dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Wikinger - Kampf um die Krone - Historischer Roman

James L. Nelson

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN 9783732522965 , 479 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

1. Kapitel


Nur der weitgereiste Mann versteht,
was die Menschen, die er trifft,
in ihrem Innersten bewegt.

Aus dem Havamal,
einer Sammlung von nordischen Weisheiten

Der Sturm tobte immer heftiger. Eiskalte Gischt wehte waagerecht heran, und graue Wellenberge stürzten auf das mühsam gegen den Seegang ankämpfende Langschiff herab.

Ornolf der Rastlose war sturzbetrunken.

Aufrecht stand er am Bug des Schiffes, seines Wikingerschiffs, das er den Roten Drachen nannte. Sein kräftiger Arm schlang sich um den schlanken hölzernen Steven, der in einem eleganten Bogen aufwärtsstrebte und fünfzehn Fuß über ihm in dem grinsenden und zähnefletschenden Haupt eines Drachen auslief. Der Drachenkopf sah Furcht erregend aus, aber nicht halb so Furcht erregend wie Ornolf der Rastlose in diesem Augenblick.

Sein Haar war rot und grau und klebte ihm an Kopf und Rücken, sein durchnässter und verfilzter Bart sah wie Seegras aus. Die ausgepolsterte Tunika, die er mit einem breiten Ledergürtel fest um den fülligen Leib geschnürt hatte, war mit Wasser vollgesogen. Mitten im Sturm hatte der Jarl beschlossen, den Gott Thor herauszufordern.

»Gott von Blitz und Donner, ja?«, brüllte er zur dichten Wolkendecke empor, die tief und düster über dem aufgewühlten Ozean hing. »Is’ das alles, was du draufhast? Da musst du schon ’ne Menge mehr aufbieten, wenn du Ornolf umbringen willst!«

Der Bug des Langschiffs wurde von einer Welle angehoben, als trüge Odins Hand selbst Ornolf in den Himmel empor. Er jauchzte vor Begeisterung. Dann schoss das Schiff wieder hinab, tiefer und tiefer in das Wellental hinein. Die Backbordseite tauchte ins Meer und schöpfte eine halbe Tonne Wasser in den Rumpf, das in einer Flutwelle mittschiffs schwappte und sich am Mast brach, an den Dutzenden von Seekisten, die an Deck vertäut waren, sowie an dreiundsechzig tropfnassen und elenden Kriegern, die das Unwetter nicht halb so sehr genossen wie Ornolf.

»Ha!«, brüllte Ornolf dem Himmel entgegen. »Das ist alles? Da kann ich mehr Wasser in Bewegung setzen!« Und um Thor zu beweisen, dass er das ernst meinte, ließ Ornolf den Hals seines Drachen los, zog sich die Hosen herunter und pisste teils über die Reling, teils auf das Deck, während er versuchte, auf dem wild schwankenden Bug sein Gleichgewicht zu halten.

Neunzig Fuß achtern stemmte sich Thorgrim Ulfsson steuerbords gegen die Ruderpinne und führte das flache Wikingerboot durch die aufgewühlte See. Er wandte den Kopf aus der Gischt und spuckte das Meerwasser aus, das ihm am Gesicht hinab in den Mund lief. Er konnte Ornolfs trunkenes Gebrüll kaum verstehen unter dem Heulen des Windes, doch was er hörte war genug, um sich zu wünschen, dass der alte Mann endlich Ruhe gab.

Er wird Unglück über uns alle bringen, nur um Thor zu beweisen, dass er nicht mal einen Gott fürchtet … Thorgrim selbst hing dem Kult des Odin an. Dennoch hielt er wenig davon, Thor auf diese Weise zu reizen.

