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Krieg der Rosen: Winterpilger - Historischer Roman

Toby Clements

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN 9783732514861 , 767 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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1. KAPITEL


Als die Nacht am dunkelsten ist, tritt der Dekan zu ihm. In der einen Hand hält er ein Binsenlicht, in der anderen einen langen Stab. Damit stößt er ihn an, um ihn zu wecken.

»Auf, Bruder Thomas«, flüstert er. »Der Prior will dich sehen.«

Es ist noch zu früh für die Prim, wie Thomas weiß, und daher hofft er, dass der Dekan ihn liegen lässt, wenn er sich weiterhin schlafend stellt. Vielleicht weckt der Dekan stattdessen einen anderen Mönch, etwa Bruder John oder Bruder Robert, der wieder schnarcht. Augenblicke später zieht ihm jemand die Decke weg, und die Kälte der Nacht erfasst ihn. Thomas richtet sich auf und versucht, nach der Decke zu greifen, aber der Dekan hat sie längst zur Seite geworfen.

»Nun komm schon«, sagt er. »Der Prior erwartet dich.«

»Was will er denn?«, möchte Thomas wissen. Ihm ist jetzt schon so kalt, dass seine Zähne klappern. Die Wärme des Schlafes weicht aus seinem Körper.

»Das wirst du schon sehen«, sagt der Dekan. »Und nimm dein Gewand mit, auch deine Decke. Nimm einfach alles mit.«

Im matten Schein des Lichts sieht Thomas von dem Gesicht des Dekans nur die zusammengezogenen Brauen und die Konturen der krummen Nase. Schemenhaft zeichnet sich das Haupt des Mannes vor den von Reif bedeckten Schieferschindeln des Daches ab. Thomas holt seine vom Frost steife Kutte hervor und sucht rasch nach seiner Kappe und den Holzpantinen. Die Decke legt er sich eng um die Schultern.

»Komm endlich«, drängt der Dekan. Auch dessen Zähne klappern.

Thomas erhebt sich und folgt ihm durch das Dormitorium. Leise steigen sie über die schlafenden Brüder hinweg und nehmen die steinernen Stufen, die hinunterführen zur Zelle des Priors. Den Eingang erhellt eine Bienenwachskerze in einer Wandhalterung. Der alte Mann liegt auf seinem dicken Strohlager. Drei Decken hat er sich bis unters Kinn gezogen.

»Gott sei mit Euch, Vater«, sagt Thomas.

Der Prior winkt ab, ohne dabei die Hände unter der Decke hervorzunehmen.

»Hast du es noch nicht gehört?«, fragt er.

»Was, Vater?«

Der alte Mann erwidert nichts und deutet mit einer knappen Kopfbewegung zu dem geschlossenen Fensterladen. Thomas hört nur den Dekan, der hinter ihm steht, atmen und das leise Klappern seiner eigenen Zähne. Plötzlich dringt von draußen ein anschwellendes Kreischen in die Zelle, ein lang gezogener hoher Klagelaut, der ins Ohr schneidet. Thomas schaudert. Einer Eingebung folgend, bekreuzigt er sich.

Der Prior lacht leise.

»Das ist nur ein Fuchs«, sagt er. »Was hast du denn gedacht? Eine verlorene Seele? Einer der kleineren Teufel?«

Thomas schweigt.

»Wahrscheinlich steckt er auf der anderen Seite des Flusses im Unterholz fest«, sagt der Dekan, »denn dort hat einer der Laienbrüder Fallen aufgestellt. John war das, glaube ich.«

Wieder herrscht Schweigen. Warum rufen sie dann nicht diesen John, denkt Thomas bei sich, den Mann, der für die Fallen verantwortlich ist? Soll er doch losgehen und den Fuchs von seinen Qualen erlösen.

»Beeile dich also, Bruder Tom«, sagt der Dekan.

Thomas begreift, was sie von ihm verlangen.

