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Helenas Geheimnis - Roman

Lucinda Riley

 

Verlag Goldmann, 2016

ISBN 9783641174187 , 624 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

Kapitel 1

»Ich weiß nicht genau, wo wir sind. Wir müssen mal kurz anhalten.«

»Verdammt, Mum! Es ist stockdunkel, und wir hängen über einem Abgrund! Hier gibt es nichts, wo wir mal kurz anhalten können.«

»Immer mit der Ruhe, mein Schatz. Ich finde schon eine Stelle, wo ich gefahrlos ranfahren kann.«

»Gefahrlos? Dass ich nicht lache! Hätte ich das gewusst, hätte ich meine Steigeisen und meinen Eispickel mitgebracht.«

»Da oben ist eine Parkbucht.« Ruckelnd steuerte Helena den ungewohnten Leihwagen um die Serpentine und brachte ihn in der Bucht zum Stehen. Nach einem Blick auf ihren Sohn, der sich die Augen zugehalten hatte, legte sie ihm beschwichtigend eine Hand aufs Knie. »Jetzt kannst du wieder schauen.« Sie äugte durchs Fenster in das Tal, das tief unter ihnen lag, und auf die entlang der Küste funkelnden Lichter. »Es ist wunderschön«, murmelte sie.

»Nein, Mum, es ist nicht ›wunderschön‹. ›Wunderschön‹ wird es erst sein, wenn wir nicht mehr irgendwo in einem fremden Land im Outback herumirren, keine drei Meter von einem Steilhang entfernt, der, wenn wir abstürzen, unseren sicheren Tod bedeutet. Haben sie hier noch nie was von Leitplanken gehört?«

Ohne auf ihn zu achten, tastete Helena nach dem Schalter für die Innenbeleuchtung. »Schatz, gib mir doch mal die Karte.« Alex reichte sie ihr, und Helena starrte mit suchendem Blick darauf.

»Mum, sie steht auf dem Kopf«, sagte Alex.

»Schon gut.« Sie drehte die Karte um. »Immy schläft noch?«

Alex schaute nach hinten zu seiner fünfjährigen Schwester, die quer über dem Rücksitz lag und fest ihr Plüschlämmchen an sich gekuschelt hielt. »Ja, und das ist auch gut so. Sonst würde diese Fahrt sie für den Rest ihres Lebens traumatisieren. Wenn sie sehen würde, wo wir gerade sind, würde man sie nie wieder in eine Achterbahn bekommen.«

»Gut, jetzt weiß ich, wo ich mich verfahren habe. Wir müssen wieder den Berg runter …«

»Den Steilabhang«, präzisierte Alex.

»… beim Schild nach Kathikas links abbiegen und der Straße folgen. Hier.« Helena reichte Alex die Karte zurück und legte den Gang ein, den sie für den Rückwärtsgang hielt. Der Wagen machte einen Satz nach vorn.

»Mum! Um Gottes willen!«

»Entschuldigung.« Helena wendete unbeholfen und lenkte den Wagen wieder auf die Straße.

»Ich habe gedacht, du wüsstest, wo das Haus ist«, brummte Alex.

»Mein Schatz, als ich das letzte Mal hier war, war ich gerade zwei Jahre älter als du. Im Klartext, das ist fast vierundzwanzig Jahre her. Aber wenn wir im Dorf sind, erkenne ich es bestimmt wieder.«

»Wenn wir das Dorf jemals erreichen.«

»Jetzt sei doch nicht so miesepetrig!« Erleichtert sah Helena den Wegweiser nach Kathikas vor sich auftauchen und bog ab. »Es lohnt sich, du wirst schon sehen.«

»Nicht mal ein Strand ist in der Nähe. Außerdem kann ich Oliven nicht leiden. Und die Chandlers erst recht nicht. Rupert ist ein Arschlo…«

»Alex, jetzt reicht’s! Wenn du nichts Positives zu sagen hast, dann halt bitte den Mund und lass mich fahren.«

Während Helena aufs Gaspedal trat, damit der Citroën den steilen Anstieg bewältigte, verfiel Alex in mürrisches Schweigen. Helena bedauerte, dass das Flugzeug Verspätung gehabt hatte und sie erst kurz nach Sonnenuntergang in Paphos gelandet waren. Bis sie durch den Zoll waren und ihren Leihwagen übergeben bekommen hatten, war es Nacht gewesen. Dabei hatte sie sich so auf diese Fahrt in die Berge gefreut und darauf, an diesen ganz besonderen Ort ihrer Kindheit zurückzukehren und ihn durch die Augen ihrer eigenen Kinder neu zu entdecken.

Aber andererseits, dachte sie, entsprach das Leben im Grunde nur selten den Erwartungen, vor allem nicht, wenn es um kostbare Erinnerungen ging. Und ihr war klar, dass sie den Sommer, den sie als Fünfzehnjährige hier im Haus ihres Patenonkels verbracht hatte, im Rückblick verklärte.

Aber so lächerlich es war, sie wäre schrecklich enttäuscht, wenn Pandora sich als weniger perfekt erweisen sollte als in ihrer Vorstellung. Ihr Kopf sagte ihr, dass es unmöglich so sein konnte wie damals und dass das Wiedersehen mit dem Haus einem Wiedersehen mit der ersten großen Liebe nach vierundzwanzig Jahren gleichen würde: in der Erinnerung von jugendlicher Kraft und Schönheit, in der Realität aber mit grauen Schläfen und dem körperlichen Verfall preisgegeben.

Und sie wusste auch, dass auch das denkbar war …

Würde er noch hier sein?

