dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Das geheime Spiel - Roman

Kate Morton

 

Verlag Diana Verlag, 2009

ISBN 9783641016302 , 704 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

Der Salon


Meine Haare, die früher einmal hellblond waren, sind jetzt schneeweiß und sehr, sehr lang. Und sie scheinen von Tag zu Tag feiner zu werden. Sie sind mein ganzer Stolz – und es gibt weiß Gott nicht mehr viel, worauf ich stolz sein kann. Seit 1989 habe ich keinen Friseur mehr an meinen Kopf gelassen. Zu meinem großen Glück macht es Sylvia Spaß, mir die Haare Tag für Tag zu bürsten – ganz sanft macht sie das – und zu flechten. Ich bin ihr umso dankbarer, weil das eigentlich gar nicht zu ihren Pflichten gehört. Das muss ich ihr unbedingt einmal sagen.

Heute Morgen habe ich es vor lauter Aufregung ganz vergessen. Als Sylvia mir meinen Saft brachte, konnte ich ihn kaum trinken. Die nervöse Energie, die mich die ganze Woche über begleitet hatte, war über Nacht zu einem Knoten in meinem Magen geworden. Sylvia half mir in mein neues pfirsichfarbenes Kleid – das Kleid, das Ruth mir zu Weihnachten geschenkt hat – und in die Straßenschuhe, die gewöhnlich unbenutzt in meinem Schrank stehen. Das Leder war ziemlich steif, und es war gar nicht so einfach, meine Füße hineinzuzwängen, aber die Eitelkeit hat ihren Preis. Ich bin zu alt, um meine Angewohnheiten noch zu ändern, und ich finde es fürchterlich, dass die jüngeren Bewohner dieses Hauses in Hausschuhen ausgehen.

Ein Hauch von Puder ließ meine Wangen etwas rosiger erscheinen, aber ich habe darauf geachtet, dass Sylvia es nicht übertrieb. Schließlich möchte ich nicht aussehen wie die Schaufensterpuppe eines Leichenbestatters. Ich bin so blass und so klein, dass schon ein kleines bisschen mehr zu viel sein kann.

Mit einiger Mühe legte ich mir das goldene Medaillon um den Hals, ein elegantes Schmuckstück aus dem neunzehnten Jahrhundert, das eigentlich nicht so recht zu meiner praktischen Kleidung passt. Ich rückte es zurecht, wunderte mich über meine Kühnheit, fragte mich, was Ruth dazu sagen würde.

Dann fiel mein Blick auf den kleinen silbernen Rahmen auf meinem Schminktisch. Ein Foto von meinem Hochzeitstag. Meinetwegen bräuchte es nicht da zu stehen – es ist schon so lange her, und die Ehe war sehr kurz; armer John –, aber ich räume es Ruth zuliebe nicht weg. Ich glaube, sie stellt sich gern vor, dass ich mich nach ihm sehne.

Sylvia führte mich in den Salon – es wurmt mich immer noch, den Raum so zu nennen –, wo gerade das Frühstück aufgetragen wurde und wo ich auf Ruth warten sollte, die sich (obwohl sie eigentlich dagegen war, wie sie behauptet) bereit erklärt hatte, mich zu den Shepperton Studios zu fahren. Ich ließ mich von Sylvia an einen einzelnen Tisch in der Ecke geleiten und bat sie, mir ein Glas Saft zu bringen. Dann las ich Ursulas Brief noch einmal.

Ruth kam um Punkt halb neun. Sie mag ihre Bedenken gehabt haben, was diesen Ausflug anging, aber sie ist schon immer ein Muster an Pünktlichkeit gewesen. Ich habe einmal gehört, dass Kinder, die in schweren Zeiten geboren werden, immer etwas Leidendes ausstrahlen, und Ruth, ein Kind des Zweiten Weltkriegs, ist der lebende Beweis für dieses Gesetz. Ganz anders als Sylvia, die nur fünfzehn Jahre jünger ist und in engen Röcken zur Arbeit erscheint, zu laut lacht und jedes Mal, wenn sie einen neuen Freund hat, die Haarfarbe wechselt.

