senken würde, doch die Waage befand sich noch immer in vollkommenem Gleichgewicht. Er war gerade im Begriff, seine Notizen ein weiteres Mal durchzusehen, als ein Klopfen an der Tür ihn daran erinnerte, dass er trotz all seiner Macht die Zeit nicht aufhalten konnte. Er stieß ein tiefes Seufzen aus, riss die drei Seiten von seinem Block ab, stand auf und las sie, während er sein Arbeitszimmer verließ und den Korridor hinabging. Als er das Schlafzimmer betrat, sah er, dass East, sein Kammerdiener, für das morgendliche Ritual am Fuß des Bettes bereitstand.

Flink und geschickt streifte East seinem Herrn den seidenen Morgenmantel von den Schultern, bevor er ihm mit dem Anlegen des weißen Hemds half, das vom Bügeln noch warm war. Dann folgten der steife Kragen und das Halstuch aus feiner Spitze. Als der Lordkanzler die schwarze Kniehose anzog, bemerkte er nicht zum ersten Mal, dass er seit dem Antritt seines Amts ein paar Pfund zugelegt hatte. Danach half ihm East in die lange, schwarze, mit Goldbrokat verzierte Robe, um sich anschließend seinem Kopf und seinen Füßen zu widmen. Eine Perücke wurde ihm übergestreift, und dann schlüpfte er in ein Paar Schnallenschuhe. Aber erst als die goldene Amtskette, die neununddreißig Lordkanzler vor ihm getragen hatten, um seine Schultern drapiert wurde, glich er nicht mehr jener grotesken alten Dame, die in englischen Weihnachtsstücken von männlichen Schauspielern dargestellt wird, sondern verwandelte sich in die höchste juristische Autorität des Landes. Ein kurzer Blick in den Spiegel, dann war er bereit, die Bühne zu betreten und seine Rolle im sich entfaltenden Drama zu spielen. Bedauerlich war nur, dass er seinen Text immer noch nicht konnte.

Die minutiöse Genauigkeit, mit der sich der Lordkanzler an den Zeitplan hielt, als er den Nordturm des Palace of Westminster betrat und wieder verließ, hätte jeden Ausbilder beim Militär beeindruckt. Punkt neun Uhr siebenundvierzig klopfte es an die Tür, und sein Sekretär David Bartholomew trat ein.

»Guten Morgen, Mylord«, sagte Bartholomew.

»Guten Morgen, Mr. Bartholomew«, erwiderte der Lordkanzler.

»Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen«, sagte Bartholomew, »dass Lord Harvey letzte Nacht auf dem Weg in die Klinik im Rettungswagen verstorben ist.«

Beide Männer wussten, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Lord Harvey, Giles und Emma Barringtons Großvater, war nur wenige Augenblicke, bevor die Glocke zur Abstimmung rief, in der Kammer zusammengebrochen. Der Lordkanzler und sein Sekretär folgten jedoch einer jahrhundertealten Tradition: Wenn ein Mitglied des Ober- oder Unterhauses während einer Sitzung starb, so musste eine Untersuchung der genauen Todesumstände stattfinden. Um diese unangenehme und überflüssige Scharade zu vermeiden, verständigte man sich in solchen Fällen auf die allgemein anerkannte Wendung »auf dem Weg in die Klinik«. Der Brauch ging zurück auf die Zeit von Oliver Cromwell, als es den Mitgliedern der Kammer erlaubt war, Schwerter zu tragen, und durchaus die Möglichkeit bestand, dass es nicht immer mit rechten Dingen zuging, wenn es zu einem solchen Todesfall kam.

Der Tod...