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Im Schatten unserer Wünsche - Die Clifton Saga 4 - Roman

Jeffrey Archer

 

Verlag Heyne, 2016

ISBN 9783641198220 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Harry Clifton erwachte, weil das Telefon klingelte.

Er hatte gerade geträumt, konnte sich aber nicht mehr erinnern, worum es dabei gegangen war. Vielleicht gehörte das nicht enden wollende metallische Geräusch ja noch zu seinem Traum. Widerwillig drehte er sich um und warf blinzelnd einen Blick auf die kleinen, grün schimmernden Zeiger seines Weckers. 6:43 Uhr. Er lächelte. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der auf die Idee kommen konnte, ihn so früh am Morgen anzurufen. Er nahm den Hörer ab und murmelte mit übertrieben schläfriger Stimme: »Guten Morgen, Liebling.« Zunächst kam keinerlei Reaktion, und Harry fragte sich einen Moment lang, ob die Hotelangestellte, die das Gespräch durchgestellt hatte, sich im Zimmer geirrt hatte. Er wollte gerade wieder auflegen, als er ein Schluchzen hörte. »Bist du das, Emma?«

»Ja«, kam die Antwort.

»Was ist passiert?«, fragte er in beruhigendem Ton.

»Sebastian ist tot.«

Harry antwortete nicht sofort, denn jetzt wollte er unbedingt glauben, dass er noch träumte. »Wie ist das möglich?«, fragte er schließlich. »Ich habe doch erst gestern mit ihm gesprochen.«

»Er ist heute Morgen gestorben«, sagte Emma. Es war offensichtlich, dass sie jeweils nur wenige Worte am Stück sprechen konnte.

Harry setzte sich auf. Plötzlich war er hellwach.

»Bei einem Autounfall«, fuhr Emma schluchzend fort.

Harry versuchte, ruhig zu bleiben, während er darauf wartete, dass sie ihm berichten würde, was genau geschehen war.

»Sie sind zusammen nach Cambridge gefahren.«

»Sie?«, fragte Harry.

»Sebastian und Bruno.«

»Ist Bruno noch am Leben?«

»Ja, aber er ist in einer Klinik in Harlow, und die Ärzte sind nicht sicher, ob er die Nacht überstehen wird.«

Harry warf die Decke von sich und stellte die Füße auf den Boden. Er fror, und ihm war übel. »Ich werde sofort ein Taxi zum Flughafen nehmen und dann mit der ersten Maschine nach London zurückkommen.«

»Ich werde zur Klinik fahren«, sagte Emma. Weil sie nicht weitersprach, dachte Harry, die Verbindung sei unterbrochen worden. Doch dann hörte er sie flüstern: »Sie brauchen jemanden, der die Leiche identifiziert.«

Emma legte den Hörer auf, doch es dauerte eine Weile, bis sie die Kraft fand, um aufzustehen. Schließlich ging sie mit unsicheren Schritten durch das Zimmer, wobei sie sich wie ein Seemann im Sturm immer wieder an den Möbeln festhielt. Sie öffnete die Tür des Salons und sah, dass Marsden mit gesenktem Kopf in der Eingangshalle stand. Sie hatte noch nie erlebt, dass ihr alter Hausangestellter vor irgendeinem Mitglied der Familie Gefühle gezeigt hatte, weshalb sie die zusammengesunkene Gestalt, die sich am Kaminsims festhielt, jetzt kaum wiedererkannte. Die grausame Realität des Todes hatte die ruhige Gefasstheit, die seine Miene üblicherweise ausstrahlte, zunichtegemacht.

»Mabel hat Ihnen ein paar Dinge für die Nacht eingepackt, Madam«, stammelte er. »Und wenn Sie gestatten, werde ich Sie zur Klinik fahren.«

»Danke, Marsden, das ist überaus aufmerksam von Ihnen«, sagte Emma, als er die Haustür für sie öffnete.

Marsden nahm ihren Arm und führte sie die Stufen hinab zum Wagen. Es war das erste Mal überhaupt, dass er die Herrin des Hauses berührte. Er öffnete die Autotür, und sie stieg ein und sank wie eine alte Frau auf das Sitzleder. Marsden startete den Motor, legte den ersten Gang ein und begann die lange Fahrt vom Manor House zum Princess Alexandra Hospital in Harlow.

Plötzlich fiel Emma ein, dass sie weder ihren Bruder noch ihre Schwester darüber informiert hatte, was geschehen war. Sie würde Grace und Giles heute Abend anrufen, wenn beide am ehesten alleine waren. Über ein solches Ereignis wollte sie nicht in Gegenwart Fremder sprechen. Plötzlich empfand sie einen heftigen Schmerz in ihrem Magen, als hätte jemand auf sie eingestochen. Wer sollte Jessica sagen, dass sie ihren Bruder nie wieder sehen würde? Konnte sie jemals wieder dasselbe fröhliche kleine Mädchen sein, das stets wie ein gehorsamer, schwanzwedelnder Welpe voll uneingeschränkter Bewunderung auf seinen Bruder zugestürmt war? Jessica durfte die Nachricht von niemand anderem hören, und das bedeutete, dass Emma so rasch wie möglich zum Manor House zurückkehren musste.

Marsden fuhr die Auffahrt zur örtlichen Tankstelle hinauf, wo er üblicherweise am Freitagnachmittag tankte. Als der Tankwart Mrs. Clifton auf der Rückbank des grünen Austin A30 sitzen sah, grüßte er, indem er den Schild seiner Mütze berührte. Sie erwiderte seinen Gruß nicht, und der junge Mann fragte sich, ob er irgendetwas falsch gemacht hatte. Er füllte den Tank und öffnete die Motorhaube, um den Ölstand zu kontrollieren. Als er fertig war, schlug er die Motorhaube zu und berührte wieder den Schild seiner Mütze, doch Marsden fuhr wortlos davon und gab ihm auch nicht wie sonst immer einen Sixpence Trinkgeld.

