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So schwarz wie Ebenholz - Lumikki-Trilogie (3)

Salla Simukka

 

Verlag Arena Verlag, 2015

ISBN 9783401803968 , 197 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

3

Dies war Schneewittchens Wald. Die Äste wurden zu schwarzen Schatten, die schwarzen Schatten zu Ästen. Die Wurzeln der Bäume wanden sich wie Schlangen den Boden entlang, bis sie in die Erde abtauchten, um dort ein dichtes, weit verzweigtes Geflecht zu bilden, einander zu umarmen. Wie Adern, in denen die verschiedenen Bäume unterirdisch ineinanderflossen, denselben Erdsaft saugten.

Das Geäst warf eine ganz eigene Schattenkarte auf den Boden und spannte eine hoch in den Himmel; nur mühsam bahnte sich das Licht einen Weg durch das dichte Muster aus Linien. Die Zweige waren Arme, waren Pinselstriche, Haarsträhnen. Zarter als zart, unendlich fein, dann wieder kräftig und schön.

Der Wald war ein Spiel der Schatten, ein Tanz des Zwielichts und des Nebels, ein Gewisper aus Flüstern und Ächzen, aus Atemzügen ganz in der Nähe, die einem Gänsehaut machten. Alle Schattenwesen des Waldes, alle Fabeltiere, Raubtiere und dunklen Gestalten hießen Schneewittchen willkommen. Sie war wieder unter ihresgleichen.

Dunkelheit breitete sich um sie herum aus und kroch auch in ihr Inneres, fremd und vertraut zugleich. Im Wald bewegte sie sich freier. Atmete sie tiefer. Die Schleifen, mit denen ihre Zöpfe gebunden waren, lösten sich und überließen ihre Haarsträhnen dem Wind, der mit ihnen machte, was er wollte. Zweige und Blätter verfingen sich in ihren Haaren, der Stoff ihres seidenen Kleides zerriss. Ihre Unterarme zerkratzten, der Geruch von Erde und verwesenden Blättern drang tief in ihre Nase.

Schneewittchens Augen waren schärfer geworden, selbst kleinste Bewegungen nahm sie nun wahr. An ihren Händen klebte Blut, das von Sekunde zu Sekunde dunkler wurde, bald schwarz war wie die Schatten. Jeder Versuch, es abzuwaschen, wäre vergebens. Es würde für immer an Schneewittchens Fingern haften, denn sie war ein Raubtier, eine Mörderin.

Und dies war Schneewittchens Wald. Lumikkis Wald. In seinem Dunkel war Platz für Angst und Lust, für Trauer und Triumph. Seine Luft füllte ihre Lungen stechend frisch. Im Schoß des Waldes wurde sie größer, wurde sie ganz. Sie war mehr sie selbst, war frei. Lumikki legte sich auf ein dichtes Geflecht aus Wurzeln, legte ihre Hände auf den feuchten Boden und wünschte nichts sehnlicher, als sich in eine dieser Wurzeln verwandeln zu können, mit den anderen Wurzeln zu verschmelzen und in die Erde einzutauchen, dort den Quell des Herzens zu finden.

Um sie herum seufzte und knackte der Wald, gleichmäßig, als schlüge alles in einem einzigen großen Puls. Ihrem Puls.

»Super! Das mit dem Puls ist gut – wie ein gewaltiger Herzschlag. Das perfekte Ende.«

Tinkas Stimme ließ Lumikki hochschrecken. Sie kam wieder zu sich und setzte sich aufrecht auf die Bühne. Sie fühlte sich, als wäre sie aus einem tiefen Schlaf erwacht. An dieser Stelle vergaß sie jedes Mal alles um sich herum, den Saal und die Schule, und wusste nicht einmal mehr, dass sie nur in einem Theaterstück mitspielte.

Das Stück trug den Titel »Der schwarze Apfel«, und Lumikki zweifelte noch immer daran, ob es gut war, dass sie sich auf diese Sache eingelassen hatte. Sampsa hatte sie dazu überredet.

»Hey, eine totale Neuinterpretation von Schneewittchen! Die Chance kannst du dir nicht entgehen lassen. Außerdem ist die Rolle dir wie auf den Leib geschrieben«, hatte er gesagt und sein warmes, fröhliches Lachen gelacht, für das sie fast alles tat – jedenfalls hatte sie eingewilligt mitzuspielen. Und das, obwohl sie es etwas peinlich fand, dass ihr Name Lumikki auf Finnisch Schneewittchen bedeutete.

Doch Tinka, die »Der schwarze Apfel« geschrieben hatte, konnte Lumikki gleich bei der ersten Probe überzeugen: nicht nur vom Text selbst, sondern sogar davon, dass die eigentliche Aufführung am Ende richtig gut werden würde. Tinka hatte zwar gerade erst nach dem Sommer an der Kunstoberstufe angefangen, war aber selbstbewusst und cool genug, um mit Leuten zu arbeiten, die sie noch nicht lange kannte.

Rein äußerlich entsprach sie dem Klischee des typischen Kunstoberstufenmädchens: jeden Tag eine andere Frisur und andere Klamotten. Mal kam sie mit Tüllröckchen und kunstvoll hochgesteckten Haaren – die feuerrot gefärbt waren –, mal in Jeans, lässigen Stiefeln, XLKapuzenpulli und Strubbellook, dann wieder im dreiteiligen Anzug mit Melone. Trotzdem hatte man nicht das Gefühl, dass sie sich wichtigmachte; sie hatte einfach Spaß an Abwechslung und blieb doch immer ganz sie selbst. Tinka hatte eine sehr direkte Art und stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Solche Leute respektierte Lumikki.

