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Die Gejagten - Ein Jack-Reacher-Roman

Lee Child

 

Verlag Blanvalet, 2016

ISBN 9783641187101 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Irgendwann wurde Reacher in ein Auto gesetzt und eine Meile weit in ein Motel gefahren, in dem der Nachtportier ihm ein Zimmer gab, dessen Einrichtung genau Reachers Vorstellungen entsprach, weil er schon tausendmal in solchen Zimmern übernachtet hatte. Hier gab es eine laut knackende Zentralheizung, deren Geräusche einen nachts nicht schlafen ließen, die aber dem Besitzer helfen würde, bei der Stromrechnung zu sparen. Denselben Zweck erfüllten die schwachen Glühbirnen in allen Lampen. Der Teppichboden war absichtlich nicht hochflorig, damit er nach einer Reinigung binnen weniger Stunden trocknete, sodass das Zimmer noch am selben Tag wieder vermietet werden konnte. Nicht dass der Teppich allzu oft gereinigt werden würde. Er war dunkel, stark gemustert und ideal dafür geeignet, Flecken zu tarnen. Das galt auch für die Tagesdecke auf dem Bett. Bestimmt würde das Duschwasser spärlich und nicht sehr heiß sein, die Handtücher dünn, die Seife klein und das Shampoo billig. Die Möbel bestanden aus Spanplatten, waren dunkel und abgestoßen, der Fernseher war klein und alt, die Vorhänge starrten vor Schmutz und Staub.

Alles wie erwartet. Nichts, was er nicht schon tausendmal erlebt hatte.

Aber trotzdem trübselig.

Daher machte er kehrt, bevor er auch nur den Schlüssel eingesteckt hatte, und ging wieder hinaus auf den Parkplatz. Die Luft war kalt und leicht feucht. Mitten an einem Abend, mitten im Winter in der Nordostecke von Virginia. Der träg dahinfließende Potomac River war nicht allzu weit entfernt. Im Osten jenseits des Flusses erhellte der Widerschein von Washington, D.C., den wolkenverhangenen Himmel. Die Hauptstadt Amerikas, in der alle möglichen Dinge passierten.

Der Wagen, der ihn hergebracht hatte, fuhr bereits wieder davon. Reacher beobachtete, wie seine Heckleuchten im Nebel schwächer wurden. Im nächsten Augenblick verschwanden sie ganz, und die Welt wurde ruhig und still. Aber nur eine Minute lang. Dann tauchte ein weiteres Auto in flottem Tempo auf, als würde der Fahrer sein Ziel genau kennen. Der Wagen bog auf den Parkplatz ab. Eine schlichte dunkle Limousine, sehr wahrscheinlich ein staatlicher Dienstwagen. Sein Ziel schien die Rezeption des Motels zu sein, aber als die Scheinwerfer Reachers unbewegliche Gestalt erfassten, änderte er seine Richtung und kam geradewegs auf ihn zu.

Besucher. Zweck unbekannt, aber die Nachrichten würden gut oder schlecht sein.

Der Wagen hielt parallel zu dem Gebäude so weit von Reacher entfernt, wie er die Tür seines Motelzimmers hinter sich hatte, sodass er in einem Raum, der ungefähr der Größe eines Boxrings entsprach, allein stand. Aus dem Auto stiegen zwei Männer. Trotz des kalten Wetters trugen sie nur T-Shirts, eng und weiß, und dazu Thermohosen, wie sie Läufer anhatten, um sie erst unmittelbar vor dem Rennen auszuziehen. Beide schienen ungefähr einen Meter achtzig groß und neunzig Kilo schwer zu sein. Kleiner als Reacher, aber nicht allzu viel. Beide waren Soldaten, das konnte man auf den ersten Blick erkennen. Das verriet Reacher ihr Haarschnitt. Kein ziviler Friseur wäre so brutal pragmatisch vorgegangen. Das hätte der Markt nicht zugelassen.

