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1812 - Historischer Roman über den Russlandfeldzug Napoleons (Band 1 bis 4)

Ludwig Rellstab

 

Verlag e-artnow, 2015

ISBN 9788026839132 , 651 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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1,99 EUR


 

Zweites Kapitel.


Solange man durch die Gassen des Städtchens fuhr und belebte Häuser am Wege standen, beobachtete die schöne Verschleierte das tiefste Schweigen, und den Versuch Ludwigs, sich durch eine Frage den Zusammenhang des höchst seltsamen Abenteuers, erklären zu lassen, lehnte sie durch einen stummen, ängstlichen Wink ab. Er blieb daher einige Minuten lang ganz seinen eigenen Vermutungen überlassen. In dieser Zeit fand er eine mögliche Auflösung des Rätsels, wenn auch nicht die wahre. Aller Wahrscheinlichkeit nach war seine Begleiterin eine Engländerin, vielleicht die Tochter eines Mannes von Bedeutung. Der neu ausbrechende Krieg hatte Haß und Wachsamkeit der Franzosen gegen die Einwohner dieses Landes verdoppelt; sie war daher mutmaßlich aus politischen Gründen genötigt, sich der List zu bedienen, um ein Land zu verlassen, das im Besitz der Feinde ihres Vaterlandes war, in dem man sie selbst vielleicht als Geisel betrachten und verhaften konnte. Ludwigs Herz schlug daher heftig vor Freude, daß die wunderbarsten Fügungen des Zufalls gerade ihn ersehen hatten, um einem Wesen, dessen süßer Reiz ihn so mächtig gerührt, ihn so lange in zarten, aber unzerreißbaren Fesseln gehalten hatte, diesen rettenden Dienst zu erweisen. Er richtete seinen Blick auf sie; sie saß sichtlich zitternd, beklemmt atmend neben ihm. Endlich verschwanden die letzten Häuser an der Seite des Weges, die Umgegend wurde einsam. Eine steil aufsteigende Strecke des Weges nötigte den Postillon, der aus dem Sattel fuhr, seinen raschen Trott in Schritt zu verwandeln, so daß das betäubende Rasseln des Wagens aufhörte. Da ergriff die schöne Verschleierte mit rascher Heftigkeit Ludwigs Hand, drückte sie warm und innig mit ihren beiden und sprach flüsternd aus beklommener Brust: »Sie sind mein Retter! Der Retter des Teuersten, was ich auf dieser Erde besitze!« Und wie erschöpft von der tödlichen Angst, von dem langen Zurückpressen der heftigsten Empfindungen in ihrer Brust, stieß sie schwer aufatmend ein gepreßtes Ach! aus, sank der ihr gegenübersitzenden Begleiterin an die Brust, umfaßte sie mit beiden Armen, verbarg das Haupt an ihre Schulter und brach in einen unaufhaltsamen Strom von Tränen aus.

