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Minimum - Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft

Frank Schirrmacher

 

Verlag Blessing, 2009

ISBN 9783641012663 , 192 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Die Männer
Es ist eiskalt. Und so weit das Auge reicht, liegt Schnee. Aus der Vogelperspektive betrachtet, sieht die Landschaft aus wie ein riesiger weißer Bogen Papier, auf dem sechs abgezirkelte schwarze Kreise eingezeichnet sind. Diese Kreise markieren Lager, notdürftig errichtet von den Menschen, die hier festsitzen. Insgesamt sind es einundachtzig: mehrere große Familien, Alleinreisende und einige ortskundige Führer, die den Treck sicher durch die Sierra Nevada hätten bringen sollen. Doch nun ist Ende November 1846, und die Siedler sind am Fuße eines Berges wie festgefroren. Ohne entsprechende Ausrüstung und überwältigt von dem frühen Wintereinbruch kommen sie mit ihren Planwagen nicht mehr weiter, der Schnee blockiert den Weg nach vorne und auch den Weg zurück. Schneestürme, die sich zu Tornados auswachsen, fegen fast täglich über sie hinweg, decken ihre Habseligkeiten zu.
Jenseits der Berge, wo man vergeblich auf die Ankunft der Siedler wartet, schickt man ein Rettungsteam los. Doch es kommt nicht durch und muss umkehren. Die Retter wissen nicht, wie viel Vieh der Treck schon verloren hat, und fälschlicherweise glauben sie, die Gruppe hätte noch Vorräte für vier Monate.
Die Lage ist aussichtslos. Von einem kleinen Trupp, der einige Wochen später im Dezember ohne die Gruppe weitergezogen ist, hören die Zurückgebliebenen nichts mehr.
Margaret Reed, eine der Siedlerinnen, zermürben Hunger und Kälte so sehr, dass sie beschließt, zu Fuß über die verschneiten Berge zu fliehen. Zusammen mit ihrer dreizehnjährigen Tochter Virginia, einer Bediensteten und einem Führer macht sie sich auf; ihre drei jüngeren Kinder lässt sie bei den anderen Familien zurück. Aber neue, noch heftigere Schneestürme zwingen den kleinen Trupp schon nach wenigen Kilometern zur Umkehr.
Es ist, als wäre ein böses Märchen wahr geworden: Ein schrecklicher Bann liegt auf dem Lager – und niemand kann ihn brechen.
Heute wissen wir: Dieser Bann schmiedete die Menschen sechs Monate lang in der Eiswüste aneinander, und mit jedem Tag, der verging, näherten sie sich dem absoluten Minimum, das zum Überleben notwendig war.
Was sich zwischen ihnen abspielen wird, ist eine ziemlich schauerliche Geschichte, in der bis zum Mord kein menschliches Verbrechen ausgelassen und bis zur aufopfernden Liebe über den Tod hinaus keine menschliche Größe unverzeichnet bleibt.1
 
