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Wolfsblut (Roman)

Jack London

 

Verlag Anaconda Verlag, 2015

ISBN 9783730691120 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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2,99 EUR


 

Erster Teil


Die Wildnis


Kapitel 1


Auf der Fährte nach Fleisch


Dunkler Tannenwald lag finster zu beiden Seiten des zugefrorenen Wasserlaufs. Der Wind hatte unlängst die weiße Frostdecke von den Bäumen gestreift, und sie sahen aus, als drängten sie sich im schwindenden Tageslicht schwarz und unheimlich aneinander. Tiefe Stille beherrschte die Landschaft. Eine Landschaft voller Trostlosigkeit, ohne Leben, ohne Bewegung, so einsam und kalt, dass man ihre Atmosphäre nicht einmal traurig nennen konnte. Ein Hauch von Gelächter lag über allem, doch ein Gelächter, das schrecklicher war als jede Schwermut – ein Gelächter so freudlos wie das Lächeln der Sphinx, eisig wie der Frost und an die grimmige Härte der Unfehlbarkeit gemahnend. Es war die herrische, nicht mitteilbare Weisheit der Ewigkeit, die sich über die Nutzlosigkeit des Lebens und seine Mühen lustig machte. Es war die Wildnis, die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens.

Und doch gab es Leben in diesem Land, herausforderndes Leben. Eine Reihe wolfsähnlicher Hunde quälte sich den zugefrorenen Wasserlauf hinunter. Ihr struppiges Fell war von Raureif überzogen. Ihr Atem gefror in der Luft, sobald er ihre Mäuler verließ, und quoll in dichten Dampfwolken daraus hervor, die auf ihren Fellen niedersanken und sich in Frostkristalle verwandelten. Die Hunde trugen Ledergeschirre und lederne Riemen verbanden sie mit einem Schlitten, den sie hinter sich her schleiften. Der Schlitten hatte keine Kufen. Er war aus dicker Birkenrinde gefertigt und ruhte mit seiner gesamten Unterfläche auf dem Schnee. Das vordere Ende war schneckenförmig aufwärts gebogen, um den weichen Schnee, der sich wie eine Welle vor ihm auftürmte, niederzuzwingen und aus der Bahn zu schieben. Auf dem Schlitten war ein langer, schmaler, rechteckiger Kasten sorgfältig festgebunden. Außerdem befanden sich dort Decken, eine Axt, eine Kaffeekanne und eine Bratpfanne. Ins Auge aber fiel der lange, schmale, rechteckige Kasten, der den größten Raum einnahm.

Vor den Hunden ging mühsam ein Mann auf breiten Schneeschuhen. Hinter dem Schlitten kämpfte sich ein zweiter durch den Schnee. Auf dem Schlitten lag in dem Kasten ein dritter Mann, dessen Mühsal vorbei war – ein Mann, den die Wildnis besiegt und überwältigt hatte, bis er sich niemals wieder rührte oder regte. Die Wildnis mag keine Bewegung. Das Leben ist für sie Beleidigung, denn Leben bedeutet Bewegung, und die Wildnis ist immer bestrebt, Bewegung zu verhindern. Sie lässt das Wasser gefrieren, damit es nicht ins Meer fließen kann; sie treibt den Saft aus den Bäumen, bis sie bis in ihr mächtiges Mark erstarren; aber am grausamsten und schrecklichsten hetzt sie den Menschen und zwingt ihn, sich zu unterwerfen. Den Menschen, das ruheloseste aller Wesen, das in ständiger Auflehnung gegen den Grundsatz lebt, dass am Ende jede Bewegung zum Stillstand kommen muss.

Vor und hinter dem Schlitten schleppten sich dennoch unablässig und unerschrocken die beiden Männer voran, die noch nicht tot waren. Ihre Körper waren in dicke Pelze und weichgegerbtes Leder gehüllt. Ihre Wimpern, Wangen und Lippen waren so vollständig mit den Eiskristallen ihres gefrorenen Atems bedeckt, dass ihre Gesichter unkenntlich waren. Sie sahen aus wie gespenstische Masken, wie Leichenbestatter aus einer geisterhaften Welt beim Begräbnis eines Spukgestalt. Trotzdem waren es Menschen, die eindrangen in das Land der Trostlosigkeit, des Hohns und der Stille; erbärmliche Glücksritter, die auf ein gigantisches Abenteuer erpicht waren und die sich gegen die Macht einer Welt stellten, die so fern und fremd und leblos war wie die Abgründe im Weltraum.

Sie wanderten schweigend und sparten sich ihren Atem für die Anstrengung ihrer Körper. Rings um sie herrschte Stille, deren fühlbare Präsenz sie niederdrückte. Sie lastete auf ihren Seelen wie die gewaltigen Wassermassen auf einem Taucher am Meeresgrund. Sie warf sie nieder mit dem Gewicht unendlicher Weite und eines unabänderlichen Gebotes. Sie drängte sie zurück in die tiefsten Winkel ihrer Seele und presste – wie den Saft aus der Traube – allen unechten Überschwang, alle falsche Begeisterung, alle übertriebene Wertschätzung menschlicher Belange aus ihnen heraus, bis sie sich klein und endlich vorkamen wie Staubkörner, die ahnungslos und unwissend mitten im Kräftespiel der mächtigen, dunklen Elemente herumwirbelten.