Die ältere Begleiterin, obgleich sie in ihrer ganzen Haltung etwas Kaltes, Gemessenes hatte, schien jetzt doch auch bewegt. Sie suchte indessen die Weinende zu beruhigen, bediente sich aber dabei einer fremden Sprache, die Ludwig nicht verstand und sie auch nicht für undeutlich ausgesprochenes Englisch halten konnte. Die Unbekannte richtete sich wieder auf, schlug den Schleier zurück, um freier Luft zu schöpfen, richtete ihr blaues Auge gen Himmel und faltete die Hände über der Brust zu einem stummen Dankgebet. Ludwig, der sich gleichfalls im Innersten bewegt fühlte, wollte ihre heilige Rührung nicht unterbrechen und sah sie lange und erstaunt an. Sie erwiderte den Blick mit offener, reiner Gesinnung: »Wie soll ich Ihnen je vergelten!« sprach sie. »Vergelten?« entgegnete Ludwig lebhaft, aber mit inniger Betonung. »Das Schicksal bereitet mir auf die wunderbarste Weise ein Glück, das ich niemals zu träumen gewagt hätte, und Sie sprechen von Vergeltung? Etwa weil ich von Ihren Lippen den süßen Namen Bruder hörte? Was habe ich denn für Sie getan? Ich weiß nur, daß Sie einem Fremden, Unbekannten plötzlich, wie eine Göttin aus himmlischer Höhe, das überschwenglichste Glück bereitet haben!« – »Oh, Sie wissen nicht,« entgegnete sie, »was Sie für mich getan durch Ihr schnelles und gewagtes Verstehen!« – Sie wollte fortfahren, doch wurde sie durch den alten Diener unterbrochen, der sich umsah und einige fremdartige Worte zu ihr sprach, die sie ebenfalls in einer Ludwig völlig unbekannten Sprache erwiderte, und über welche er auch, da nur so wenige, noch dazu fast unverständlich leise Worte gewechselt wurden, gar keine Mutmaßung gewinnen konnte. Einigemal glaubte er spanische, dann wieder polnische Wortformen zu hören. Der Wagen rollte jetzt wieder rascher dahin, und das Gespräch war abermals unterbrochen. Indes mußte bald das fortwährende Ansteigen der auf der italienischen Seite ungleich steilern Simplonstraße beginnen; Ludwig setzte daher seine Wünsche um Enträtselung dieser Geheimnisse bis dahin aus.

Man erreichte eine freie Höhe, wo der Weg sich so bog, daß man noch einmal den Blick auf Italien zurückwerfen konnte. Das romantische Land lag in der Purpurglut der Abendröte da; die dunkeln, waldigen Vorgebirge der Alpen streckten sich weit in die blühenden Ebenen hinein; schäumende Bäche zogen silberne und goldene Straßen durch die Täler; das weiße, glänzende Städtchen am Fuße des Gebirges leuchtete hell auf dunkelm Grunde; die Ferne verschwand in purpurner Dämmerung und ließ keine deutlichen Umrisse mehr erkennen. »Leb' wohl!« sprach Ludwig bewegt. Auch seine Gefährtin wandte das schöne Antlitz noch einmal dem Eden zu, das sie verlassen mußte, eine sanfte Rührung verklärte ihre Züge; die Lippen schienen über eine Träne zu lächeln, die den blauen Kristall des Auges plötzlich mit feuchtem Schimmer überglänzte. »Leb' wohl«, wiederholte sie mit süßem Wohllaut und winkte leicht mit der Hand hinüber. Es war ein bewegter, aber kein tiefschmerzender, kein zerreißen- der Abschiedsgruß. – Da die Straße nunmehr ganz steil anstieg, so daß der Wagen sich nur langsam fortbewegte, trat endlich der Augenblick ein, wo sich Ruhe genug zu einem Gespräche fand. Ludwig wollte nun seine Frage über das seltsame Ereignis wiederholen, als seine Gefährtin schon unaufgefordert begann:

»Sie müssen ganz erstaunt sein über das, was Ihnen begegnet ist; doch die jetzt alle Länder und Völker erschütternden Verhältnisse führen auch den einzelnen oft in verhängnisvolle, seltsame Lagen. Eine solche ist die meinige. Schon gab ich mich verloren, ach und ich zitterte für ein teureres Gut als mein Leben, als der Himmel Sie zu meinem Retter sandte. Werden Sie mir aber Ihren Beistand auch ferner leisten wollen?«

»Bis zu meinem letzten Atemzuge!« rief Ludwig fast heftig. – »Versprechen Sie nichts,« entgegnete die Unbekannte unterbrechend, »bis Sie wissen, was ich von Ihrer großmütigen Gesinnung erbitten muß. Sie würden noch länger für meinen Bruder gelten, mich bis nach Deutschland als solcher in unaufhaltsamer Reise begleiten müssen! Und – es ist nicht ohne Gefahr für Sie!«

