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Die Inselfrauen - Roman

Sylvia Lott

 

Verlag Blanvalet, 2016

ISBN 9783641188221 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

1

Ein heiseres, tiefes Tuten ließ Nina zusammenfahren. Die Fähre hatte abgelegt, jetzt gab es kein Zurück mehr – sie befand sich auf dem Weg nach Borkum. Über vierzig Jahre hatte sie die Insel gemieden. Das sollte ja wohl reichen. In sentimentalen Erinnerungen würde sie jedenfalls nicht schwelgen. Nina freute sich einfach nur auf die Ruhe, die sie erwartete. Das war alles, was sie suchte.

Während der Reha war sie von einer unbändigen Sehnsucht nach Abgeschiedenheit und kraftvollen Naturgeräuschen überfallen worden. Sie wollte Wellenschlag und Sturmgebraus, die Möwen schreien hören, tief durchatmen, sich am Ozon berauschen, Salzwasser, Seetang und Dünenrosen riechen – ach, die wilden Rosen, die so intensiv dufteten …

Natürlich freute sie sich auch auf ein Wiedersehen mit Tant’ Theda. Und mit ihrer Nichte Rosalie, der Tochter ihres Bruders, die eigentlich in Hamburg studierte, aber zurzeit in der Pension Bi Theda aushalf und gleichzeitig Stoff für ihre Examensarbeit sammelte. Ihr Thema, das hatte sie Nina während ihres letzten Telefonats berichtet, lautete Die Frauen von Borkum. Ein Vergleich von Lebenssituationen im Laufe der Jahrhunderte an ausgewählten Beispielen.

Dass ihre Nichte diesen Sommer auf Borkum verbrachte, hatte den Ausschlag für Ninas Entscheidung gegeben, ein paar Wochen auf der Insel zu verbringen. Es dauerte ohnehin noch eine Weile, bis sie wieder arbeiten durfte. Man hatte ihr in dem Kölner Funkhaus, für das sie viele Jahre als Auslandskorrespondentin tätig gewesen war, eine Stelle als Redakteurin im Innendienst angeboten, worüber sie sehr froh war. Das ständige Reisen vom Standort New York aus hatte sie geliebt, aber die Gesundheit ging nun mal vor.

Ja, sie hatte ein aufregendes Berufsleben gehabt, nur leider immer viel zu wenig Zeit für Rosalie, ihr Herzblatt. Schon als Kind war ihre Nichte besonders liebenswert und empfindsam gewesen. Nina lächelte leise vor sich hin. Die Kleine hatte unter nervösen Magenbeschwerden gelitten, bis Nina ihr ein angebliches Zaubermittel geschenkt hatte – Pfefferminzkaugummi, das dann auch augenblicklich geholfen hatte! Seitdem glaubte Rosalie, dass ihre Tante eine Lösung für jedes Problem fand. Bis heute.

Nina seufzte. Schön wär’s!

Es nieselte und war zu kühl, um die zweieinhalb Stunden Schiffsfahrt von Emden Außenhafen bis Borkum, der westlichsten und größten der Ostfriesischen Inseln, oben auf dem Deck zu verbringen. Nina hatte ganz vergessen, dass es an der Nordsee im Sommer manchmal genauso kalt wie im Winter sein konnte, zehn Grad kam schon mal vor. Sie saß allein auf einer gepolsterten Eckbank ganz hinten im Fahrgastsalon und schaute aus dem großen Fenster. Es war an den Ecken abgerundet und wirkte wie ein Bilderrahmen im Museum. Hatte Mark Rothko eigentlich auch Farbflächen nur in Grautönen kombiniert? Zwei Drittel ihres Ausblicks füllte ein Steingrau mit ein paar durchhängenden dunklen Wolken aus. Eine schmaler grüngrauer Streifen war alles, was man von dem entfernten Deich mit seinem Gebüsch sah, und im unteren Drittel bewegte sich ein schlammiges Waschwassergrau mit dunklen, kabbeligen Schatten. Das hatte wenig Ähnlichkeit mit der Sommer-Sonne-Strand-Idylle, auf die Nina hoffte.