Das Schicksal dieser Menschen ist als die Tragödie vom Donner-Pass tief in das amerikanische Gedächtnis eingegraben.
Voller Optimismus hatten sich die Siedler auf den Weg gemacht, die meisten von ihnen waren wohlhabend und stammten aus Deutschland oder Österreich. Jakob Donner und sein Bruder George, die den Ereignissen ihren Namen gaben, beides reiche Landbesitzer, hatten die Spitze des Zugs gebildet. Sie waren mit Karren und Planwagen und großen Vorräten für Körper und Geist losgezogen, mit Bibel und Gesangbüchern, mit Illusionen und Träumen vom fernen Kalifornien, das irgendwo jenseits des Horizonts liegen musste.
Karte, auf der die Niederlassungen der am Donner-Pass stecken gebliebenenFamilien vermerkt sind. Gezeichnet von William Graves für C. F. McGlashan, 1879.2
»Ich sitze im Gras in der Mitte meines Zeltes«, schreibt die fünfundvierzigjährige Tamsen Donner am Tag der Abreise an ihre Schwester und verkündet: »Morgen gehen wir nach Kalifornien, in die Bucht von Francisco. Die Reise dauert vier Monate. Wir haben drei Wagen, die mit Nahrung, Kleidung und solchen Dingen gefüllt sind. Ich bin entschlossen zu gehen und bin sicher, es wird für unsere Kinder von Vorteil sein.«3
Tamsen Donner ist Lehrerin. Sie macht viele Notizen, sie plant, ein Buch über die Pflanzenvielfalt des Wilden Westens zu schreiben. Ihr Notizbuch wurde niemals gefunden. Nach allem, was ihre Mitreisenden später berichteten, wurde aus dem Buch über die verschiedenen Arten der Pflanzen bald eines über die verschiedenen Arten der Menschen in Zeiten der Not.
Man darf sich die Reisegruppe nicht als eine Bande von Glücksrittern und Goldsuchern vorstellen. Sehr viele dieser Menschen sind als Bürger und Kaufleute in ihr neues Leben aufgebrochen. Virginia Reed wird sich später daran erinnern, dass ihre Eltern nicht nur enorme Vorräte an Hausrat und Nahrung auf die Wagen geladen hatten, sondern auch eine vollständige Bibliothek, bestehend aus Werken der Weltliteratur.4
Schon lange redet niemand mehr über Bücher. Noch ehe die Siedler hier festfroren, hatten sie bemerkenswerte Höhen und vor allem Tiefen erlebt. Im Sommer hatten sie die Salzseen durchqueren müssen, und in der Hitze schmolzen die ersten Bindungen dahin, und Misstrauen wuchs. Die Abkürzung, die sie genommen hatten, erwies sich als Verhängnis, denn der Weg war kaum befahrbar. Jetzt begann die Panik. Sie mussten den Bergpass vor den ersten Schneefällen erreichen.
Am 6. Oktober 1846 fordert der Stress, dem der Treck ausgesetzt ist, sein erstes Gewaltopfer. Der junge John Snyder wird erstochen. Der Mörder wird verbannt, obgleich Ludwig Keseberg, ein Einwanderer aus Westfalen, zur Lynchjustiz ruft. Das soziale Gerippe der Reisegruppe kommt zum Vorschein und erschreckt zuallererst die Kinder.
Am 9. Oktober beginnt die Phase der angstgetriebenen Rücksichtslosigkeit: Ein ungefähr sechzig Jahre alter Mann namens Hardkoop, ein Einwanderer aus Belgien, wird von Ludwig Keseberg nach einem Streit vom Wagen gestoßen. Kein anderer nimmt ihn auf. Der Mann fällt mehr und mehr zurück. Zuletzt wird er gesehen, wie er sich einfach an den Straßenrand setzt und dort sitzen bleibt. Nicht jeder wird Zeuge des Vorfalls; einige erfahren erst abends davon. Sie entzünden ein Feuer, um den Verstoßenen ins Lager zu lotsen. Aber er bleibt verschollen. Am darauf folgenden Tag bittet Mrs. Reed mehrere Mitreisende um Pferde, sie will den alten Mann suchen. Doch jeder, den sie fragt, lehnt ab. Alle führen Gründe der Selbsterhaltung an. Die Zeit drängt, sie müssen den Gebirgspass überquert haben, ehe der Winter kommt, denn, wie alle wissen, die Schneestürme brechen ohne Gnade und Vorwarnung über das Land herein.
Verantwortungslos geworden, zieht die Gruppe weiter, es sind knapp achtzig Menschen, die keine Literatur mehr im Sinn haben und keine botanischen Studien und denen die schöngeistige Metapher von der Lebensreise plötzlich etwas voraussagt, was sie in wachsende Panik versetzt: Wenn die Reise hier endet, endet auch ihr Leben.
Und dann beginnt es zu schneien. In der Sierra Nevada, weit entfernt von jeglicher menschlicher Behausung, bleiben sie im Schneesturm stecken. Wären sie einen Tag schneller gewesen, so heißt es seither in der Literatur, hätten sie womöglich geschafft, die Wüste hinter sich zu lassen. Das ist der Augenblick, da diese Menschen ganz auf sich selbst und aufeinander angewiesen sind.
Wer sind sie? Es sind Alte und Junge. Großeltern sind dabei und Enkel, Mütter, Väter und Kinder, Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, außerdem Junggesellen und Einzelgänger. Auffallend ist die hohe Zahl allein reisender Männer. Es sind insgesamt fünfzehn, alle zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Sie sind stark, selbstbewusst und vertraut mit den Gefahren des Wilden Westens. Wenn es irgendwo Wagehälse, Glücksritter und Goldsucher gibt, dann findet man sie unter ihnen. Es gibt aber auch das achtjährige Mädchen, das es schafft, seine kleine Holzpuppe bis zuletzt in den Kleidern zu verstecken, um sie so vor dem Verfeuern zu retten; den fünfundsechzigjährigen George Donner, der den Ereignissen ihren Namen gegeben hat, und seine Ehefrau, Tamsen. Sie wird im Verlauf dieser Geschichte eine wichtige, manche sagen: eine heroische Rolle spielen. Tamsen Donner nämlich wird zeigen, dass ein Mensch bis über den Tod hinaus zu einem anderen Menschen halten kann.
Man sieht: Mit Blick auf Verwandtschaftsgrad, Alter, Geschlecht, Status und Charakter bestehen zwischen diesen Menschen fast alle erdenklichen sozialen und verwandtschaftlichen Querverbindungen. Von der Ferne betrachtet, von dort, wo man nur die weiße Fläche und die markierten Lager erkennt, wirkt das Ganze wie der Mikrochip einer Gesellschaft – ein Prozessor, der Schicksale verarbeitet -, und jeder von uns hätte dabei gewesen sein können.
 
Geschichten sind Rollenspiele. Auch auf dem Donner-Pass wurden solche Spiele ausgetragen. Virginia Reed, wie erstorben von der Langeweile des Ausharrens im Eis, hatte ihre Bücher wieder und wieder gelesen. Doch jedes dieser Bücher wurde verbrannt, am Schluss blieb ihr nur ein Roman, den sie, wie sie später erzählte, wie eine Rolle nachspielte: Es war eine Art Robinson-Crusoe-Roman, der die Geschichte des Überlebens eines starken und selbstbewussten Helden in der Wildnis erzählte.5
Spielen auch wir ein Rollenspiel. Wer mitspielt, kann sich nicht nur in eine fremde Welt hineinträumen, sondern auch eine Art Wahrscheinlichkeitsrechnung mit dem Schicksal aufstellen.
Wählen wir die Person, unseren selbstbewussten Helden oder unsere Heldin, in deren Haut wir schlüpfen wollen – eine Person, von der wir glauben, dass sie die Kälte und den Hunger am...