»Ich soll das machen?«

»Ja, du«, erwidert der alte Prior. »Oder hältst du dich für zu fein für so etwas?«

Thomas schweigt, aber im Stillen ist er davon überzeugt, dass das nicht zu seinen Aufgaben gehört.

»Sieh her, so musst du es machen«, erklärt der Dekan ihm und deutet mit seinem Stab an, wie man einem Fuchs am besten einen Stoß auf den Schädel versetzt. »Du musst ihn genau oberhalb der Augen treffen.«

Der Dekan hat an den Kriegen auf französischem Boden teilgenommen, und er soll, so erzählt man sich jedenfalls, einen Mann getötet haben. Vielleicht sogar zwei. Wortlos reicht er Thomas den robusten Stab, der fast so groß ist wie Thomas selbst. An einem Ende ist das Holz dunkel verfärbt, als habe man damit in einem großen Kessel gerührt.

»Und denk dran, das tote Tier mitzubringen!«, ruft der Prior hinter ihnen her, während der Dekan Thomas schon aus der Zelle führt. »Ich möchte nämlich das Fell haben und der Infirmarius das Fleisch, hörst du?«

Im flackernden Lichtschein, den die Lampe des Dekans verbreitet, gelangen sie über mehrere Stufen in das Refektorium, wo es Thomas sofort zu den noch glühenden Kohlen der Feuerstelle zieht. Aber da hat der Dekan schon die andere Seite des Saals erreicht und den Riegel der Tür zur Seite geschoben.

»Bei Gott!«, entfährt es ihm, als er die Tür öffnet.

Draußen herrscht eine klirrende Kälte, die einen Menschen töten kann, eine Kälte, bei der kein Vogel mehr fliegt und Mühlsteine zu bersten drohen.

»Geh nur, junger Tom«, sagt der Dekan. »Je eher es getan ist, desto eher bist du zurück. Ich warte mit heißem Wein auf dich.«

Thomas will etwas erwidern, aber da schiebt der Dekan ihn schon über die Schwelle hinaus in die Kälte und macht die Tür sofort hinter ihm zu.

Großer Gott. Eben hat er noch friedlich geschlafen, ziemlich warm, und hat vom Sommer geträumt, und jetzt das!

Die Kälte beißt im Gesicht, sie lässt ihn leicht schwindeln. Er zieht sich das Gewand enger um die Schultern und zögert einen Augenblick lang, dann macht er sich auf den Weg und geht quer über den Innenhof in Richtung des Tors, wo oft die Bettler stehen. Seine Pantinen klacken auf dem hart gefrorenen Boden.

Mit steifen Fingern öffnet er das Tor und tritt hinaus. Im Osten kündigt sich schon blass die Morgendämmerung an. Der Schnee, der das Marschland bedeckt, strahlt ein Licht aus, das kalt und bläulich erscheint. Weiter südlich, an der Flussbiegung, ist das Mühlrad erstarrt: Aus der Ferne sieht es aus, als habe es den Mund geöffnet, um noch etwas zu sagen. Dahinter liegen die Backstube, die Brauerei und die Gehöfte der Laienbrüder wie verlassen da. Ihr Mauerwerk ist von Reif überzogen, die Dächer ächzen unter der Schneelast. Nichts regt sich. Kein Lufthauch.