Es roch nach Putzmitteln und Kaffee. Der Dieselmotor dröhnte, und Nina spürte, wie sich das Vibrieren unter ihrem Gesäß auf ihren Körper übertrug. Hunde bellten, ein Kleinkind blies zur Freude seiner stolzen Eltern unermüdlich in eine Tröte. Zum Glück war die Fähre nicht überfüllt wie an den Wochenenden, wenn Bettenwechsel war.

Draußen zog mal eine Boje, mal ein Seezeichen vorüber. Nach einer Weile tauchten am westlichen Emsufer, wo der Grenzfluss in die Nordsee mündete, Windräder und Industrieanlagen auf, die Nina nicht kannte. Hässliche große Kästen wie aus einer düsteren Zukunft.

»Das ist Eemshaven!«, erklärte der Mann am Nebentisch seinem Sohn. »Den Hafen bauen die Holländer erst seit ein paar Jahren aus.«

Nina zweifelte plötzlich, ob ihre Idee wirklich so gut gewesen war. Vielleicht jagte sie einer Illusion hinterher. Wie mochte sich die Insel verändert haben? Na ja, jetzt war es sowieso zu spät umzuplanen.

Nina streckte sich wie viele andere Fahrgäste auch der Länge nach auf ihrer Sitzbank aus, legte ihre aufgerollte Windjacke unter den Kopf und überließ sich schläfrigen Gedanken. Ob Tant’ Theda noch immer so leckere Teekekse backte? Die musste man unbedingt in den malzigen Ostfriesentee tunken, auch wenn es gegen sämtliche Tischmanieren verstieß. Mhhh …

Nina schreckte auf, als durch den Lautsprecher eine asiatisch gefärbte Stimme kreischte. »Achtunddreißig!« Ein Passagier holte sich mit seinem Zahlenbon heiße Würstchen und Kartoffelsalat vom Buffet. Nina musste kurz auflachen. Ihre Mutter hatte früher zu Beginn der Sommerferien, wenn die ganze Familie von Oldenburg aus auf die Insel reiste, stets verkündet: »Die Erholung fängt schon auf der Fähre an.«

Wieder schmetterte die Stimme aus dem Lautsprecher. »Dreiundvierzig!« Diesmal gab’s eine Dampfnudel mit Pflaumenmus. Sicher tiefgefroren und in der Mikrowelle erhitzt. Ach, wie köstlich hatte doch früher der selbst gemachte Mehlpütt von Tant’ Theda geschmeckt, im Leinentuch über Wasserdampf gegart, dazu gab’s gekochte Birnen und warme Vanillesoße!

Das gleichmäßige Vibrieren des Schiffes machte Nina bald wieder schläfrig. Sie glitt in einen angenehmen Dämmerzustand. Seit der Reha entwickelte sie wilde Fantasien von Backorgien. Völlig untypisch für sie, die sie doch immer der intellektuelle Typ gewesen war. Schließlich gehörte sie noch zu jener Generation, die sich vom »Heimchen am Herd«-Rollenbild emanzipieren musste. Ihr Leben lang hatte sie sich strikt geweigert, eine gute Köchin zu werden, und nun stellte sie sich schon seit Wochen mit allergrößtem Vergnügen vor, wie sie mit ihren Händen einen Teig für Rosinenstuten kneten und ziehen und klopfen würde. Nina träumte von Buchweizenpfannkuchen mit Zuckerrübensirup, wahlweise mit knusprigem Speck oder selbst gemachtem Apfelmus, von dicker Fliederbeersuppe mit Grießbreiklößchen oder von Rhabarberkuchen mit Eischnee. Vor dem Einschlafen überlegte sie sich Füllungen für Windbeutel, oder sie rief sich den Duft von Anis und Kardamom ins Gedächtnis, der aus dem zischenden Waffeleisen emporstieg, wenn man knusprige dünne Waweltjes zubereitete. Sie visualisierte, wie sie mit leichter Hand Mandelscheibchen über einen im Backofen vor sich hin brutzelnden Butterkuchen warf. Und jetzt gerade, während die Geräuschkulisse durch einen von Tisch zu Tisch klirrenden Geschirrabräumwagen bereichert wurde, konnte Nina förmlich den luftig leichten Biskuitteig unter ihren Fingerspitzen spüren, den sie, bestrichen mit einer Schmand-Creme und zerkleinerten Orangenfilets, zu einer perfekten Rolle drehte.