Eine Stunde verging, dann eine zweite. Das fahle Licht des kurzen, sonnenlosen Tages begann soeben zu verblassen, als in der Stille ein schwacher Schrei aus der Ferne ertönte. Er schraubte sich rasch in die Höhe bis er seinen höchsten Ton erreichte, dort hielt er sich gespannt und zitternd und erstarb dann langsam. Es hätte der klagende Ruf einer verlorenen Seele sein können, doch ihm haftete eine bestimmte schwermütige Wildheit und eine hungrige Gier an. Der Vordermann wandte den Kopf zurück, bis seine Augen denen seines Gefährten begegneten. Dann nickten sie einander über den schmalen, länglichen Kasten zu.

Ein zweites Heulen erklang, wie eine spitze Nadel durchdrang es die Stille. Beide Männer wussten, woher es kam. Es ertönte hinter ihnen, irgendwo in der unendlichen Schneeweite, die sie gerade durchquert hatten. Ein dritter Ruf stieg empor, aus derselben Richtung und links neben dem zweiten.

»Sie sind hinter uns her, Bill«, sagte der Vordermann.

Seine Stimme klang heiser und unwirklich, es hatte ihn offenbar Mühe gekostet zu sprechen.

»Fleisch ist knapp«, entgegnete sein Gefährte. »Hab seit Tagen keine Kaninchenspur gesehen.«

Dann sagten sie nichts mehr, lauschten aber aufmerksam dem Jagdgeheul, das weiter hinter ihnen ertönte.

Bei Einbruch der Dunkelheit lenkten sie die Hunde in ein Tannenwäldchen am Rand des Wasserlaufs und schlugen ein Lager auf. Der Sarg neben dem Feuer diente als Sitz und Tisch. Die Wolfshunde drängten sich auf der anderen Seite des Feuers zusammen, knurrten und zankten sich, machten jedoch keinerlei Anstalten, sich in die Dunkelheit davonzustehlen.

»Mir scheint, sie bleiben heute merkwürdig dicht beim Lager, Henry«, meinte Bill.

Henry, der am Feuer kauerte und mit einem Klumpen Eis den Kaffeetopf aufstellte, nickte. Er antwortete nicht, bis er seinen Platz auf dem Sarg wieder eingenommen hatte und zu essen begann.

»Sie wissen, wo ihr Fell am sichersten ist«, sagte er. »Sie fressen lieber, bevor sie sich selbst fressen lassen. Sind ziemlich klug, diese Hunde.«

Bill schüttelte den Kopf. »Ach, ich weiß nicht.«

Sein Gefährte sah ihn verwundert an. »Das ist das erste Mal, dass ich dich sagen höre, sie seien nicht klug.«

»Henry«, entgegnete der andere und kaute dabei bedächtig Bohnen, »hast du gehört, was für einen Krawall die Hunde gemacht haben, als ich sie gefüttert hab?«

»Ja, heute waren sie lauter als sonst«, bestätigte Henry.

»Wie viele Hunde haben wir, Henry?«

»Sechs.«

»Hör mal, Henry …« Bill hielt einen Augenblick inne, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Wir haben sechs Hunde, wie du gesagt hast. Ich nahm sechs Fische aus dem Sack. Ich gab jedem Hund einen Fisch. Aber, Henry, ich hatte einen zu wenig.«

»Du hast dich verzählt.«

»Wir haben sechs Hunde«, wiederholte Bill ungerührt. »Ich hab sechs Fische rausgeholt. Einohr bekam aber keinen. Ich ging danach an den Sack und gab ihm seinen.«

»Wir haben nur sechs Hunde«, beharrte Henry.

»Henry«, fuhr Bill fort, »ich sag ja nicht, dass es alles Hunde waren, aber sieben haben Fisch bekommen.«

Henry unterbrach seine Mahlzeit, blickte über das Feuer und zählte die Hunde.

»Jetzt sind es jedenfalls sechs«, sagte er.

»Ich sah den andern über den Schnee weglaufen«, verkündete Bill mit kühler Bestimmtheit. »Es waren sieben.«

Henry blickte ihn mitleidig an. »Werde mächtig froh sein, wenn wir diese Tour hinter uns haben.«

»Wie meinstn das?«, fragte Bill.

»Ich mein, dass unsere Fracht dir an die Nerven geht und dass du anfängst, Gespenster zu sehen.«

»Das hab ich auch gedacht«, antwortete Bill ernsthaft.

»Deswegen hab ich den Schnee untersucht, als ich das Vieh weglaufen sah. Ich hab seine Spuren gesehen. Dann hab ich die Hunde gezählt und es warn sechs. Die Spuren sind noch im Schnee. Willst du sie sehen? Ich zeig sie dir.«

Henry erwiderte nichts, sondern kaute schweigend weiter, bis er den Rest seiner Mahlzeit mit einer Tasse Kaffee hinuntergespült hatte. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte:

»Du glaubst also, es war …«

Er wurde von einem langgezogenen, tieftraurigen Geheul unterbrochen, das irgendwo in der Dunkelheit ertönte. Er hielt inne, um zu lauschen, und beendete den Satz mit einer Handbewegung in Richtung des Geheuls, »… einer von denen?«

Bill nickte. »Ich würd lieber was anderes glauben, aber du hast ja selber gehört, wie sich die Hunde aufgeführt haben.«

Ein Geheul nach dem anderen, das...