Dann wieder der Schrei des Fuchses, dünn und schneidend wie eine Klinge. Thomas fröstelt und wendet sich zum Torhaus um, als ließe man ihn wieder ein, sodass er zu seinem Nachtlager zurückkehren darf. Doch dann reißt er sich zusammen und zwingt sich loszugehen. Zögerlich macht er einen Schritt, dann noch einen, wobei er im Schutz der Mauer bleibt und so lange ihrem Verlauf folgt, bis er die alte Handelsstraße als dunkle Linie in der verschneiten Landschaft erkennt. Sie verläuft durch das Marschland in Richtung Cornford und des Sees dahinter. Thomas denkt daran, dass es eine Zeit gab, als es auf dieser Straße selbst an einem Morgen wie diesem geschäftiges Treiben gab. Kaufleute pflegten in Richtung Boston zu fahren, die Fuhrwerke beladen mit Wolle, die im Hafen auf Schiffe verladen und nach Calais gebracht wurde. Oft nahmen Pilger diese Straße auf ihrem Weg zum Schrein des heiligen Hugo in Lincoln. In diesen Tagen jedoch, da Gesetzlosigkeit im Lande herrscht, ist jeder, der zu dieser frühen Stunde unterwegs ist, entweder ein Narr oder ein Schurke oder gar beides.

Als Thomas das Frauenkloster erreicht, verspürt er ein Brennen an den Schienbeinen. Seine Frostbeulen pochen, und seine Finger fühlen sich bei der Eiseskälte schon so geschwollen und steif an, dass er weiß, an diesem Tag wird er keinen Federkiel mehr in der Hand halten können. Daher wird er auch keine Fortschritte bei seinem Psalter machen. Selbst die Zähne und das Zahnfleisch schmerzen in der kalten Luft.

Vor dem Tor des Frauenklosters bleibt er einen Augenblick lang stehen, wirft zögerlich einen Blick auf die Mauern, obwohl er weiß, dass er das eigentlich nicht darf, und löst sich schließlich aus dem Schatten des Klosters. Er geht quer über ein Feld, auf dem die Laienbrüder im späten Frühjahr Roggen ausbringen werden. Durch den Schnee zieht sich ein alter Pfad, und ungefähr eine Achtelmeile folgt Thomas Fußspuren bis hinunter zum Dunghaufen am Fluss. Hier endet der Pfad an einer Stelle, an der es viele Fußabdrücke und gebrochenes Eis gibt, als habe dort jemand Wasser geschöpft.

Thomas klettert über die Uferböschung bis hinunter zur Eisfläche, auf der Nebelschleier liegen. Vorsichtshalber stampft er mit einem Bein prüfend auf, obwohl er weiß, dass die Eisschicht so dick ist, dass sie sogar einen Bären oder einen Ochsen tragen würde. Selbst ein Fuhrwerk könnte auf dem zugefrorenen Fluss fahren. Dennoch beeilt er sich, die Eisfläche zu überqueren, dann drängt er sich am anderen Ufer durch das von Reif überzogene Schilfrohr. Gerade als er die Böschung hinaufklettert, schreit der Fuchs wieder, rau und schmerzerfüllt. Thomas hält wie erstarrt inne. Dann ist der Schrei verklungen.

Noch einmal zögert er, wirft einen Blick zurück zum Kloster, sieht die aus Stein erbauten niedrigen Gebäude, die sich um den Turm der Kirche drängen. Deutlich erkennt er die Umrisse des Refektoriums. Aus dem undichten Dach steigt Rauch auf in den blassgrauen Himmel, und Thomas wünscht sich, er wäre jetzt sicher und geborgen hinter diesen Mauern. Dort würde er sich zur Prim vorbereiten oder vielleicht noch schlummern und vom kommenden Sommer träumen.

Verflucht sei der Prior! Verflucht sei er dafür, dass er ihn geweckt und ihm diese Aufgabe aufgebürdet hat.

Und warum er? Warum haben sie ihn dafür bestimmt? Warum nicht diesen John, der die Fallen aufgestellt hat? Thomas ist Kopist, ein Buchmaler, kein Laienbruder und schon lange kein Junge vom Lande mehr. Heute wollte er eigentlich Blattgold auf einen der Großbuchstaben auftragen und die Verzierung mit Bruder Athelstans Polierstift verfeinern, dessen Spitze aus einem Hundezahn gefertigt ist. Doch jetzt sind seine Finger steif gefroren.

Ob genau das die Absicht des Priors gewesen...