Ruth kam auf meinen Tisch zu, makellos gekleidet und zurechtgemacht, aber steifer als ein Stock.

»Guten Morgen, Mum«, sagte sie und hauchte mir mit kalten Lippen einen Kuss auf die Wange. »Schon fertig gefrühstückt?« Sie warf einen prüfenden Blick auf das halb leere Glas vor mir. »Ich hoffe, das war nicht alles, was du zu dir genommen hast. Wir werden sicherlich in den Berufsverkehr geraten und keine Zeit haben, irgendwo anzuhalten.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Musst du noch mal aufs Klo?«

Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, wann wir die Rollen getauscht hatten und ich zur Tochter geworden war.

»Du trägst ja Vaters Medaillon; das hab ich schon ewig nicht mehr an dir gesehen.« Mit einem beifälligen Nicken rückte sie es zurecht. »Er hatte einen guten Geschmack, nicht wahr?«

Ich stimmte ihr zu, gerührt von der Vorbehaltlosigkeit, mit der Kinder einem kleine Lügen abkaufen. Eine Welle der Zuneigung für meine kratzbürstige Tochter überkam mich, und ich beeilte mich, die vertrauten elterlichen Schuldgefühle zu unterdrücken, die jedes Mal in mir hochkommen, wenn ich in ihr besorgtes Gesicht sehe.

Sie nahm meinen Arm, hakte sich bei mir unter und drückte mir meinen Spazierstock in die andere Hand. Die meisten anderen hier im Heim bevorzugen Gehhilfen auf Rollen oder sogar elektrische Rollstühle, aber ich komme immer noch ganz gut mit meinem Spazierstock zurecht und liebe meine alten Gewohnheiten zu sehr, um ihn gegen irgendetwas anderes einzutauschen.

Sie ist ein gutes Mädchen, meine Ruth – solide und zuverlässig. An diesem Tag war sie sehr förmlich gekleidet, wie für einen Besuch bei ihrem Anwalt oder ihrem Arzt. Aber damit hatte ich gerechnet. Sie wollte einen guten Eindruck machen, dieser Filmemacherin zeigen, dass Ruth Bradley McCourt, egal, was ihre Mutter in der Vergangenheit getan haben mochte, eine seriöse, respektable Angehörige der Mittelschicht war.

Nachdem wir eine Weile gefahren waren, schaltete Ruth das Radio ein. Sie hat die Finger einer alten Frau, die Knöchel geschwollen, weil sie am Morgen mit Gewalt ihre Ringe darübergezwängt hatte. Es ist verblüffend, die eigene Tochter altern zu sehen. Ich betrachtete meine auf dem Schoß verschränkten Hände. Hände, die früher einmal so agil gewesen waren, die einfache und komplexe Arbeiten verrichtet hatten, Hände, die jetzt grau, schlaff und träge dalagen. Endlich hatte Ruth sich für einen Sender entschieden, der klassische Musik spielte. Der Sprecher plauderte eine Weile über belanglose Dinge, dann legte er Chopin auf. Purer Zufall, dass ich ausgerechnet heute Chopins Walzer in Cis-Moll zu hören bekam.

Ruth hielt vor ein paar riesigen weißen Gebäuden, die so breit waren wie Flugzeughallen. Nachdem sie den Motor ausgeschaltet hatte, blieb sie noch einen Moment lang sitzen, den Blick nach vorn gerichtet. »Ich weiß nicht, warum du dir das antust«, sagte sie leise mit gespannten Lippen. »Du hast so viel aus deinem Leben gemacht, bist gereist, hast studiert, eine Tochter großgezogen … Warum willst du daran erinnert werden, was du einmal gewesen bist?«

Sie erwartete keine Antwort, und ich gab ihr auch keine. Plötzlich seufzte sie, sprang aus dem Wagen und nahm meinen Spazierstock aus dem Kofferraum. Wortlos half sie mir beim Aussteigen.