Die meisten von Ornolfs Kriegern kauerten mittschiffs unter ihren Decken und Pelzen und ertrugen stumm Kälte und Nässe. Andere schöpften wie wild und kippten das Meerwasser eimerweise über die windabgewandte Reling, wenn sie es nicht sogar mit ihren Lederhelmen rausschaufelten. Das Schiff der Wikinger maß hundert Fuß, doch im Grunde war es nur ein offenes Boot. Die an den Längsseiten aufgehängten runden Holzschilde boten kaum Schutz vor dem Wind.

»Komm schon, Thor, du armseliger Taugenichts!«, schrie Ornolf. »Hast du keinen Blitz für mich? Ich fange ihn auf! Und zwar damit!« Er streckte den nackten Arsch gen Himmel, so weit er es eben vermochte. Was so weit nicht war: Ornolf hatte Mühe, seine Körpermitte zu beugen.

Die Männer an Deck tauschten Blicke. Sie schüttelten den Kopf und funkelten ihren Jarl mit unverhohlener Wut in den Augen an. Thorgrim war nicht der Einzige, der sich wünschte, dass Ornolf endlich Ruhe gab.

Thorgrims Sohn Harald Thorgrimsson behauptete seinen Platz unter den Männern. Er war fünfzehn, auch wenn sein Körperbau ihn älter wirken ließ, und was ihm an Klugheit fehlte, glich er durch Eifer und Stärke wieder aus. Er war kleiner als die Übrigen, doch fast ebenso breit. Natürlich trug er noch keinen Bart, aber davon abgesehen unterschied er sich kaum von den anderen Kriegern. Er benutzte seinen Eisenhelm als Eimer und schleuderte Wasser über Bord.

Das rot und weiß gestreifte Segel des Wikingerschiffs war fest an die Rah gebunden, die im Sturm vor und zurück schwang. Es war auf fünf Fuß gerefft, aber nicht komplett hochgezogen worden, damit das Schiff manövrierbar blieb. Überall um sie herum ragten die düsteren stahlgrauen Wogen in endloser Folge über dem Schiff auf, die Kämme von weißem Schaum gekrönt, sodass kaum etwas anderes zu sehen war als Berge von Wasser. Und im nächsten Augenblick ergriffen die Fluten das Boot und hoben es an, immer höher, bis man durch die tosende Gischt und die ausgefransten Wolken die grünen Küsten von Irland erspähen konnte, wenige Meilen entfernt auf der dem Wind zugewandten Seite.

Vorn prahlte Ornolf weiter, unbeeindruckt von den bösen Blicken, die ihm zuflogen wie der Sprühnebel über der aufgewühlten See. Nur ein kurzer Zug am Ruder, dachte Thorgrim, und ich könnte den Bug ins Meer tauchen lassen und Ornolf fortspülen wie eine lästige Fliege. Aber natürlich würde er nichts dergleichen tun. Er war Ornolfs Hirdman, ja der Herse seines Jarls. Ornolf war sein Schwiegervater.

»Harald!« Thorgrim rief seinen Sohn und wiederholte den Ruf lauter, um im Sturm gehört zu werden: »Harald!«

Harald blickte auf und blinzelte gegen das Sprühwasser an. Seine Wangen waren gerötet, und er grinste, doch Thorgrim nahm die Furcht hinter dem Lächeln wahr. Das beunruhigte ihn nicht. Harald war jung, und in diesem Alter hatte Thorgrim selbst Angst gehabt. Er erinnerte sich an das Gefühl wie an eine Frucht, die er einmal gekostet hatte – vor so langer Zeit, dass er den Geschmack fast vergessen hatte. Heute gab es nichts mehr, was Thorgrim fürchtete. Nichts in der diesseitigen Welt jedenfalls, in der Welt der Menschen und der Stürme.

»Komm nach hinten!«, rief er, und Harald legte seinen Helm beiseite und machte sich auf den Weg. Er zwängte sich zwischen den Männern hindurch und setzte über die Seekisten, so behände, wie es nur ein Fünfzehnjähriger konnte.

