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Mord in Schönbrunn - Ein Wien-Krimi

Beate Maxian

 

Verlag Goldmann, 2016

ISBN 9783641182519 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

1

SCHNEEWITTCHEN

Sie lief.

Drei Mal die Woche. Immer derselbe Weg. Valentina Macek war so etwas wie ein Gewohnheitstier. Sie begann mit ihrer Joggingrunde jeden Morgen um halb sieben. Sobald die Tore zum Schlosspark Schönbrunn geöffnet wurden, passierte sie das Meidlinger Tor. Um diese Uhrzeit begegnete ihr in dem weitläufigen Areal kaum jemand. Sie genoss die Stimmung in der Frühe: kühle Luft, friedliches Vogelgezwitscher und der Duft eines noch unverbrauchten Tages. Inzwischen war der Frühling in Wien erwacht. Frühjahrsblüher schossen aus der Erde, Bäume schlugen aus, und Menschen, die darauf allergisch waren, liefen mit knallroten Augen und triefender Nase herum. Zwei Wochen zuvor hatte es in Österreich vielerorts noch geschneit, und heute kletterten die Temperaturen im Laufe des Tages bereits auf sommerliche 28 Grad – das jedenfalls hatte der Wetterbericht im Radio prophezeit.

Als sie am Ende der Lichte Allee ins Große Parterre einbog, schickte ihr Gehirn die Botschaft, dass an dem Bild der Parkanlage etwas nicht stimmte. Komisch, dachte sie noch im Laufen. Unvermittelt fiel ihr die Märchenszene mit Schneewittchen im gläsernen Sarg dazu ein. Eine Figur oder Puppe – so genau konnte sie das nicht erkennen – lag wie aufgebahrt auf einem Tisch mitten auf dem breiten Weg zwischen den Rasenflächen. Vom Schloss aus gesehen die dritte Reihe der Parterrefelder. Brennende Grablichter umrahmten das seltsame Setting. Eine Kunstinstallation? Oder wurde hier gerade eine Filmszene gedreht? Allerdings fehlten die Crew und die Kameras. Hier war überhaupt weit und breit kein Mensch zu sehen, weder weiter vorne beim Neptunbrunnen noch sonst irgendwo.

Deshalb blieb Valentina Macek stehen und schärfte ihren Blick. Neugierde machte sich in ihr breit. Valentina stand zu dieser kleinen Schwäche: neugierig zu sein. Sie machte das Leben spannender. Valentina gab sich einen Ruck und ging auf die Szene zu. Eine Frau lag dort. Sie trug ein langes weißes Spitzenkleid, das seitlich über den Tisch drapiert worden war. Sie hielt die Hände über der Brust gefaltet, und ihre Augen waren geschlossen. Kleine zartrosa Rosen zierten das zu einer eleganten Frisur hochgesteckte brünette Haar, und ihre Lippen waren rot geschminkt. Eine schlafende Braut, dachte Valentina. Doch war das wirklich eine Kunstinstallation? Valentina zwang sich, ihr ins Gesicht zu sehen, und erkannte auf der Stelle, dass diese Frau tot war. Augenblicklich spannten sich Valentinas Muskeln an, und reflexartig wollte sie davonlaufen. Doch ihr Geist sträubte sich dagegen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte die aufgebahrte Frau an.

Unter dem weißen Kleid lugten zarte Arme hervor, die Handgelenke so schmal wie die eines Kindes. Ihre blasse Haut war durchscheinend wie Seidenpapier, unter dem sich die Knochen deutlich abzeichneten. Ein Wesen wie aus der Feder der Brüder Grimm, wären da noch Haare schwarz wie Ebenholz gewesen. Schneewittchen. Die Haut so weiß wie Schnee, die Lippen so rot wie Blut …

Valentina traute sich nicht, näher an den Tisch heranzugehen oder die Tote gar zu berühren, aus Angst, sie zu zerbrechen. Die Frau war tot, und irgendjemand hatte sie sorgsam hier aufgebahrt. Valentina war sich plötzlich sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Ihr fiel nur partout nicht ein, wann und wo das war.

Sie griff nach dem Handy in ihrer Bauchtasche und rief die Polizei an.

Während sie wartete, tauchten immer mehr joggende und walkende Menschen auf, blieben neugierig stehen und fragten sie, was geschehen sei. Was Valentina ihnen selbstverständlich nicht beantworten konnte.

Ob sie Ruth anrufen sollte, um ihr Bescheid zu geben, dass sie erst später ins Büro kommen würde? Da sah sie die Polizei kommen. Die Gruppe aus Schaulustigen um Valentina und den Tisch herum löste sich langsam auf und bildete stattdessen ein Spalier, das den Polizisten den Weg bis zu der Toten säumte.

Einer der Älteren in Uniform fragte in die Menge, wer angerufen habe. Valentina meldete sich. Der Uniformierte notierte ihren Namen, die Anschrift und Telefonnummer, obwohl sie das schon alles am Telefon angegeben hatte. Dann beantwortete sie ein paar Fragen und versprach zu warten, bis die Ermittler der Kriminalabteilung eintrafen. Der Rest der Umstehenden wurde aufgefordert weiterzugehen. Nur widerwillig setzten die Leute sich in Bewegung, doch die nun gezogenen Absperrbänder drängten sie immer weiter vom Geschehen weg. Das geschäftige Treiben erinnerte Valentina an einen Bienenschwarm. Es war nicht erkennbar, wer wofür zuständig war, doch schien die chaotisch anmutende Vorgehensweise einer Logik zu folgen und äußerst produktiv zu sein. Denn innerhalb kürzester Zeit war der gesamte Fundort abgesperrt. »Fundort« – das klang, als hätte sie ein verloren gegangenes Schmuckstück wiedergefunden.

