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Wege zum Selbst - Östliche und westliche Ansätze zu persönlichem Wachstum

Ken Wilber

 

Verlag Goldmann, 2015

ISBN 9783641185961 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

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Einleitung:
Wer bin ich?


Plötzlich, ohne jedes Vorzeichen, zu jeder Zeit, an jedem Ort, ohne erkennbaren Grund kann es geschehen.

Ganz plötzlich war ich von einer feuerfarbenen Wolke umgeben. Einen Augenblick lang dachte ich an Feuer, an ein Flammenmeer irgendwo nahebei in jener großen Stadt, im nächsten wusste ich, dass das Feuer in mir war. Unmittelbar darauf überkam mich ein Gefühl des Jubels, der unermesslichen Freude, begleitet oder gefolgt von einer Erleuchtung des Verstandes, die ich unmöglich beschreiben kann. Unter anderem begriff ich nicht nur, sondern ich sah, dass das Universum nicht aus toter Materie besteht, sondern im Gegenteil eine lebendige Gegenwart ist; mir wurde bewusst, dass ewiges Leben in mir ist. Es war nicht die Überzeugung, dass mir ewiges Leben zuteil werden würde, sondern das Bewusstsein, dass ich in diesem Augenblick ewiges Leben hatte; ich erkannte, dass alle Menschen unsterblich sind; dass die kosmische Ordnung so ist, dass ohne jeden Zweifel alle Dinge zum Besten von allem und jedem zusammenwirken; dass das Ursprungsprinzip der Welt, aller Welten, das ist, was wir die Liebe nennen, und dass das Glück aller und jedes Einzelnen auf lange Sicht eine absolute Gewissheit ist (Zit. aus R. M. Bucke).

Was für eine wunderbare Erkenntnis! Es wäre gewiss ein schwerer Fehler, wollten wir voreilig folgern, derartige Erlebnisse seien Halluzinationen oder Folgen einer geistigen Verwirrung, denn in dem, was sie schließlich offenbaren, haben sie nichts mit der schmerzlichen Gequältheit psychotischer Phantasiebilder gemein.

Der Staub der Straße und die Steine waren kostbar wie Gold, die Tore waren zunächst die Enden der Welt. Die grünen Bäume entzückten und begeisterten mich, als ich sie zuerst durch eines der Tore sah … Jungen und Mädchen, die sich auf den Straßen tummelten und spielten, waren dahintreibende Edelsteine. Ich wusste nichts davon, dass sie geboren waren oder sterben würden. Aber alle Dinge verharrten ewig, wie sie waren, an ihrem richtigen Ort. Ewigkeit offenbarte sich am hellen Tage … (Traherne)

William James, der bedeutendste amerikanische Psychologe, hat wiederholt unterstrichen, dass »unser normales Wachbewusstsein nur eine besondere Art des Bewusstseins ist, während überall ringsum, von ihm nur durch feinste Schleier getrennt, potenzielle Formen des Bewusstseins liegen, die ganz anders sind.« Es ist, als sei unser alltägliches Gewahrsein nur eine unbedeutende Insel, umgeben von einem weiten Meer unvermuteten und unerforschten Bewusstseins, dessen Wellen ständig an die schützenden Klippen unseres Normalbewusstseins schlagen, bis sie vielleicht einmal ganz unversehens durchbrechen und unsere Bewusstseinsinsel mit der Erkenntnis eines riesigen, weitgehend unerforschten, aber ungemein realen Bereichs einer neuen Bewusstseinswelt überschwemmen.

Nun kam ein Moment der Verzückung, so intensiv, dass das Universum stillstand, als sei es verblüfft über die unbeschreibliche Erhabenheit des Schauspiels. Nur einer im ganzen unendlichen Universum! Der All-Liebende, der Vollkommene … In demselben wunderbaren Augenblick dessen, was man himmlische Seligkeit nennen könnte, kam die Erleuchtung. Ich sah in einem eindringlichen inneren Bild die Atome oder Moleküle, aus denen sich das Universum anscheinend zusammensetzt – ich weiß nicht, ob materiell oder spirituell –, wie sie sich neu anordnen, während der Kosmos (in seinem fortdauernden, immerwährenden Leben) von einer Ordnung in die andere übergeht. Welche Freude, als ich sah, dass in der Kette keine Unterbrechung war – kein Glied wurde ausgelassen –, alles geschah an seinem Platz und zu seiner Zeit. Welten, Systeme – alles vermischte sich zu einem harmonischen Ganzen. (R. M. Bucke)

Das Faszinierendste an solchen erschreckenden und erleuchtenden Erlebnissen – und der Aspekt, dem wir viel Beachtung schenken werden – ist der Umstand, dass der einzelne Mensch über jeden Schatten eines Zweifels hinaus das Gefühl bekommt, dass er im Grunde eins ist mit dem ganzen Universum, mit allen Welten, seien sie hoch oder niedrig, heilig oder profan. Sein Identitätsgefühl erstreckt sich weit über die engen Grenzen seines Leibes und seiner Seele hinaus und umfasst das ganze Weltall. Eben aus diesem Grunde bezeichnete R. M. Bucke diesen Zustand des Gewahrseins als »kosmisches Bewusstsein«. Der Moslem nennt ihn die »Höchste Identität«, die höchste deshalb, weil sie eine Identität mit dem All ist. Wir werden sie gewöhnlich »Bewusstsein der All-Einheit« nennen – eine liebevolle Umarmung des Universums insgesamt.

