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Grimscribe - Sein Leben und Werk

Thomas Ligotti

 

Verlag Festa Verlag, 2015

ISBN 9783865523211 , 321 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz frei

Geräte

4,99 EUR


 

TAG EINS


Das blaue Dreieck

Candice Walker starrte auf den winzigen Kegel der zischenden blauen Flamme.

Sie konnte es nicht tun.

Aber sie musste es tun.

Ihre Brust zitterte unter den zurückgehaltenen Schluchzern. Keine ... keine Schmerzen mehr ... bitte Gott, keine Schmerzen mehr ...

Schmerzen hielten sie nicht auf, nicht jetzt. Das durfte sie nicht zulassen. Sie musste raus, musste es an die Oberfläche schaffen.

Sie musste Amy wiedersehen.

Candice betrachtete ihren rechten Arm und konnte immer noch nicht ganz glauben, was sich dort befand – oder vielmehr, was sich dort nicht befand. Keine Hand, kein Unterarm ... nur ein kakifarbener Gürtel aus Nylon, eng um einen zerklüfteten Stumpf geknotet, der wenige Zentimeter unterhalb des Ellbogens endete.

Durch den Druck des Knotens fühlte sich der Arm fast taub an. Fast. Das Ende des Gürtels stand nach oben wie die vor Leichenstarre steife, stummelige Zunge eines Tierkadavers und schlenkerte jedes Mal hin und her, wenn sie sich bewegte.

Erneut betrachtete sie die stete Flamme des Acetylenschneidbrenners: ein durchscheinendes, blaues Dreieck, gefüllt mit einem wunderschönen Licht, das reine Höllenqualen versprach.

Ich darf nicht zulassen, dass sie mich noch mal erwischen ... tu es, Candy ... tu es sofort oder stirb ...

Wenn die Schmerzen einsetzten, durfte sie sich nicht gestatten zu schreien, sonst fand man sie definitiv.

Candice senkte die Flamme auf ihr Fleisch.

Das blaue Juwel flammte auf und spritzte, schwärzte die herabbaumelnden Hautfetzen und Fleischlappen des Arms, schrumpfte sie zu einem brüchigen Nichts. Mit in den Nacken gelegtem Kopf presste sie die Augenlider zusammen – ihre Welt bündelte sich zu einer konzentrierten, winzigen Supernova aus blankem Leid.

Bevor sie richtig begriff, was sie da tat, schwenkte sie die Flamme zur Seite.

Candice blinzelte wie wild und mühte sich ab, in die Realität zurückzukehren und die Tränen aus den Augen zu bekommen. Der blubbernde Stumpf kreischte weiter.

Tu es, damit du deine Frau wiedersehen kannst ...

Ihr Mund füllte sich mit Blut – sie hatte sich in die Wange gebissen. Candice blickte auf ihren zerfetzten Arm und kratzte die letzten Quäntchen Kraft zusammen, die noch in ihrer Seele übrig waren. Sie musste die Augen offen halten, musste den Arm beobachten, sonst verblutete sie an Ort und Stelle.

Erkenne deine Aufgabe und erledige sie, Lieutenant. TU ES!

Candice hob den Armstumpf an, öffnete den Mund und biss kräftig auf das schlackernde Ende des Gürtels. Ein Geschmack von Nylon und Blut breitete sich in ihrem Rachen aus. Sie zog den Gürtel fest und bewegte das blaue Juwel erneut vorwärts. Die Flamme tänzelte und schien in seltsamen, scharfkantigen Winkeln abzuprallen. Das Geräusch von brutzelndem Gewebe ertönte und verbündete sich mit dem abscheulichen Gestank von verbranntem Schweinefleisch. Es brachte sie zum Würgen und verkrampfte ihr den Magen wie ein ausgewrungenes Handtuch.

Diesmal wandte sie die Augen nicht ab. Blut brodelte und zischte. Ihre Haut schlug Blasen und schwärzte sich. Knochen verkohlten. Und der Gestank, oh Gott, dieser Gestank ... Sie konnte den Rauch förmlich schmecken.

Und sie hörte Grunzlaute. Candice vernahm ein stetes, tiefes Knurren, das Geräusch eines Tiers, das sich abmüht, den Fuß aus einer Falle mit Eisenklauen freizunagen.

Der Schneidbrenner rutschte ihr aus der Hand und landete klirrend auf dem Metalldeck. Das blaue Juwel stieß unablässig sein verhasstes Zischen aus.

Candice drückte sich den versengten Stumpf fest an die Brust. Ihr Kopf rollte zurück, ein stummer Schrei löste sich aus ihrer Kehle ... Wie viel noch? Wie viel muss ich ertragen?

Candice zwang sich, die verkohlte Masse anzusehen, mit der einst eine Hand verbunden gewesen war. Eine Hand, die zeichnen und malen konnte. Eine Hand, die sie um ein Haar an die Arizona State University gebracht hätte, um dort Kunst zu studieren, bevor sie die Entscheidung getroffen hatte, lieber ihrem Land zu dienen. Eine Hand, die so viele Male ihre Ehefrau berührt hatte.

Blasen schwollen an. Ihre Haut dampfte wie ein frisch gebratenes Steak, aber die Blutung war versiegt. Nur noch wenige rote Tropfen sickerten durch die zahlreichen Risse und brüchigen Ränder des Stumpfs.

Ihre rechte Hand war verschwunden ... warum also spürten die fehlenden Finger nach wie vor das Feuer?