Helena hielt das Lenkrad fest umklammert und verbannte den Gedanken aus ihrem Kopf.

Pandora, das Haus, war ihr damals weitläufig wie ein herrschaftlicher Landsitz vorgekommen, aber in Wirklichkeit musste es kleiner sein. Die antiken Möbel, die Angus, ihr Patenonkel, zu seiner Zeit als oberster Befehlshaber der letzten noch auf Zypern stationierten Soldaten der britischen Armee aus England importiert hatte, waren ihr erlesen, elegant und unantastbar erschienen. Die graublauen Damastsofas im abgedunkelten Salon, dessen Fensterläden immer geschlossen blieben, damit die Sonne die Möbel nicht ausbleichen konnte, der antike Schreibtisch im Büro, an dem Angus jeden Morgen gesessen und mit einem schlanken Miniaturschwert seine Post geöffnet hatte, der ausladende Mahagoniesstisch, dessen glänzend glatte Oberfläche sie immer an eine Eisbahn denken ließ … das alles stand ihr fast übermächtig vor Augen.

Seit Angus vor drei Jahren aus gesundheitlichen Gründen nach England zurückgekehrt war, stand Pandora leer. So fest er auch beteuert hatte, die medizinische Versorgung auf Zypern sei ebenso gut wie der englische National Health Service, wenn nicht gar besser, hatte er zu guter Letzt doch notgedrungen, wenn auch widerwillig eingeräumt, dass es nicht besonders praktisch war, in einem abgelegenen Bergdorf zu leben, wenn man keine zwei gesunden Beine mehr hatte und regelmäßig eine beschwerliche Fahrt ins Krankenhaus auf sich nehmen musste.

Am Ende hatte er kapituliert, war nach England gezogen und vor einem halben Jahr an Lungenentzündung und Kummer gestorben. Es war ohnehin unwahrscheinlich gewesen, dass sich ein geschwächter Körper, der die überwiegende Anzahl seiner achtundsiebzig Jahre in einem subtropischen Klima verbracht hatte, an die immerwährende Feuchtigkeit und das Grau eines schottischen Vororts gewöhnen würde.

Seinen gesamten Besitz hatte er seinem Patenkind Helena vermacht, einschließlich Pandora.

Sie hatte geweint, als sie von seinem Tod erfahren hatte, und schuldbewusste Tränen vergossen wegen ihrer ständigen guten Vorsätze, ihn häufiger im Pflegeheim zu besuchen, wofür sie dann doch nie die Zeit gefunden hatte.

Der scheppernde Klingelton ihres Handys aus den Tiefen ihrer Handtasche riss sie aus ihren Gedanken.

»Schatz, gehst du ran?«, bat sie Alex. »Das ist wahrscheinlich Dad, der hören will, ob wir schon angekommen sind.«

Alex wühlte sich wie praktisch immer vergeblich durch die Handtasche seiner Mutter und fand das Handy erst, nachdem es bereits verstummt war. Er sah aufs Display. »Ja, das war wirklich Dad. Soll ich ihn zurückrufen?«

»Nein. Wir rufen ihn an, wenn wir da sind.«

»Falls wir hinfinden.«

»Natürlich finden wir hin. Langsam kenne ich mich wieder aus. Jetzt dauert es keine zehn Minuten mehr.«

»Gab es Haris Taverne schon, als du hier warst?«, fragte Alex, als sie an einem grell erleuchteten Restaurant mit einer funkelnden Neonpalme im Vorgarten vorbeifuhren. Im Inneren waren Spielautomaten und weiße Plastikstühle zu erkennen.

»Nein. Wir sind auf einer neuen Umgehungsstraße, auf der es viel Durchgangsverkehr und jede Menge Laufkundschaft gibt. Zu meiner Zeit war die Straße zum Dorf hinauf noch nicht einmal geteert.«

»Da gab’s Sky TV. Können wir abends mal hingehen?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Mal sehen.« Zu Helenas Urlaubsvorstellungen gehörten eher laue Abende auf der wunderschönen Terrasse mit Blick auf die Olivenhaine, dazu ein Glas des hiesigen Weins und frisch vom Baum gepflückte Feigen, aber weder Fernseher noch Neonpalmen.

»Mum, wie primitiv ist das Haus eigentlich? Ich meine, gibt’s überhaupt Strom?«

»Natürlich gibt es Strom, du Dummchen.« Helena hoffte nur, dass Angelina, die Frau im Ort, die die Schlüssel zum Haus hatte, ihn auch angestellt hatte. »Schau, jetzt biegen wir ins Dorf ab. In ein paar Minuten sind wir da.«

»Vielleicht könnte ich ja mit dem Rad zu der Kneipe fahren«, sagte Alex skeptisch. »Wenn ich irgendwo ein Rad auftreiben kann.«

»Ich bin damals praktisch jeden Tag vom Haus ins Dorf geradelt.«

»War das ein Hochrad?«

»Sehr witzig. Es war ein altmodisches Hollandrad mit drei Gängen und vorn einem Korb.« Bei der Erinnerung musste Helena lächeln. »Ich habe immer Brot aus der Bäckerei geholt.«

»Wie das Fahrrad, auf dem die Hexe im Zauberer von Oz sitzt, wenn sie bei Dorothy am Fenster vorbeifährt?«

»Genau so eins. Und jetzt sei still, ich muss mich konzentrieren. Wegen der neuen Umgehung kommen wir vom anderen Ende in den Ort, ich muss mich erst orientieren.«

Vor sich sah Helena bereits die Lichter des Dorfs funkeln. Als dann die Straße schmaler wurde und der Kies unter den Reifen knirschte,...