Bald darauf traf ein Schwarm neuer Bienen ein. Sie trugen weiße Overalls, packten verschiedenste Instrumente aus, fotografierten, prüften, vermaßen. So etwas kannte Valentina nur aus dem Fernsehen. Sie vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, als ein recht massiv wirkender Mann in ihrem Blickfeld erschien.

»Martin Stein, ich bin der Chefinspektor. Würden Sie mir bitte noch einmal erzählen, was passiert ist?«, fragte er, und es war keine Frage, sondern eine Anweisung.

Valentina schilderte zum wiederholten Mal die Ereignisse des frühen Morgens und suchte in den Augen des Inspektors nach einer Reaktion. Doch der stechende Blick des Ermittlers verriet keinen seiner Gedanken. Unbewegt sah er sie an, während sie sprach. Nein, sie habe die Tote nicht näher gekannt, und ja, sie jogge immer um diese Uhrzeit. Sie sei nämlich Frühaufsteherin und beginne bereits um halb neun zu arbeiten.

»Zuerst dachte ich, dass hier gerade ein Film gedreht wurde. Oder dass es eine Kunstinstallation ist. Jedenfalls hab ich erst begriffen, dass sie tot ist, als ich näher an sie herangegangen bin.«

Valentina senkte den Kopf. Ihre Finger verkrampften sich ineinander, ihre Knöchel traten weiß hervor. Sie sah wieder auf.

»Und dann habe ich die Polizei angerufen.«

Die Antwort auf die Frage nach ihrem Beruf entlockte dem Mann ein spöttisches Lächeln, und er wiederholte das Wort »Hochzeitsplanerin«, als habe Valentina es soeben erst erfunden.

»Ja. Seit es im Fernsehen diese Hochzeitssendungen gibt, ist’s halt immer mehr angesagt, sich Hochzeitsplaner zu leisten«, fügte Valentina fast entschuldigend hinzu. Sie strich sich über ihre ebenfalls brünetten langen Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Der Ermittler musterte sie. In dem Moment schien ihm etwas einzufallen, denn sein Blick durchdrang sie wie ein Röntgenstrahl: »Die Tote trägt ein Brautkleid.«

Valentina schluckte. »Das bedeutet aber noch nicht, dass ich sie kennen muss!« Sie klang erschrockener als sie wollte.

Doch der Ermittler zeigte sich nicht weiter beeindruckt. »Kennen Sie die Frau?«

»Ich … weiß es nicht. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor.« Sie hob unsicher die Hände.

»Woher könnten Sie sie kennen?«

»Ich weiß es einfach nicht … Kann auch sein, dass ich mich täusche.«

»Haben Sie ein gutes Personengedächtnis?«

»Ja. Normalerweise schon.«

Was waren das für eigenartige Fragen? Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann gar nicht klar denken. Eine Leiche zu finden ist der blanke Horror, da kommt einem ja alles Mögliche in den Sinn.«

»Was?«

»Wie, was?«

»Was kam Ihnen in den Sinn?«

Valentina schüttelte erneut den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich hab mich gefragt, warum ausgerechnet mir das passieren muss.«

Der Polizist machte sich Notizen.

»Haben Sie sonst irgendjemanden gesehen?«

Valentina schüttelte den Kopf. »Nein. Niemanden.«

»Laufen Sie öfter hier?«

»Nein. Ja.«

»Also was jetzt?«

»Ja … Ja, ich laufe drei Mal die Woche hier, immer dieselbe Route.«

Er schien nachzudenken.

»Vielleicht war’s eben kein Zufall, dass ausgerechnet Sie die Tote gefunden haben.«

Wollte der Kerl sie provozieren?

»Der blanke Horror«, wiederholte sie.

Wenn sie geahnt hätte, dass ihr heute so etwas passiert, wäre sie zuhause geblieben oder zumindest woanders gelaufen. Es gab viele Wege im Schlosspark Schönbrunn, etwa die Rusten Allee entlang und beim Neptunbrunnen den Schlossberg hinauf zur Gloriette … Allerdings hätte sie auch dann die Tote entdeckt. Wäre. Hätte. Wäre das Leben leichter, wenn es keine Möglichkeitsform gäbe? Sie versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Ihr Magen knurrte.

»Sie können jetzt gehen. Ihre Daten haben wir ja. Wenn es noch Fragen gibt, setzen wir uns mit Ihnen in Verbindung. Oder soll Sie jemand nach Hause bringen?«

Valentina schüttelte den Kopf. »Nein, danke, es geht schon.« Sie atmete erleichtert auf.

In dem Moment trat eine junge Polizistin neben den Chefinspektor und zog ihn zur Seite. Valentina rührte sich nicht vom Fleck, als ahnte sie das bevorstehende Unheil. Die Polizistin gab dem Ermittler einen Ausweis und flüsterte ihm irgendetwas zu. Valentina sah, wie sich die Augenbrauen des Mannes in die Höhe schoben und wusste, dass es noch nicht vorbei war.

Dann kam der Ermittler zu ihr zurück. »Kennen Sie den Namen Daniela Meier?«

»Daniela Meier«, wiederholte Valentina leise. In Österreich hießen Millionen von Menschen Meier. Doch dann begriff sie augenblicklich, und sie wurde blass.

»Ist die Tote etwa Daniela Meier?«

Martin Stein nickte. »Wir haben...