Der Kerl von der Beifahrerseite kam vorn um die Motorhaube herum und gesellte sich zu dem Fahrer. Die beiden standen nun nebeneinander. Beide trugen Sneakers, groß, weiß und formlos. Keiner von ihnen war in letzter Zeit im Nahen Osten im Einsatz gewesen. Kein Sonnenbrand, keine weißen Fältchen um die Augen, kein Stress und keine Anstrengung in ihrem Blick. Beide waren jung, noch keine dreißig Jahre alt. Reacher hätte theoretisch ihr Vater sein können. Er hielt die beiden für Unteroffiziere. Vermutlich waren sie Specialists, keine Sergeanten. Sie sahen nicht wie Sergeanten aus. Nicht clever genug. Sie hatten im Gegenteil ausdruckslose, leere Gesichter.

Der Typ von der Beifahrerseite fragte: »Sind Sie Jack Reacher?«

Reacher fragte: »Wer will das wissen?«

»Wir.«

»Und wer sind Sie?«

»Wir sind Ihre Rechtsbeistände.«

Was sie natürlich nicht waren. Das wusste Reacher genau. Militärjuristen traten nicht paarweise und vor allem nicht in solchen Klamotten auf. Diese Kerle waren etwas anderes. Also schlechte Nachrichten, keine guten. In diesem Fall war sofortiges Handeln ratsam. Es war einfach genug, plötzliches Verstehen zu heucheln, bereitwillig auf sie zuzugehen und die Hand wie zur Begrüßung auszustrecken; einfach genug, die eifrige Annäherung in unaufhaltsamen Schwung zu verwandeln und mit der erhobenen Hand einen sichelförmigen Schlag zu führen, um dem linken Kerl den Ellbogen ins Gesicht zu rammen, wonach man kraftvoll mit dem rechten Fuß aufstampfte, als wäre es der einzige Zweck dieser verrückten Übung gewesen, eine Kakerlake zu zertreten, worauf der Rückstoß des Aufstampfens denselben Ellbogen unters Kinn des zweiten Kerls treiben würde: eins, zwo, drei, zuschlagen, aufstampfen, zuschlagen, fertig.

Wirklich ganz einfach. Und immer die sicherste Taktik. Reachers Mantra lautete: Bring deinen Vergeltungsschlag als Erster an. Vor allem wenn man allein zwei Kerlen gegenüberstand, die Jugend und Energie auf ihrer Seite hatten.

Aber er war sich seiner Sache nicht ganz sicher. Nicht hundertprozentig. Noch nicht. Und er durfte sich keinen derartigen Fehler erlauben. Nicht jetzt. Nicht unter den gegenwärtigen Umständen. Er fühlte sich gehemmt. Er ließ den Augenblick verstreichen.

Er sagte: »Wie lautet Ihr juristischer Rat?«

»Ungebührliches Benehmen«, antwortete der Mann. »Sie haben die Einheit in Verruf gebracht. Ein Kriegsgerichtsverfahren würde uns allen schaden. Also sollten Sie sofort aus der Stadt verschwinden. Und Sie sollten nie mehr zurückkommen.«

»Von einem Kriegsgericht hat niemand was gesagt.«

»Noch nicht. Aber das kommt noch. Es wäre dämlich, hier darauf zu warten.«

»Ich stehe unter Befehl.«

»Früher konnte keiner Sie finden. Auch jetzt findet Sie niemand. Die Army setzt keine Detektive ein, um nach Deserteuren zu fahnden. Außerdem könnten auch die Sie nicht aufspüren. Nicht bei Ihrer Lebensweise.«

Reacher schwieg.

