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Freiheit für Raif Badawi, die Liebe meines Lebens

Ensaf Haidar

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN 9783732515875 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Eine verbotene Liebe


Mein erstes Mobiltelefon war ein silberfarbener Apparat mit Gummitasten. Als meine Schwester Hanan mir das Telefon in die Hand drückte, war uns beiden nicht klar, dass sich mir damit das Tor zur Welt öffnen sollte.

Hanan hatte das Gerät zur Hochzeit geschenkt bekommen und wusste nichts Rechtes damit anzufangen. Einer verheirateten Frau, so glaubte sie, sollte das Festnetz genügen. Aber ich, als Studentin der Koranwissenschaften, könnte damit beispielsweise zu Hause anrufen, falls der Fahrer, der mich täglich von der Uni abholte, mal nicht pünktlich erschien.

Zum ersten Mal hatte ich nun also eine autonome Verbindung zur Welt außerhalb meines Elternhauses. In meiner Heimat, Saudi-Arabien, wo junge Frauen bis zu ihrer Hochzeit wie Kronjuwelen bewacht werden, war das äußerst ungewöhnlich. Zu viel Freiheit gilt als Risiko. Und tatsächlich sollte Risiko von nun an zu einer festen Größe in meinem bis dahin so beschaulichen Leben werden.

Ich hatte die letzten beiden Jahre Koranwissenschaften studiert, allerdings ohne große Ambitionen. Nach der Uni einen Beruf zu ergreifen war in meinem Lebensplan nicht vorgesehen. Mein Vater war ein wohlhabender Mann, und eine Berufstätigkeit seiner Töchter oder Ehefrauen kam für ihn nicht infrage. Wir hatten es schlicht nicht nötig. Er gehörte zu den lokalen Honoratioren meiner Heimatstadt Jaisan und verdiente mit seinem Einrichtungsgeschäft so viel Geld, dass er problemlos ein großes Haus und zwei Familien unterhalten konnte: Zusammen mit meiner Mutter hatte er elf Kinder und zusammen mit einer jüngeren Frau weitere vier. Dass seine Töchter oder Ehefrauen einer Arbeit außerhalb des Hauses nachgingen, schickte sich nicht.

Doch da ich nun ein Handy besaß, riet mir meine Schwester Egbal, ich sollte mich wenigstens bei den Arbeitsbehörden registrieren lassen. »Wenn du dort deine Handynummer angibst, Ensaf, bekommt keiner im Haus etwas mit, sollten sie dich tatsächlich anrufen. Außerdem wartet man wegen der hohen Arbeitslosigkeit sowieso Jahre auf ein Angebot von denen. Versuch doch wenigstens, einen Job zu bekommen.« Egbal ist zwölf Jahre älter als ich – und bereits Witwe, was sie dazu zwingt, wieder bei uns zu Hause unter der Vormundschaft meines Vaters zu leben. Kein Wunder, dass sie mich vorsichtig in Richtung finanzieller Unabhängigkeit schubste.

Der einzige Beruf, den mein Vater mir und Egbal vielleicht erlaubt hätte, war Lehrerin in einer Koranschule. Die Erziehung von Mädchen nach islamischen Wertmaßstäben gilt als edle Aufgabe und ist in meiner Familie mehr oder weniger der einzig akzeptable Beruf für eine Frau. Das traf sich gut: Nachdem ich als Kind selbst auf eine solche Schule gegangen bin – und gerade Koranwissenschaften studierte –, war ich ohnehin für keinen anderen Job geeignet. Ich ließ mich also als arbeitssuchende Religionslehrerin registrieren. Aber ich rechnete nicht wirklich damit, dass das Ausfüllen der Formulare irgendwelche Konsequenzen haben würde. Und eigentlich wollte ich das auch nicht: Ich hatte keine beruflichen Ambitionen oder Träume. Es genügte mir völlig, im Haus meiner Eltern in den Tag hinein zu leben.

Als Egbal und ich nachmittags von unserem Behördengang nach Hause kamen, pfefferte ich meine Abaya, das unförmige schwarze Gewand, das wir außerhalb des Hauses tragen müssen, in eine Ecke und nahm den Gesichtsschleier, den Nikab, ab. Unter der schwarzen Einheitskluft trug ich ein geblümtes Sommerkleid, das für die Temperaturen in Süd-Arabien besser geeignet war. Ich nahm mir eine Cola aus dem Kühlschrank und verzog mich in mein Zimmer. Im Fernsehen lief gerade eine türkische Soap, bei deren Familiendramen ich irgendwann einfach wegdämmerte. Als ich wieder aufwachte, sah ich, dass ich einen Anruf verpasst hatte.

Das konnte nur die Arbeitsvermittlung gewesen sein. Die Frau aus dem Amt hatte ja gesagt, dass sie sich melden würde, wenn sie eine offene Stelle hätte. Aber das ging mir jetzt definitiv zu schnell. Eigentlich hatte ich mich bereits auf einige Jahre Ferien eingestellt: abends bis in die Puppen fernsehen, morgens ausschlafen … die Zeit genießen, bis mich meine Familie verheiraten würde und ich dann die Pflichten einer Ehefrau erfüllen müsste.

Ich wartete also mit meinem Rückruf bis Feierabend und wollte der Behörde nur kurz auf den AB sprechen. Also drückte ich zwanzig Minuten nach fünf Uhr die Rückruftaste:

»Hallo?«, meldete sich eine männliche Stimme.

