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Die Biene und der Kurt

Robert Seethaler

 

Verlag kein & aber, 2012

ISBN 9783036991795 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

MITTEL UND WEGE

Jetzt fallen die Sonnenstrahlen schon sehr steil hinein ins Heimleiterinnenbüro. Ganz klein und mit ungesundem Rundrücken sitzt die Frau Kämmerle hinter ihrem Schreibtischklotz und schaut traurig zur Tür hin. Dort nämlich sitzt die Maria auf einem Holzstuhl. Die Maria wiederum ist nie traurig, aber oft müde. Darum sinkt ihr jetzt gerade wieder der Kopf auf die Brust, schwer wie ein Medizinball. Bei jedem Ausatmer blubbert es schon ein bisschen im Mundwinkel. Das also schaut sich die Frau Kämmerle an. Sehr traurig. Die Mutter Gottes im Baumarkt-Bilderrahmen weiß da jetzt gerade auch nicht weiter. Die Wanduhr sowieso nicht. Sieben Uhr und fünfzig Minuten zeigt die. Oft ist schon ein einziger Tag länger als die Geduld. Es zuckt etwas auf der Stirn von der Frau Kämmerle.

Und dann steht sie auf, mit einem derartigen Rucker, dass die Maria hochfährt aus ihrer blubbernden Schlafseligkeit und die Augen weit aufreißt, rennt zum Fenster hin und reißt es auf, so weit sie kann. Der Baum steht noch immer da. Und die Biene hat es auch noch gemütlich da oben. Vielleicht sogar noch gemütlicher als heute Morgen. Die liegt nämlich mittlerweile zusammengerollt auf dem dicken Ast, wie eine große, etwas hochgefütterte weiße Katze. Und so was kann der Frau Kämmerle natürlich nicht gefallen. »Kravcek!«, schreit sie, »Kravcek! Ich kriege deinen ...deinen ...ARSCH schon noch herunter auf den Boden …!« Kurz hat sie das Wort suchen müssen. Das war ja auch viele Jahre verschüttet unter der ganzen gläubigen Verantwortung. Aber gefunden hat sie es doch.

Die Biene hebt nur kurz den Kopf. Und dann rollt sie sich noch ein bisschen mehr ein. Ganz fest zieht sie die Knie an ihren Bauch. Die Frau Kämmerle setzt noch ein letztes Mal an. Ein allerletztes Mal. »Es gibt Mittel und Wege unter Gottes Himmel …!« Ein bisschen schrill kippt ihre Stimme und verklingt irgendwo in der warmen frühabendlichen Sommerluft.

Und sie hat ja auch Recht, die verantwortungsbewusste Frau Kämmerle: Es gibt Mittel und Wege. Und Telefone. Und deswegen saust nur wenig später mit Geheul und Blaulicht ein knallrotes Feuerwehrauto aus der untergehenden Sonne heraus, über das gelbe Feld am Horizont entlang und auf das Mädchenwohnheim zu. Und wenn man jetzt von weitem hineinschauen könnte in dieses Feuerwehrauto, könnte man sehen: Da sitzen Männer drinnen, die haben Helme auf und Stiefel an den dicken Waden und blonde Haare am Handrücken, oder dunkle. Bäuche haben die und breite, rote Nacken. Solche Männer sind das. Die haben schon ganz andere Sachen von Bäumen heruntergeholt. Ganz andere!

Deshalb fährt also dieses Feuerwehrauto ungefähr eine Stunde später ohne Geheul und ohne Blaulicht und ziemlich gemächlich ganz genau denselben Weg wieder zurück. Die Sonne hat sich schon verabschiedet. Die gelben Felder sind jetzt dunkelgrau, und hoch darüber stehen die Sterne. Drinnen im Feuerwehrauto sitzen die Männer, ohne Helme jetzt, und freuen sich schon auf ein oder mehrere Feierabendbiere. Die lange Leiter werden sie wahrscheinlich schon ausgefahren haben müssen. Und einer von den Männern – vielleicht der mit den dünnsten Waden – wird da wahrscheinlich auch hochgeklettert sein. Aber ansonsten war dieser Einsatz eher ein sogenannter Kinderfurz.

Darum sitzt die Biene in ihrem Nachthemd jetzt mitten in Frau Kämmerles Büro auf einem hölzernen Stuhl und zeichnet mit den Zehen allerhand Muster auf den Boden. Hinter ihr, an der Tür, steht die Maria, so breitbeinig, dass sich der Hilfsschwesternkittel spannen muss wie ein Großraumsegel. Hinter dem Schreibtisch sitzt die Frau Kämmerle. Die hat auch schon einmal eine bessere Laune gehabt. So viel Traurigkeit und so viel Enttäuschung in einem einzigen Gesicht. Aber sie bemüht sich sehr. Das merkt man. Die füllt förmlich den ganzen Raum aus, die Bemühung von der Frau Kämmerle. »Wo soll das denn hinführen, Biene, wenn die Barmherzigkeit beständig mit Füßen getreten wird?«, fragt sie. Die Biene weiß das aber wahrscheinlich auch nicht. Ganz genau schaut sie sich ihre sorgsam zehengemalten unsichtbaren Muster an.