»Was haben die nur?«, murmelte der junge Mann, als der Wagen verschwand.

Sobald sie wieder auf der Straße waren, versuchte Emma, sich daran zu erinnern, welches die genauen Worte gewesen waren, die der für die Zulassungen zuständige Tutor am Peterhouse College benutzt hatte, als er ihr stockend die Nachricht mitgeteilt hatte. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, Mrs. Clifton, dass Ihr Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Über diese entscheidende Information hinaus schien Mr. Padgett nur sehr wenig zu wissen, doch schließlich war er, wie er erklärte, auch nur der Überbringer der Nachricht.

In Emmas Kopf überschlugen sich die Fragen geradezu. Warum war ihr Sohn mit dem Auto nach Cambridge gefahren, obwohl sie ihm einige Tage zuvor eine Zugfahrkarte gekauft hatte? Wer war gefahren, Sebastian oder Bruno? Waren sie zu schnell unterwegs gewesen? War ihnen ein Reifen geplatzt? War ein weiteres Fahrzeug in den Unfall verwickelt? Es gab so viele Fragen, doch sie zweifelte daran, dass irgendjemand alle Antworten wusste.

Wenige Minuten nach dem Anruf des Tutors meldete sich die Polizei und fragte, ob Mr. Clifton in die Klinik kommen könne, um die Leiche zu identifizieren. Emma teilte den Beamten mit, dass ihr Mann wegen einer Lesetour in New York war. Sie hätte sich nicht einverstanden erklärt, seinen Platz einzunehmen, wenn sie hätte sicher sein können, dass er bereits am folgenden Tag wieder in England wäre. Gott sei Dank kam er mit dem Flugzeug und musste nicht fünf Tage einsam trauernd mit einer Schifffahrt über den Atlantik verbringen.

Während Marsden durch die ihr unvertrauten Städte Chippenham, Newbury und Slouth fuhr, unterbrach der Gedanke an Don Pedro Martinez Emmas bisherige Überlegungen. Bestand die Möglichkeit, dass er sich für das hatte rächen wollen, was wenige Wochen zuvor in Southampton geschehen war? Aber wenn es sich bei der anderen Person im Auto um Martinez’ Sohn Bruno handelte, ergab das überhaupt keinen Sinn. Emmas Gedanken kehrten zu Sebastian zurück, als Marsden die Great Western Road verließ und nach Norden in Richtung der A1 fuhr; es war jene Straße, die Sebastian wenige Stunden zuvor ebenfalls benutzt hatte. Emma hatte einmal gelesen, dass in Zeiten einer persönlichen Tragödie sich jeder einzig und allein wünschte, die Uhr zurückdrehen zu können. Sie war da nicht anders.

Die Fahrt verging rasch, denn sie dachte kaum an etwas anderes als an Sebastian. Sie erinnerte sich an seine Geburt, als Harry auf der anderen Seite der Welt im Gefängnis war; an seine ersten Schritte im Alter von acht Monaten und vier Tagen; an sein erstes Wort, »mehr«; an seinen ersten Tag in der Schule, als er bereits nach draußen gesprungen war, bevor Harry noch die Gelegenheit gehabt hatte, den Wagen vollständig zum Stehen zu bringen; und dann später an Beechcroft Abbey, als der Rektor ihn der Schule verweisen wollte, ihm aber noch eine zweite Chance gegeben hatte, nachdem Sebastian ein Stipendium für Cambridge gewonnen hatte. Es gab so vieles, worauf man sich freuen konnte, so vieles, das noch zu erreichen war. Und einen Augenblick später war alles nur noch Vergangenheit. Schließlich dachte sie an ihren schrecklichen Fehler, der darin bestanden hatte, sich vom Kabinettssekretär überreden zu lassen, dass Sebastian in die Pläne der Regierung, Don Pedro Martinez seiner gerechten Strafe zuzuführen, einbezogen werden sollte. Wenn sie Sir Alans Bitte abgelehnt hätte, wäre ihr einziger Sohn noch am Leben. Wenn, wenn, wenn …

Als sie die Außenbezirke von Harlow erreichten, warf Emma einen Blick aus dem Seitenfenster und sah ein Schild, das ihnen den Weg zum Princess Alexandra Hospital wies. Sie versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was von ihr erwartet wurde. Wenige Minuten später passierte Marsden zwei gusseiserne Tore, die sich niemals schlossen, und hielt vor dem Haupteingang der Klinik. Emma stieg aus und ging auf die Eingangstür zu, während Marsden sich auf die Suche nach einem Parkplatz machte.

Sie nannte der jungen Frau am Empfang ihren Namen, und das fröhliche Lächeln ihres Gegenübers wich einem Blick voller Mitleid. »Würden Sie bitte einen Augenblick warten, Mrs. Clifton«, sagte die junge Frau und nahm den Hörer ihres Telefons ab. »Ich werde Mr. Owen mitteilen, dass Sie hier sind.«

»Mr. Owen?«

»Er war der diensthabende Arzt, als Ihr Sohn heute Morgen eingeliefert wurde.«

Emma nickte und ging unruhig im Flur auf und ab. Ungeordnete Gedanken waren in ihrem Kopf an die Stelle ungeordneter Erinnerungen getreten. Wer, wann, warum

Sie blieb erst stehen, als eine Krankenschwester...