Eine junge Frau erwartete uns. Ein schmächtiges Mädchen mit sehr langen blonden Haaren, die ihr glatt über den Rücken fielen und über den Augen zu einem dichten Pony geschnitten waren. Der Typ Mädchen, den man als unscheinbar hätte bezeichnen können, wäre sie nicht mit so unglaublichen Augen gesegnet gewesen. Sie hätten in ein Ölgemälde gehört, rund, ausdrucksstark und so schimmernd dunkel wie nasse Farbe.

Sie kam lächelnd auf uns zu und nahm meine Hand von Ruths Arm. »Mrs Bradley, wie schön, dass Sie es einrichten konnten. Ich bin Ursula.«

»Grace«, sagte ich, bevor Ruth dazu kam, sie auf meinen Doktortitel hinzuweisen. »Nennen Sie mich Grace.«

»Grace.« Ursula strahlte. »Sie glauben gar nicht, wie ich mich über Ihren Brief gefreut habe.« Sie sprach mit englischem Akzent, eine Überraschung, wo doch auf dem Brief ein amerikanischer Absender gestanden hatte. Sie wandte sich an Ruth. »Vielen Dank, dass Sie sich als Chauffeurin zur Verfügung gestellt haben.«

Ich spürte, wie Ruth neben mir ganz steif wurde. »Ich konnte meine Mutter ja wohl schlecht in einen Bus setzen, oder?«

Ursula lachte. Zum Glück sind junge Leute so schnell bereit, Unhöflichkeit als Ironie aufzufassen. »Kommen Sie rein, es ist ja eiskalt draußen. Tut mir leid, dass das alles so schnell gehen muss. Wir fangen nächste Woche an zu drehen, und im Moment wissen wir kaum noch, wo uns der Kopf steht vor lauter Stress. Ich hätte Sie gern unserer Bühnenbildnerin vorgestellt, leider musste sie nach London fahren, um Stoff zu kaufen. Aber falls Sie noch hier sind, wenn sie zurückkommt … Vorsicht an der Tür, da ist eine kleine Stufe.«

Ursula und Ruth bugsierten mich in ein Foyer und durch einen dunklen Gang mit einer Reihe von Türen rechts und links. Einige davon standen offen, und ich erkannte schattenhafte Gestalten vor leuchtenden Computerbildschirmen. Es war alles ganz anders als das Filmstudio, in das ich Hannah damals begleitet hatte, um Emmeline abzuholen.

»Da sind wir«, verkündete Ursula, als wir vor der letzten Tür angekommen waren. »Kommen Sie rein, ich besorge uns einen Tee.« Sie öffnete die Tür, und ich wurde über die Schwelle direkt in meine Vergangenheit geschoben.

 

Es war der Salon von Riverton Manor. Selbst die Tapete war die gleiche, eine burgunderrote Jugendstiltapete der Firma Silver Studios, Design »Flammende Tulpen«, so frisch wie an dem Tag, als die Tapezierer sie aus London mitgebracht hatten. In der Mitte, vor dem Kamin, stand ein Ledersofa, drapiert mit indischer Seide, genau wie die, die Lord Ashbury, Hannahs und Emmelines Großvater, als junger Marineoffizier aus Indien mitgebracht hatte. Die Schiffsuhr stand, wo sie immer gestanden hatte, auf dem Kaminsims neben dem Waterford-Kandelaber. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, den Raum exakt nachzubilden, und doch verriet er sich in allen Details als Hochstapler. Selbst heute noch, nach achtzig Jahren, erinnere ich mich an das Ticken der Uhr im Salon. An die stille, beharrliche Art, mit der sie die Zeit maß: geduldig, unbeirrbar, kalt – als hätte sie damals schon gewusst, dass die Zeit denen, die in diesem Haus lebten, nicht wohlgesonnen...