Und darum ging es im »Schwarzen Apfel«: Schneewittchen lag im gläsernen Sarg auf der Bühne. Der Prinz warf schmachtende Blicke auf die schöne Tote. Schon wurde der Sarg Richtung Schloss getragen, doch als einer der Träger stolperte, erbrach Schneewittchen ein Stück des vergifteten Apfels und erwachte. Bis hierhin stimmte alles mit dem grimmschen Märchen überein. Dann stellte Schneewittchen fest, dass sie keine Lust hatte auf die Rolle der Prinzessin. Sie war an den Wald gewöhnt, an seine Dunkelheit, die wilden Tiere. Sie wollte kein Leben mit Dienern und Kammerzofen, mit strengen höfischen Benimmregeln, ohne jede Freiheit. Außerdem liebte der Prinz nur ihre Schönheit – für ihre innersten Gedanken interessierte er sich nicht.

Tinkas Stück hatte eine deutlich feministische Note, dabei aber weder einen missionarisch-predigenden Unterton, noch war es übertrieben pathetisch. Es hatte eine starke, ausgesprochen intensive Atmosphäre – und eine fast verstörende Wirkung: Keiner der Charaktere war im klassischen Sinne ein guter Mensch; nicht einmal der Jäger, der Schneewittchen zu retten versuchte, denn auch er handelte aus rein egoistischen Motiven.

Nach und nach kehrte Schneewittchen in ihre normale Welt zurück. Die Schlussszene hatte etwas Hypnotisierendes: Sie ruhte auf der Erde, das Licht ging aus, und für einen Moment lagen Bühne und Zuschauerraum in absoluter Dunkelheit. Gleichzeitig tönte der Herz-Beat lauter und lauter aus den Boxen. Wenige Momente zuvor hatte sie vom Tod des Jägers erfahren und den Prinzen mit einem gezackten silbernen Kamm getötet. Dann war sie aus dem Schloss geflohen, zurück in ihren geliebten Wald, zu den Schatten, der Dunkelheit, den Raubtieren.

Als die Gruppe die Szene zum ersten Mal in vollständiger Kulisse und mit allen Licht- und Soundeffekten geprobt hatte, herrschte danach minutenlanges Schweigen. Nur mit Blicken fragten sie einander ungläubig: Habt ihr das auch so wahrgenommen? Waren wir tatsächlich alle gerade ganz woanders, mitten im Wald?

Jetzt rief Tinka: »Okay, dann bis Montagabend. Gleicher Ort, gleiche Zeit.«

»Wir sind doch schon ziemlich gut. Können wir nicht zur Abwechslung mal eine Probe ausfallen lassen?«, schlug Aleksi vor, der den Prinzen spielte.

Tinka warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Bis zur Premiere sind es nur zwei Wochen, vor uns liegt eine Menge Arbeit. Alle hier sollten schleunigst ihren Text auf die Reihe kriegen, damit die Sache endlich rundläuft.«

Aleksi zuckte die Schultern und schlenderte lässig aus dem Saal.

Sampsa kam zu Lumikki rüber und strich ihr über den Rücken.

»Du warst mal wieder richtig gut.«

»Danke«, erwiderte sie und schnürte ihre Doc Martens zu. Ihre Finger zitterten leicht.

»Dann bis übermorgen, okay? Ich muss mich beeilen, bin sowieso schon spät dran, meine Mutter rastet sonst aus.«

Er küsste Lumikki auf die Stirn, warf sich den Rucksack über die Schulter und eilte nach draußen. Das Jägerkostüm hatte er bereits aus- und seine normalen Klamotten wieder angezogen.

Sampsas Familie traf sich jeden Freitag zum gemeinsamen Abendessen, bei dem auch Sampsas Großeltern und seine Tante dabei waren. Die Tradition gab es schon so viele Jahre, dass man nicht an ihr rütteln konnte. Also musste Sampsa jede Woche da aufkreuzen. Schon mehrmals hatte er Lumikki gefragt, ob sie mitkommen wolle, doch bislang hatte sie Nein gesagt. Der Gedanke an die prüfenden Blicke der anderen war ihr nicht sonderlich angenehm. Immerhin hatte sie jetzt für Sonntagnachmittag zugesagt – beim Kaffeetrinken würden nur Sampsas Eltern und seine kleine Schwester dabei sein, das genügte fürs Erste.

Hinter Tinka hertrottend, verließ Lumikki als Letzte den Saal. Die Schule wirkte sonderbar leer. Auf der Treppe hinunter Richtung Aula hallten ihre Schritte ungewöhnlich laut, die Flure und Klassenzimmer lagen verlassen da. Tagsüber drängten sich hier Dutzende von Schülern, und die Lautstärke überschritt garantiert die zugelassene Höchstgrenze.

Tinka überlegte laut, wie man das eine oder andere bei der Aufführung noch verbessern könnte. Lumikki konnte ihr nicht recht folgen, sie war in ihre eigenen Gedanken versunken. War es vielleicht doch ein Fehler, bei diesem Stück mitzumachen? Es beunruhigte sie, dass sie so stark von der Rolle eingesogen wurde und die reale Welt vollkommen vergaß. Sie spielte Schneewittchen nicht, sie war Schneewittchen. Ganz allein im Wald. Sie konnte das Blut an den Fingern so deutlich spüren und riechen, als...