Die Straßen waren mein, der Tempel war mein, ebenso Sonne, Mond und Sterne, und die ganze Welt war mein, und ich war der Einzige, der sie betrachtete und genoss. Ich kannte keinen knauserigen Besitz, keine Grenzen noch Trennungen; alle Besitztümer und alles Abgetrennte waren mein, alle Schätze und ihre Besitzer. So dass ich mit viel Getue korrumpiert und veranlasst wurde, die schmutzigen Kunstfertigkeiten dieser Welt zu erlernen, die ich nun wieder verlerne und gleichsam wieder zum kleinen Kind werde, damit ich in das Reich Gottes eingehen kann. (Traherne)

Dieses Erleben der höchsten Identität ist so weit verbreitet, dass es sich zusammen mit den Lehren, die es erklären wollen, die Bezeichnung »Philosophia perennis« verdient hat. Es gibt viele Beweise dafür, dass diese Art von Erfahrung oder Erkenntnis im Zentrum jeder großen Religion steht – im Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, im Christentum, im Islam und im Judentum –, so dass wir zu Recht von der »transzendierenden Einheit der Religionen« und der Einmütigkeit der ursprünglichen Wahrheit sprechen können.

Das Thema dieses Buches lautet: Diese Art des Gewahrseins, dieses Bewusstsein der Einheit oder diese höchste Identität ist die Natur und der Zustand aller fühlenden Wesen, aber wir schränken unsere Welt immer mehr ein und wenden uns von unserer wahren Natur ab, um uns mit Grenzen zu umgeben. Unser ursprünglich reines und einendes Bewusstsein funktioniert dann auf mannigfaltigen Ebenen, mit verschiedenen Identitäten und verschiedenen Grenzen. Diese verschiedenen Ebenen machen im Grunde die vielen Arten aus, wie wir auf die Frage »Wer bin ich?« antworten können und antworten.

»Wer bin ich?« Diese Frage hat wahrscheinlich die Menschheit seit Anbeginn gequält, und sie ist noch heute eine der beunruhigendsten aller menschlichen Fragen. Die angebotenen Antworten reichen vom Heiligen bis zum Profanen, vom Komplexen bis zum Einfachen, vom Wissenschaftlichen bis zum Romantischen, vom Politischen bis zum Individuellen. Aber anstatt die Menge von Antworten auf diese Frage zu untersuchen, wollen wir uns einen sehr spezifischen und grundlegenden Prozess ansehen, der abläuft, wenn ein Mensch die Frage »Wer bin ich?, Was ist mein wahres Selbst?, Was ist meine fundamentale Identität?« stellt und beantwortet.

Wenn jemand fragt, »Wer bist du?«, und wenn Sie darangehen, eine vernünftige, ehrliche oder mehr oder weniger ausführliche Antwort zu geben – was tun Sie dann wirklich? Was geht in Ihrem Kopf vor sich, während Sie dies tun? In gewissem Sinne beschreiben Sie Ihr Selbst, wie Sie es kennen gelernt haben, wobei Sie in Ihre Schilderung die meisten einschlägigen Fakten einbeziehen, gute und schlechte, wertvolle und wertlose, wissenschaftliche und poetische, philosophische und religiöse, die Sie als etwas begreifen, das für Ihre Identität grundlegend ist. Sie könnten zum Beispiel denken: »Ich bin ein einzigartiger Mensch, ein mit einem gewissen Potenzial begabtes Wesen; ich bin gütig, aber manchmal grausam, liebevoll, aber manchmal feindselig, ich bin Vater und Rechtsanwalt, ich gehe gern fischen und spiele gern Basketball …« Und so könnte Ihre Liste von Gefühlen und Gedanken weitergehen.

Aber dem ganzen Vorgang der Darstellung einer Identität liegt noch ein tieferer Prozess zugrunde. Wenn Sie auf die Frage »Wer bist du?« antworten, geschieht etwas ganz Einfaches. Wenn Sie Ihr »Selbst« beschreiben oder erklären oder auch nur innerlich spüren, ziehen Sie in Wirklichkeit, ob Sie es wollen oder nicht, im Geist eine Linie oder Grenze über das ganze Feld Ihres Erlebens, und alles, was innerhalb dieser Grenze liegt, nennen Sie oder empfinden Sie als Ihr »Selbst«, während Sie alles außerhalb dieser Grenze als »Nicht-Selbst« empfinden. Die Identität Ihres Selbst ist, anders ausgedrückt, völlig davon abhängig, wo Sie diese Grenzlinie ziehen.

Sie sind ein Mensch und kein Stuhl, und Sie wissen das, weil Sie bewusst oder unbewusst zwischen Menschen und Stühlen eine Grenze ziehen und Ihre Identität mit Ersteren erkennen können. Sie sind vielleicht ein sehr groß gewachsener Mensch und kein kleiner; daher ziehen Sie im Geist eine Grenze zwischen groß und klein und bezeichnen sich daher als »groß«. Sie bekommen das Gefühl, »Ich bin dies, und nicht das«, indem Sie zwischen »dies« und »das« eine Grenze ziehen und dann Ihre Identität mit »diesem« und Ihre Nicht-Identität mit »jenem« erkennen.

Wenn Sie also sagen: »mein Selbst«, ziehen Sie eine Grenze zwischen dem, was Sie sind, und dem, was Sie nicht sind. Wenn Sie auf die Frage »Wer bist du?« antworten, beschreiben Sie einfach das, was innerhalb dieser Grenzlinie liegt. Die so genannte Identitätskrise tritt ein, wenn Sie nicht entscheiden können, wie oder wo die Linie zu ziehen ist. Kurzum, »Wer bist du?« bedeutet »Wo ziehst du die Grenze?«

Alle Antworten auf die Frage »Wer bin ich?« leiten sich genau von diesem Grundvorgang her, dass man zwischen »Selbst« und »Nicht-Selbst« eine Grenze zieht. Wenn erst einmal die allgemeinen Grenzlinien...