Ludwig wies mit einem fast unwilligen Stolz, den Gedanken zurück, als könne irgendeine Gefahr ihn zurückschrecken. »Das wußte ich wohl und mußte es Ihnen zutrauen,« entgegnete die Unbekannte; »aber noch ein schwereres Geständnis habe ich Ihnen zu tun. Ich werde undankbar, ich werde niedrig argwöhnend vor Ihnen erscheinen müssen; denn ich muß Ihre Hilfe angehen, ohne Ihnen mein Geheimnis vertrauen zu dürfen, weil es nicht das meinige ist. Andere haben heiligere Rechte daran, und mich binden die strengsten, unerläßlichsten Pflichten. Kaum mehr, als Sie schon erraten haben müssen, darf ich Ihnen enthüllen; denn daß ich nicht die Gräfin Wallersheim, daß ich nicht einmal eine Deutsche bin, kann Ihnen nicht verborgen geblieben sein.«

»Aber mit welchem Namen darf ich Sie nennen? Wird Ihr Geschick Sie mir auf ewig verhüllen?« fragte Ludwig nicht ohne schmerzliche Betonung. – »Nein, ich hoffe es nicht,« entgegnete seine Begleiterin sanft; »und bis dahin nennen Sie mich Schwester, Bianka, wenn Sie wollen. Dieser Name muß Ihnen schon genügen.«

»Schwester! Bianka!« sprach Ludwig nach, und ein bebender Schauer des Entzückens durchdrang sein Herz. »Schwester! Schwester!« – die Stimme versagte ihm. Der heilige Name legte ihm das reizende Wesen so nahe an das Herz, raubte es ihm aber zugleich so unwiederbringlich, daß er bei dem Klange desselben das vollste Maß der Seligkeit und den tiefsten, bittersten Kelch der Schmerzen zugleich leerte. Und so war sein ganzes Finden der Geliebten. Die vertraulichste Nähe war ihm gestattet, doch zugleich hatte das Schicksal, dies ahnte er schon jetzt, eine furchtbare Kluft zwischen beiden aufgerissen, die sie um so weiter trennte, je inniger vereint sie schienen.

Er blickte sie an; es deuchte ihm, sie sei eine holde Traumgestalt, die ihm entschweben werde, wenn er erwache. Sein Herz schlug heftig; doch er bezwang sich, und stumm verschloß er den ahnungsvollen Schmerz in seiner Brust. Doch Bianka brach das Schweigen. »Sie dürfen mich nicht nur Schwester nennen,« sprach sie ein wenig errötend, »sondern Sie müssen es auch, wenn Sie mich nicht verraten wollen. Sie werden sich gewiß bald daran gewöhnen, sowie an das vertraute Du, das ich öffentlich von Ihnen zu fordern gezwungen bin, wenn Sie deutsch sprechen.«

Die Prüfung für Ludwig wurde immer schwerer. – »Wenn ich mich nur nicht vergesse«, sprach er verlegen.

»Sie werden es gewiß nicht,« entgegnete Bianka; »der Gedanke, daß ein leichtes Versehen für Sie und mich höchst gefährlich werden könnte, wird Sie gewiß immer warnen; und überdies sollen Sie es stets in meinen Zügen lesen, daß ich Sie an Ihre brüderlichen Pflichten erinnere. Doch ich muß Ihnen noch einiges über meine Lage entdecken. Sie sehen mich hier von meiner Jugendpflegerin und einem alten getreuen Diener unseres Hauses begleitet, den einzigen, die mein Geheimnis zum Teil kennen. Wir würden ohne alle Gefahr reisen, wenn nur diese die Mitwisser wären, doch zu unserm Unglück ist es leider schon verraten. Wissen Sie denn, daß bis Mailand ein anderer Ihre Stelle einnahm!« Hier stockte die Erzählerin. »Ein empörender Mißbrauch, den er von meiner Lage machen wollte,« fuhr sie hocherrötend fort, »zwang mich, den günstigen Augenblick zu nutzen, der sich mir zur...