Bislang hatte Nina vom Backen nur fantasiert. An die praktische Umsetzung traute sie sich nicht heran. Den Bürgermeister von New York interviewen – kein Problem! Über eine Kunstausstellung im Guggenheim Museum schreiben – eine ihrer leichtesten Übungen. Aber backen? Bestimmt würde sie sich zuerst die Finger verbrennen und dann die Küche abfackeln. Woher kamen bloß diese seltsamen Gelüste? Erst im Halbschlaf auf der Fähre wurde Nina klar, dass sie seit Wochen von Leckereien träumte, die sie damals bei Tant’ Theda kennengelernt hatte. Bei der Zubereitung des Rosinenstutens war sie ihr häufig zur Hand gegangen. Wie seltsam, dachte sie, was doch alles in den tieferen Schichten unseres Bewusstseins schlummert. Nur … warum kam es ausgerechnet jetzt hoch?

Hing diese Wesensveränderung mit dem Älterwerden zusammen oder mit der Krankheit? Man hatte ja hier und da schon von Menschen gehört, die nach einem Unfall plötzlich in fremden Zungen sprachen. Ein Kollege des Neurologen Oliver Sacks hatte nach Drogenexperimenten drei Wochen lang die Welt angeblich fünfhundertmal intensiver als ein Durchschnittsmensch durch die Nase wahrgenommen. Ein anderer Mann, der sich zuvor am liebsten von Fast Food ernährt hatte, entwickelte nach einer Hirnverletzung so etwas wie den absoluten Geschmack – er vermochte auf einmal jede Zutat eines Gourmet-Menüs zu identifizieren.

»Sechsundsechzig!«, schrillte die Stimme.

Nina setzte sich wieder auf, noch benommen, doch schon ein wenig gestärkt. Sie blickte aus dem Fenster – der Himmel klarte auf. Irre, zwischen den aufgerissenen Regenwolken leuchtete ein strahlendes Blau! Nina sah auf ihre Uhr, noch gut eine halbe Stunde bis zum Borkumer Hafen. Sie zog ihre Jacke an, stieg die breite Treppe aus dem Schiffsbauch nach oben und ging nach draußen. Endlich fuhren sie auf dem offenen Meer. Einige Sonnenanbeter besetzten schon die besten Plätze auf den weißen Plastikbänken. Damals hatten die Fähren noch braune Holzbänke und -planken gehabt. Sie waren auch kleiner gewesen, es hatte kein Autodeck gegeben. Was für ein Riesenaufwand war es immer gewesen, wenn der Opel Kapitän, Borgward oder Mercedes eines reichen Urlaubers mit einem Kran an und von Bord hatte gehievt werden müssen! Nina und ihr jüngerer Bruder Michael hatten beim Schwenk durch die Lüfte jedes Mal fasziniert und gleichzeitig besorgt zugeschaut.

Versonnen stand sie an der Reling. Ach, wie herrlich, diese Weite und die frische Seeluft! Nina atmete tief in ihre Lunge hinein. Der Wind zerzauste ihr brünettes Haar.

Sie fand einen geschützten Platz ein Deck tiefer an Backbord. Gleich war es viel wärmer. Wie flüssiges Silber tanzten Sonnenreflexe auf dem nun tiefblauen Wasser. Nina blinzelte, um das Flimmern und Schimmern auch ohne Sonnenbrille in sich aufnehmen zu können. Ja, das war’s doch! Wie...