Der Kerl sagte: »Das ist unser juristischer Rat.«

Reacher sagte: »Zur Kenntnis genommen.«

»Sie müssen schon mehr tun, als ihn nur zur Kenntnis zu nehmen.«

»Muss ich das?«

»Weil wir Ihnen einen Anreiz bieten.«

»Welcher Art?«

»An jedem Abend, an dem wir Sie noch hier antreffen, treten wir Sie in den Hintern.«

»Tatsächlich?«

»Beginnend mit dem heutigen Abend. Damit Ihnen klar wird, was für Sie das Beste ist.«

Reacher fragte: »Haben Sie schon mal ein Elektrogerät gekauft?«

»Was hat das mit irgendwas zu tun?«

»Ich hab mal eines in einem Laden gesehen. Mit einem gelben Etikett auf der Hinterseite. Darauf stand, dass man schwere oder tödliche Verletzungen riskiert, wenn man sich daran zu schaffen macht.«

»Und?«

»Stellt euch vor, ich trüge das gleiche Etikett.«

»Sie machen uns keine Sorgen, Alter.«

Alter. Ohne bestimmten Grund hatte Reacher plötzlich seinen Vater vor Augen. An irgendeinem sonnigen Ort, vielleicht auf Okinawa. Stan Reacher, geboren in Laconia, New Hampshire, als Hauptmann des U.S. Marine Corps in Japan stationiert, wo er mit seiner Frau und zwei jugendlichen Söhnen lebte. Reacher und sein Bruder hatten ihn der Alte genannt, und er war ihnen alt erschienen, obwohl er damals zehn Jahre jünger gewesen sein musste, als Reacher jetzt war.

»Verschwindet«, sagte Reacher. »Fahrt zurück, woher ihr gekommen seid. Was ihr vorhabt, kann nur schiefgehen.«

»So sehen wir’s nicht.«

»Dies war früher mein Beruf«, sagte Reacher. »Aber das wisst ihr, nicht wahr?«

Keine Reaktion.

»Ich kenne alle Tricks«, fuhr Reacher fort. »Ein paar davon hab ich selbst erfunden.«

Keine Antwort.

Reacher hielt noch immer seinen Zimmerschlüssel in der Hand. Faustregel: Greife keinen Kerl an, der gerade aus einem verschließbaren Raum kommt. Ein Schlüsselbund ist besser, aber auch ein einzelner Schlüssel ist eine ziemlich gute Waffe. Behält man den Griff in der Handfläche und lässt den Bart etwas zwischen Zeige- und Mittelfinger herausragen, hat man einen ziemlich brauchbaren Schlagring.

Aber diese beiden waren nur dumme Kerle. Unnötig, sie zu entstellen. Unnötig, sie mit Fleischwunden und gebrochenen Knochen liegen zu lassen.

Reacher steckte seinen Schlüssel ein.

Ihre Sneakers zeigten, dass sie nicht vorhatten, ihn zu treten. Niemand tritt jemanden mit weichen weißen Sportschuhen. Das hat nicht viel Zweck. Außer man will nur zutreten, um in die Punktewertung zu kommen. Wie diese Fetischisten, die eine der Kampfsportarten ausüben, deren Namen von einer chinesischen Speisekarte stammen könnten. Taekwondo und so weiter. Vielleicht bei Olympischen Spielen brauchbar, aber auf der Straße wertlos. Wer sein Bein wie ein Hund an einem Hydranten hebt, fordert eine Niederlage geradezu heraus. Er darf sich nicht wundern, wenn er umgeworfen und bewusstlos getreten wird.

Wussten diese Kerle das überhaupt? Hatten sie schon einen Blick auf sein Schuhwerk geworfen? Reacher trug schwere Lederstiefel. Haltbar und bequem. Er hatte sie in South Dakota gekauft und wollte sie den ganzen Winter lang tragen.

Er sagte: »Ich gehe wieder rein.«

Keine Antwort.

Er sagte: »Gute Nacht.«

Keine Reaktion.

Reacher wandte sich halb ab, machte einen Schritt auf seine Tür zu und beschrieb...