Da muss die Frau Kämmerle ja seufzen. Da bleibt ihr ja gar nichts anderes übrig. Gleich ein paar Mal seufzt sie. Die kommt jetzt aus dem Seufzen gar nicht mehr heraus. Jedes Mal noch ein bisschen tiefer. Aber eines muss man schon sagen: So ein Verständnis wie das von der Frau Kämmerle und so eine Menschenfreundlichkeit gibt es auch selten in der gar nicht so kleinen katholischen Heimleiterinnenszene! Darum vergisst die Frau Kämmerle jetzt die Seufzerei wieder, nickt sehr verständnisvoll und schaut der Biene sehr menschenfreundlich mitten ins Gesicht hinein. »Aber weißt du, Biene …«, sagt sie, »weißt du, vielleicht ist es ja auch so, dass da etwas in dir ...also ganz tief in dir drinnen, meine ich ...nicht ganz ...nicht ganz so, wie es die Schöpfung nämlich ...ja …« Jetzt sucht die Frau Kämmerle nach dem richtigen Ausdruck. Weil der richtige Ausdruck schon seine Wichtigkeit hat in so einem Moment. Aber irgendwann hat man auch genug gesucht. Irgendwann muss dann alles heraus, egal ob richtig ausgedrückt oder nicht. »Jedenfalls habe ich mich ...haben wir uns entschlossen …« Einmal muss die Frau Kämmerle doch noch eine Pause machen. Nicht wegen der Spannung, sondern eher wegen des Pfropfens, der ihr auf einmal im Hals sitzt. Aber nicht einmal der dickste Pfropfen ist dick genug, um den dünnen Kämmerlehals ewig zu verstopfen. Ein bisschen dauert es, und ein bisschen komisch hört sich das an, wie die Frau Kämmerle da in ihre kleine Faust hineinkeckert. Aber dann ist der Pfropfen weggeräuspert.

»...haben wir uns entschlossen, dich in die Klinik zu schicken!«

Das sitzt. Das kennt die Biene. Das hat sie schon gehört. Oft. Die Klinik. Still stehen die Zehen, zeichnen keine Muster mehr. Und dann fährt mit einem Rucker der Bienekopf hoch. »Nein!«, sagt die Biene leise und schaut die Frau Kämmerle an mit riesigen Augen. Da ist etwas hineingefahren ins Herz von der Biene, etwas Heißes, und von dort hat es sich ziemlich schnell ausgebreitet im ganzen Körper, überallhin, bis ins Gesicht hinein. Das ist die Angst.

»Nein!«, sagt sie noch einmal, schon ein bisschen lauter jetzt, und schüttelt den Kopf dazu. »Nicht in die Klinik …!« Die Frau Kämmerle drückt sich ein Lächeln hervor. Das soll beruhigend wirken. »Ist doch nur vorübergehend, Bienchen! Weißt du, die Ärzte heutzutage, die sind doch nicht mehr so. So wie früher, meine ich. Die können hineinschauen, in deinen Kopf hineinschauen, weißt du …!« So redet die Frau Kämmerle auf die Biene ein, beruhigend. Aber die will sich jetzt nicht mehr so schnell beruhigen lassen. Die hört zwar, was die Frau Kämmerle ihr da erzählt. Irgendwie hört sie das. Aber die ganze Zeit schüttelt sie den Kopf dazu. Hin und her. Hin und her. Sinnlos natürlich. Weil: Wann hat so ein Kopfschütteln schon jemals etwas gebracht?

Das fragt sich vielleicht auch die Biene. Jetzt hört sie nämlich plötzlich auf mit dieser Kopfschüttelei und probiert etwas ganz anderes. Von ihrem Stuhl springt sie hoch, dass die nackten Füße nur so platschen bei der Landung auf dem glatten Holzboden, und den Computer von der Frau Kämmerle greift sie sich. Mit beiden Händen reißt sie den vom Schreibtisch und hebt ihn hoch über den Kopf. Und dann schmeißt sie ihn mit einem Kracher in die Ecke. Und eines ist klar: Eine derartige Behandlung kann auch der durchkonstruierteste Computer der Welt nicht aushalten! Schon gar nicht so ein ärmlicher Achtzigerjahre-Spendencomputer wie der von der Frau Kämmerle. Deswegen zerlegt es den jetzt auch in unvermutet viele Teile, die auch gleich nach allen Richtungen im Büro herumfliegen. Wie eine bunte, kleine Sprengung sieht das aus.

Aber die Biene hat jetzt keine Zeit für solche Betrachtungen. Die hat inzwischen schon wieder ganz was anderes zu tun. Die steht über den Schreibtisch gebeugt und schreit der Frau Kämmerle ins Gesicht. »Nie, niemals, nie geh ich in die Klinik!« Das schreit die Biene der Frau Kämmerle entgegen, dass ihr die Speicheltröpfchen nur so aus dem Mund herausspringen. Und dabei schlägt sie bei jedem Wort mit beiden Fäusten auf den Schreibtisch ein. Hurtig hüpfen die ganzen Heimleiterinnensachen über die hölzerne Platte. Papiere, Akten, Stifte, die Lampe, das kleine Radiergummitier – alles prügelt die Biene mit ihren Fäusten vom Schreibtisch. Und so würde das vermutlich auch noch eine ziemliche Weile weitergehen.

Da hat aber die Hilfsschwester Maria was dagegen. Die steht nämlich schon hinter der Biene und greift zu. Und zwar ordentlich. Fest umgreift sie die Biene von hinten und presst ihr die Oberarme an den Körper. Da kann die Biene noch so viel strampeln und herumtreten mit den nackten Beinen, die Maria ist stärker als die meisten Preisringer. Aber die...