»Ja, Vater?«

»Dein Großvater hat sein Glück weit genug herausgefordert. Schnapp dir das Seil hier und binde ihn am Steven fest!«

Harald grinste bei dem Gedanken. Er war der Einzige an Bord, der das wagen durfte. Jeden anderen Mann hätte Ornolf schon bei dem Versuch ins Meer geworfen, aber seinem geliebten Enkelsohn würde er niemals etwas antun.

Harald hob das Seil aus geflochtener Walrosshaut auf und sprang so leichtfüßig nach vorn, als liefe er auf einem festen Weg, daheim auf ihrem Hof in Ost-Agder, und nicht auf dem schlüpfrigen und teilweise überfluteten Deck eines heftig schlingernden Schiffes.

Thorgrim sah ihm zu, bewunderte sein Geschick und erinnerte sich an eine Zeit, als er sich selbst noch so bewegt hatte. Thorgrim war achtunddreißig. Zweieinhalb Jahrzehnte voller Kämpfe und Saufgelage, harter Arbeit und entbehrungsreichen Seefahrten hatten ihre Spuren hinterlassen. Mitunter fragte er sich, wie Ornolf, der noch sechzehn Jahre älter war als er, so weitermachen konnte. Aber Ornolfs Stehvermögen war legendär.

Am Bug zwängte Harald sich an dem schwankenden Jarl vorüber und warf das Seil um den hoch aufragenden Vordersteven. Thorgrim sah, wie die Münder der beiden sich bewegten, wie Arme wild gestikulierten, doch was gesagt wurde, war nicht zu verstehen. Dann schlang Harald das Seil um Ornolfs Mitte und zurrte es fest, ohne dass der Alte sich widersetzte.

Harald wusste, wie er seinen Großvater anpacken musste. Großvater und Enkelsohn waren einander sehr ähnlich, und Thorgrim fragte sich mitunter, ob das so eine gute Sache war.

Jetzt bewegte Harald sich wieder nach hinten und kam entschlossen auf seinen Vater zu. Thorgrim konnte nur gelegentlich in seine Richtung blicken, er hatte alle Hände voll zu tun, das Schiff im Seegang auf Kurs zu halten und dafür zu sorgen, dass es nicht mit seiner Breitseite vor die Wellen geriet. Er trug einen Mantel aus Bärenfell über der Tunika, und eine Zeit lang hatte dieses Kleidungsstück ihn warm und trocken gehalten. Nun allerdings war es durchnässt und so schwer wie ein Kettenhemd. Thorgrim taten die Arme weh vom ständigen Zerren an der Ruderpinne. Inzwischen hatte er jedoch ein Gespür für das Schiff entwickelt und wagte es nicht, das Steuer abzugeben. Keiner an Bord konnte es in diesen Dingen mit seinem Geschick und seiner Erfahrung aufnehmen!

»Vater!«, rief Harald ihm aus wenigen Fuß Entfernung zu.

»Was?«

»Großvater sagt, er hat ein Schiff gesehen. Dort draußen!« Harald wies leewärts, wo im Augenblick nichts als eine Wand aus Wasser stand, die mit dem Wind von ihnen fortrollte.

»Tatsächlich?«

»Er meint, wir sollen mal nachschauen, was die so treiben!«

Thorgrim nickte. Beute. Das war für jeden an Bord das Wichtigste, und bloße Unannehmlichkeiten – beispielsweise ein Sturm, der sie alle umzubringen drohte – reichten nicht aus, um ihren Appetit zu zügeln.

Es war nun einen Monat her, dass sie Vik in Norwegen verlassen hatten. Danach hatten sie ein Dorf an der Nordostküste Englands überfallen, was wenig eingebracht hatte, und später nach kurzem Kampf noch ein dänisches Handelsschiff gekapert. Wie sich herausstellte, war der Däne gerammelt voll mit wertvollen Handelsgütern – Pelze und Axtblätter aus Eisen, Bernstein,...