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Pretty Girls - Psychothriller

Karin Slaughter

 

Verlag HarperCollins, 2015

ISBN 9783959679862 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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8,99 EUR


 

1. KAPITEL

Das Restaurant in der Innenstadt von Atlanta war leer bis auf einen einsamen Geschäftsmann an einem Ecktisch und den Barkeeper, der sich anscheinend für einen Meister in der Kunst des Flirtens hielt. Die Vorbereitungen für das Abendessen kamen langsam auf Touren. In der Küche klapperten Besteck und Porzellan. Ein Koch brüllte. Eine Bedienung stieß ein beleidigtes Lachen aus. Aus dem Fernseher über der Bar drang leise ein steter Strom schlechter Nachrichten.

Claire Scott versuchte, das endlose Trommelfeuer von Geräuschen zu ignorieren, während sie an der Bar saß und an ihrem zweiten Club-Soda nippte. Paul hatte zehn Minuten Verspätung. Er kam sonst nie zu spät, normalerweise war er zehn Minuten zu früh dran. Das gehörte zu den Dingen, mit denen sie ihn neckte, obwohl sie es im Grunde nicht anders haben wollte.

„Noch eins?“

„Sicher.“ Claire lächelte den Barkeeper höflich an. Seit sie Platz genommen hatte, hatte er versucht, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er war jung und gut aussehend, und sie hätte sich geschmeichelt fühlen müssen, doch sie kam sich einfach nur alt vor – nicht weil sie tatsächlich alt war, sondern weil sie bemerkt hatte, dass ihr Menschen in den Zwanzigern umso mehr Verdruss bereiteten, je weiter sie selbst auf die vierzig zuging. In ihrer Gesellschaft dachte sie ständig Sätze, die mit „Als ich in dem Alter war …“ anfingen.

„Das dritte“, sagte der Barkeeper augenzwinkernd, als er ihr Soda-Glas auffüllte. „Sie ziehen sich das Zeug ja ganz schön rein.“

„Ach ja?“

Er blinzelte ihr zu. „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie jemanden brauchen, der Sie nach Hause fährt.“

Claire lachte, weil das einfacher war, als ihm zu sagen, er solle sich die Haare aus den Augen streichen und zurück zu seiner Schulbank gehen. Wieder sah sie auf ihrem Handy nach der Uhrzeit. Paul hatte inzwischen zwölf Minuten Verspätung. Sie begann, sich Katastrophen auszumalen: in seinem Wagen entführt, von einem Bus angefahren, von einem herabfallenden Flugzeugteil erschlagen, von einem Verrückten verschleppt.

Die Eingangstür ging auf, aber es waren andere Leute, nicht Paul. Sie trugen lässige Businesskleidung. Vermutlich waren es Angestellte aus den umliegenden Bürogebäuden, die sich noch einen Feierabend-Drink genehmigten, bevor sie sich auf die Heimfahrt in die Vororte machten, wo sie bei ihren Eltern im Souterrain wohnten.

„Haben Sie das hier verfolgt?“ Der Barkeeper nickte in Richtung Fernseher.

„Nicht wirklich“, sagte Claire, obwohl sie die Story selbstverständlich verfolgt hatte. Man konnte keinen Sender einschalten, ohne von dem vermissten Teenager zu hören. Ein sechzehnjähriges Mädchen. Weiß. Mittelschicht. Sehr hübsch. Irgendwie schien die Empörung immer nicht ganz so groß zu sein, wenn ein hässliches Mädchen verschwand.

„Tragisch“, sagte der Barmann. „Sie ist so schön.“

Claire sah wieder auf ihr Handy. Paul war jetzt dreizehn Minuten zu spät dran. Ausgerechnet heute. Er war Architekt, kein Gehirnchirurg. Es konnte keinen so schlimmen Notfall geben, dass er nicht zwei Sekunden für eine SMS oder einen Anruf übrig gehabt hätte.

Sie begann, ihren Ehering am Finger zu drehen, eine nervöse Angewohnheit, die ihr nicht bewusst gewesen war, bis Paul sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Sie hatten sich über irgendetwas gestritten, das Claire zu diesem Zeitpunkt offenbar ungeheuer wichtig gewesen war, aber jetzt erinnerte sie sich weder an das Thema noch daran, wann der Streit überhaupt stattgefunden hatte. Letzte Woche? Letzten Monat? Sie kannte Paul seit achtzehn Jahren und war beinahe ebenso lange mit ihm verheiratet. Es gab nicht mehr viel, worüber sie mit einiger Überzeugung streiten konnten.

„Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht doch für was Härteres interessieren kann?“ Der Barkeeper hielt eine Flasche Wodka hoch, aber es war klar, was er meinte.

Claire zwang sich erneut zu einem Lachen. Sie kannte diese Sorte Mann schon ihr ganzes Leben lang. Hochgewachsen, dunkelhaarig und gut aussehend, mit blitzenden Augen und einem geschmeidigen Mundwerk. Mit zwölf hätte sie ihr Matheheft mit seinem Namen vollgekritzelt. Mit sechzehn hätte sie ihm erlaubt, seine Hand unter ihren Pullover zu stecken. Als sie zwanzig war, hätte er mit seiner Hand machen dürfen, was er wollte. Und jetzt, mit achtunddreißig, wollte sie nur, dass er endlich abhaute.

„Nein danke“, sagte sie. „Mein Bewährungshelfer hat mir geraten, nur dann Alkohol zu trinken, wenn ich den ganzen Abend zu Hause bin.“

Sein Lächeln zeigte, dass er den Witz nicht ganz verstanden hatte. „Böses Mädchen, was? Sie gefallen mir.“

„Sie hätten mich mal mit meiner Fußfessel sehen sollen.“ Sie blinzelte ihm zu. „Schwarz ist das neue Orange.“

Die Eingangstür ging auf: Es war Paul. Erleichterung durchflutete Claire, als er auf sie zukam.