Mit der verbliebenen Hand fasste sie ins Uniformhemd und strich über ihren Bauch, die Stelle, wo sie die Zeichnungen versteckt hatte: noch da.

Candice tastete nach der Luke, die aus der winzigen, von Stahlwänden begrenzten Abfallentsorgungseinheit des U-Boots führte. Schließlich konnte sie sich nicht ewig hier verstecken. Ihr stockte der Atem, weil sie wusste, dass allein das Anheben des Türhebels der Abfallentsorgungseinheit Lärm verursachte und ihre Schiffskameraden unter Umständen auf sie aufmerksam machte.

Erneut schloss sie die Augen und forschte in sich nach der Kraft weiterzumachen. Amy, ich werde nie aufgeben. Sie werden mich nicht kriegen, obwohl sie mich alle kriegen wollen, obwohl sie mich alle töten wollen ...

Langsam schob Candice den Hebel nach oben.

Die Luke führte in einen dunklen Gang, vollständig leer, abgesehen von einigen Rauchschwaden, die von dem Feuer stammten, das sie im Maschinenraum gelegt hatte. Die grauen Schotten, die Rohre und elektrischen Leitungen sahen genauso aus wie während all der Monate, die sie hier gedient hatte.

Alles war wie zuvor, und doch war alles anders.

Zu ihrer Rechten: die Offiziersmesse, in der sie unzählige Mahlzeiten eingenommen hatte.

Zu ihrer Linken: die Messe der Besatzung. Pechschwarz, sämtliche Lampen zerschlagen und zertrümmert.

Candice fasste sich an den Rücken und zog ihre Pistole. Zwei Männer hatte sie erschossen; wie viele weitere Besatzungsmitglieder mochte sie durch ihren Sabotageakt getötet haben? Sie wünschte, die Antwort lautete: alle.

Irgendwie musste sie das DDS-Modul erreichen, das Dry Deck Shelter. Die Oberfläche ... sie musste an die Oberfläche gelangen.

Schwitzend, zitternd und blutend trat Candice aus der Abfallentsorgungseinheit.

Sie rutschte um ein Haar aus, als über die Sprechanlage eine knisternde Stimme ertönte.

»Hier spricht der ... der Kapitän.«

Candice erstarrte, als stehe er leibhaftig vor ihr im Gang, als könne er sie sehen. Es war seine Stimme, die sie aus so vielen Monaten kannte, zugleich jedoch nicht seine Stimme. Er hatte unüberhörbar Mühe, die Worte hervorzubringen.

»Torpedo-Gefechtsstationen bemannen. Ich wiederhole, Torpedo... Torpedo-Gefechtsstationen bemannen. Das ... das ist alles.«

Das durchdringende Klicken, als die Sprechanlage abgeschaltet wurde, ließ Candice zusammenzucken. Ein Torpedo? Auf wen sollte er denn abgeschossen werden? Da draußen gab es keinen Feind, überhaupt niemanden, außer ...

»Nein«, stieß sie hervor. »Nein.«

Sie hatte dem U-Boot die Fähigkeit zur Flucht genommen. Allerdings hatte sie ihm nicht die Fähigkeit zum Kämpfen genommen.

Flucht. Die anderen kamen, um sie zu holen ... sie musste fliehen.

Candice presste den Arm fest gegen die Brust und zog die rechte Schulter fast bis zum Ohr hoch. Sie huschte den Gang entlang und rechnete bei jedem Schritt damit, dass ihre Peiniger angerannt kamen.

Wenn sie es bis zur vorderen Notausstiegsluke schaffte, die zum Dry Deck Shelter führte, wenn sie einen der SEIE-Anzüge anziehen konnte, dann erreichte sie vielleicht die Oberfläche. Das Dry Deck Shelter befand sich mittschiffs, unmittelbar achtern des Kontrollraums und der Angriffszentrale. Um hinzukommen, musste sie durch die Mannschaftsmesse, vorbei an all den Leichen.

Und einige davon waren, wie sie wusste, nicht ganz tot.

Candice spürte Vibrationen unter den Füßen: das Fluten der Torpedoröhren, die letzte Stufe vor dem Abfeuern. Nur noch Sekunden, bis Mark 48 ADCAPs mit 55 Knoten hinausschossen und auf Schiffe zusteuerten, die keine Ahnung hatten, was da auf sie zukam.

Sie betrat die Dunkelheit der Mannschaftsmesse. Durch die Mitte verlief ein Gang. Kleine Tische für jeweils vier Personen säumten beide Seiten. An den Tischen konnte sie klobige Schatten ausmachen, die reglosen Schemen von Leichen, die dunkelroten Farbtöne von getrocknetem Blut.

Hierher hatte man sie bringen wollen.

Trübes Licht drang von oben durch die offene Notausstiegsluke herein.

Ihre Augen hatten sich ausreichend an die Finsternis angepasst, um etwas zu erkennen, das unmittelbar vor ihr auf dem Boden lag.

Ein abgetrennter Kopf.

Und sie erkannte ihn: Bobby Biltmore, ein Ensign aus Kansas.

Glückwunsch, Bobby – du bist wenigstens richtig tot.

Candice stieg über den Kopf hinweg und bewegte sich weiter durch den Gang, wartete nur darauf, dass sich eine der Leichen erhob und sie packte, unter einen Tisch zog und mit ihr anstellte, was sie mit anderen angestellt hatte.

Verwesungsgeruch kämpfte mit dem Mief ihres eigenen gebratenen Fleisches um die Vorherrschaft.

Nur noch...