»Oh, äh, hallo«, stammelte ich. »Ich hatte Ihre Nummer auf dem Display. Hatten Sie mich angerufen?«

»Nein«, behauptete der junge Mann am anderen Ende der Leitung. »Nicht, dass ich wüsste …«

»Ach so. Na dann, Entschuldigung. Auf Wiedersehen.«

Hastig legte ich auf. Ich schämte mich in Grund und Boden. Ich hatte einen wildfremden Mann angerufen! Einfach so. Was, um Himmels willen, würde er von mir denken?

Während ich mir Vorwürfe machte, klingelte das Telefon erneut. Ich starrte auf das Display – und mein Herz machte einen Satz. Dieselbe Nummer.

Hatte er nicht eben noch behauptet, er habe meine Nummer nie gewählt? Warum tat er es dann jetzt? Reflexartig nahm ich das Gespräch an.

»Hallo«, sagte er erneut. Seine Stimme klang sympathisch, weich und voll.

»Hallo«, antwortete ich kühl.

»Du hast eine schöne Stimme«, sagte er schüchtern. »Hättest du vielleicht Lust, ein bisschen mit mir zu telefonieren?«

»Selbstverständlich nicht!«, entgegnete ich empört. Meine Sorge war berechtigt gewesen. Er hielt mich bestimmt schon für eine leichtsinnige Frau. »Ich habe doch gesagt, dass ich nur versehentlich angerufen habe. Ich habe mich entschuldigt.«

»Ach, komm. Nur kurz«, bat er.

»Nein, ganz bestimmt nicht!«

Entschlossen drückte ich ihn weg. Das Telefon klingelte abermals. Eilig stellte ich den Ton ab, damit meine Familie nichts davon mitbekam. Meine Brüder wären alles andere als erfreut gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass ein Fremder mir nachstellte. Um ganz sicher vor ihnen zu sein, verschloss ich vorsichtshalber meine Tür.

Jetzt machte mein Handy Lichtsignale: Fasziniert sah ich zu, wie die Beleuchtung des Displays bei jedem unterdrückten Klingelton ansprang. Wie eine Taschenlampe, die Morsezeichen aussandte: »SOS. NIMM BITTE AB

Ich verbrachte den ganzen Abend damit, die Lichtbotschaften meines Handys zu beobachten. Insgesamt rief mich der Mann – wer auch immer er war – 25 Mal an. Er wollte einfach nicht aufgeben. Und natürlich imponierte mir das.

In Saudi-Arabien haben wir normalerweise keinerlei Gelegenheit, mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu treten. Ab der Pubertät dürfen wir Mädchen nur noch von Kopf bis Fuß verschleiert unser Elternhaus verlassen. Und nie dürfen wir ohne Begleitung unterwegs sein. Die Schulen – aber auch alle anderen Bereiche des täglichen Lebens – sind streng nach Geschlechtern getrennt, um Unverheirateten jede Möglichkeit einer zufälligen Begegnung zu nehmen. So befinden sich im Haus meiner Eltern etwa zwei Wohnzimmer: eines für männliche Besucher, ein anderes für weibliche Besucher. Wenn mein Vater oder meine Brüder Besuch erwarteten, verzog ich mich in ein anderes Zimmer, damit die Männer mich nicht zu Gesicht bekamen. Die einzigen Männer, mit denen ich bis dahin gesprochen hatte, waren mein Vater und meine sieben Brüder. Selbst mit meinen Verwandten – etwa meinen Cousins, Onkeln oder den Ehemännern meiner Schwestern – ging ich äußerst reserviert um.

Kein Wunder also, dass ich es aufregend fand, als dieser Fremde mich anrief. Seine Hartnäckigkeit schmeichelte mir. Hatte er nicht gesagt, dass ihm meine Stimme gefällt? Vielleicht hatte er sich in ihren Klang verliebt. In einer ägyptischen Serie war das auch einmal einem Mann und einer Frau passiert.

Wer war er bloß, und wie war er an meine Nummer gekommen? Vor einigen Tagen hatte sich mein jüngerer Bruder Yassir mein Handy ausgeliehen. Konnte es sein, dass mich irgendein Freund meines Bruders anrief, dem Yassir diese Nummer gegeben hatte? Würde mein Bruder so unvorsichtig sein? Ich hatte von Fällen gehört, in denen sich junge Männer einen Spaß machen, indem sie die Stimme der Frau, die sie verbotenerweise anrufen, heimlich aufnehmen. Das ist äußerst fatal für die Frau: Der Anrufer konnte sie jederzeit mit dieser Tonbandaufnahme erpressen. Es ist, als besitze er ein Nacktfoto von ihr. Solche Beweise für einen vorehelichen Kontakt können bei uns Hochzeitspläne platzen lassen und Scheidungen provozieren.

Trotz dieses Risikos konnte ich der Versuchung letztlich nicht widerstehen. Als das Telefon kurz vor Mitternacht erneut aufflackerte, drückte ich die grüne Taste. Ich bemühte mich, meine Stimme streng und verführerisch zugleich klingen zu lassen. »Was soll das?«, stellte ich den Fremden zur Rede. »Was verspricht du dir davon, hier Terror zu machen?!«

Er war wohl ziemlich überrascht. Bevor er antworten konnte, sagte ich: »Bitte lass diesen Unsinn«, und legte auf. Aber natürlich rief er ungefähr eine Minute später wieder an. Und natürlich ging ich erneut ans Telefon.

»Was willst du?«, fragte ich ihn böse.

»Ich will nur mit dir reden«, flehte er. »Bitte!«

»Wer bist du überhaupt?!«

»Ich heiße Raif Badawi.«

Doch während mittlerweile die ganze Welt weiß, wer Raif Badawi ist, sagte mir der Name damals natürlich noch nichts. Das...