„Du hast dich verspätet“, sagte sie.

Paul küsste sie auf die Wange. „Tut mir leid. Ich habe keine Entschuldigung. Ich hätte anrufen sollen. Oder eine SMS schicken.“

„Ja, das hättest du.“

Paul wandte sich an den Barkeeper. „Glenfiddich, einen einfachen, aber anständig eingeschenkt.“

Claire beobachtete, wie der junge Mann Pauls Whisky mit bisher nicht erlebter Professionalität einschenkte. Der Ehering und ihre milderen und deutlicheren Zurückweisungen waren nur unbedeutende Hindernisse gewesen. Kein Vergleich mit dem deutlichen Nein, das die Anwesenheit eines anderen Mannes ausdrückte, der sie auf die Wange küsste.

„Sir.“ Er servierte Paul den Drink und eilte dann ans andere Ende der Theke.

Claire senkte die Stimme. „Er hat angeboten, mich nach Hause zu bringen.“

Zum ersten Mal, seit er die Bar betreten hatte, sah Paul den Barkeeper an. „Soll ich ihm eins auf die Nase geben?“

„Ja.“

„Bringst du mich ins Krankenhaus, wenn er zurückschlägt?“

„Ja.“

Paul lächelte, aber nur, weil sie ebenfalls lächelte. „Und, wie fühlt es sich an ohne Leine?“

Claire sah auf ihren nackten Knöchel hinab und erwartete fast, einen blauen Fleck oder ein Mal an der Stelle zu sehen, wo die klobige schwarze Fußfessel gewesen war. Sechs Monate lang hatte sie in der Öffentlichkeit keinen Rock getragen, solange sie mit dem vom Gericht angeordneten Überwachungsgerät hatte herumlaufen müssen. „Fühlt sich wie Freiheit an.“

Er richtete den Strohhalm neben ihrem Glas parallel zur Serviette aus. „Du wirst übers Handy und über das GPS in deinem Wagen pausenlos überwacht.“

„Aber ich wandere nicht ins Gefängnis, wenn ich mein Handy weglege oder aus dem Auto steige.“

Paul zuckte nur mit den Schultern, obwohl sie ihr Argument ziemlich gut fand. „Und die Ausgangssperre?“

„Aufgehoben. Wenn ich ein Jahr lang keinen Ärger mache, wird mein Eintrag im Strafregister komplett getilgt, so als wäre nie etwas passiert.“

„Reinste Zauberei.“

„Ein sehr teurer Anwalt, besser gesagt.“

Er grinste. „Er war immerhin billiger als dieses Armband von Cartier, das du haben wolltest.“

Eigentlich sollten sie keine Witze über die Geschichte machen, aber die Alternative wäre gewesen, sie sehr ernst zu nehmen. „Es ist komisch“, sagte sie. „Ich weiß, dass das Überwachungsgerät nicht mehr da ist, aber ich spüre es immer noch.“

„Signalentdeckungstheorie.“ Er richtete den Strohhalm wieder gerade. „Deine Wahrnehmung ist voreingestellt, weil sie mit dem Überwachungsgerät rechnet. Man erlebt so etwas manchmal mit dem Handy. Man spürt, wie es vibriert, obwohl das überhaupt nicht der Fall ist.“

Das hatte sie nun davon, dass sie einen Streber geheiratet hatte.

Paul schaute zum Fernseher. „Glaubst du, sie finden sie?“

Claire antwortete nicht, sondern starrte auf den Drink in Pauls Hand. Sie hatte den Geschmack von Scotch nie gemocht, aber nicht trinken zu dürfen weckte in ihr den Wunsch nach einer tagelangen Sauftour.

Aus lauter Verzweiflung, irgendein Gesprächsthema zu finden, hatte Claire am Nachmittag zu ihrer vom Gericht bestellten Psychiaterin gesagt, dass sie es absolut hasse, wenn man ihr vorschrieb, was sie tun sollte. „Gibt es denn jemanden, der das nicht hasst?“, hatte die schmuddelige Frau etwas verwundert gefragt. Claire hatte gespürt, wie sie errötete, aber sie hatte sich die Bemerkung verkniffen, dass sie es eben besonders schlecht vertrug und genau deshalb in einer vom Gericht angeordneten Therapie gelandet war. Sie hatte der Frau nicht die Genugtuung gegönnt, einen Durchbruch erreicht zu haben.

Abgesehen davon, war Claire in dem Moment, als sich die Handschellen um ihre Gelenke schlossen, von allein zu dieser Erkenntnis gelangt.

„Idiotin“, hatte sie gemurmelt und sich selbst damit gemeint, als die Polizeibeamtin sie auf den Rücksitz des Streifenwagens verfrachtete.

Doch die hatte es falsch verstanden. „Das kommt in meinen Bericht“, hatte sie prompt erwidert.

Es waren nur Frauen, die Claire an diesem Tag begegneten, Polizistinnen in allen Größen und Formaten, mit breiten Ledergürteln um die strammen Taillen, an denen alle möglichen tödlichen Gerätschaften hingen. Claire war überzeugt, dass in Anwesenheit eines männlichen Polizisten alles viel besser gelaufen wäre, doch das war leider nicht der Fall gewesen. Dorthin hatte der Feminismus sie also gebracht: in einem hochgerutschten Tennisröckchen auf den klebrigen Rücksitz eines Streifenwagens.

Im...