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Der Trick

Emanuel Bergmann

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607093 , 336 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{5}1 Die Welt und wie sie hätte sein sollen


Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lebte in Prag ein Mann namens Laibl Goldenhirsch. Er war ein bescheidener Mensch, ein Rabbiner, ein Schriftgelehrter, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Geheimnisse, die uns umgeben, zu verstehen. Eine Aufgabe, der er sich mit Leib und Seele widmete. Tag für Tag, Stunde um Stunde brütete er über der Thora, dem Talmud, dem Tanach und ähnlich fesselnden Lektüren. Er hatte, nach Jahren des Lernens und Lehrens, eine ungefähre Vorstellung davon, wie die Welt war, aber vor allem, wie sie eigentlich hätte sein sollen. Denn es schien die eine oder andere Diskrepanz zu geben zwischen der lichten Herrlichkeit der Schöpfung und dem ärgerlichen und verregneten Alltag, durch den wir Menschen uns schleppen müssen. Seine Schüler schätzten ihn, zumindest die weniger dämlichen unter ihnen. Seine Worte erhellten das Dunkel des Daseins wie das Licht einer Kerze.

Er lebte mit seiner Frau Rifka in einem ärmlichen Mietshaus nahe der Moldau. Die Wohnung, die aus nur einem Zimmer bestand, enthielt nicht viel mehr als einen Küchentisch, einen Holzofen, eine Spüle und ein Bett, das in der Nacht eines jeden Sabbats rhythmisch knarrte, so wie es Pflicht war und geschrieben stand.

Zwischen den Stockwerken gab es ein Wunder der {6}Moderne, nämlich ein Wasserklosett. Dieses mussten die Goldenhirschs zu ihrem täglichen Ärger mit ihrem Nachbarn aus der Wohnung über der ihren teilen, einem Ochsen namens Mosche, der seines Zeichens Schlosser war und der sich ständig und laut hörbar mit seiner Ehefrau, einem unschicklichen Weibsbild, zankte.

Rabbi Goldenhirsch lebte in einer Zeit des technischen Fortschritts, der ihn jedoch kaum interessierte. Die bedeutenden Veränderungen des neuen Jahrhunderts berührten ihn nur am Rande. So waren vor einigen Jahren die Gaslampen entlang der Straßen gegen elektrische ausgetauscht worden, was manche Menschen für Teufelswerk, andere wiederum für Sozialismus hielten. Auch hatte man am Flussufer Gleise aus Stahl verlegt, auf denen Straßenbahnen fuhren und dabei eifrig Funken versprühten.

So also sah er aus, der Zauber des neuen Zeitalters.

Laibl Goldenhirsch konnte mit alldem wenig anfangen. Straßenbahnen hin oder her, das Leben blieb beschwerlich. Stur und genügsam ging er seinem Alltag nach, so wie es die Juden Europas seit Jahrhunderten getan hatten und vermutlich über Jahrhunderte hinweg weiter tun würden. Der Rabbi bat um wenig, und infolgedessen erhielt er auch wenig.

Sein Gesicht war schmal und blass über dem schwarzen Bart, er hatte dunkle, wache Augen, durch die er das Treiben um sich herum mit einem gewissen Maß an Misstrauen betrachtete. Nach getanem Tagwerk legte der Rabbi seinen Kopf auf das Kissen neben seiner geliebten Rifka, einer starken, schönen Frau mit rauhen Händen, sanftem Blick und kastanienbraunem Haar. Manchmal, in den kurzen {7}Momenten, bevor der Schlaf ihn übermannte, meinte er, durch die Zimmerdecke hindurch bis in den Nachthimmel blicken zu können. Dann ließ er sich treiben wie ein Blatt im Wind, wurde emporgehoben und schaute hinab auf die kleine Welt. So anstrengend das Leben auch sein mochte, hinter dem dünnen Schleier des Alltäglichen gab es eine Herrlichkeit, die ihn stets aufs Neue verzückte.

»Allein schon da zu sein, allein schon zu leben«, pflegte Laibl zu sagen, »ist ein Gebet.«

Aber des Öfteren lag er in letzter Zeit schlaflos und starrte vor sich hin. Es verdross ihn, dass es im Zeitalter der technologischen Wunder keinen Platz mehr für echte Wunder zu geben schien. Denn Rabbi Goldenhirsch hatte in dieser Hinsicht Bedarf.

Etwas fehlte in seinem Leben: ein Sohn. Er brachte zahllose Stunden damit zu, die Söhne anderer zu erziehen – Idioten, allesamt –, und wann immer er in ihre Gesichter blickte, stellte er sich vor, eines Tages in das Antlitz seines eigenen Kindes schauen zu dürfen. Doch bislang waren seine Gebete nicht erhört worden. Für andere ging die Sonne auf, nicht aber für Laibl und Rifka. So manche Nacht mühte er sich auf seiner Frau ab, aber es fruchtete nicht. So knarrte mit der Zeit das Bett immer seltener.

*

Das neue Jahrhundert war noch jung, als ein Krieg ausbrach. Das war an und für sich nichts Ungewöhnliches. Kriege gab es immer wieder mal, so wie gelegentlich irgendwo die Grippe aufflammte. Doch dieses Mal war etwas {8}anders, nur nahmen es Laibl und Rifka Goldenhirsch vorerst nicht wahr. Es begann der Große Krieg, der bald Millionen dahinraffen sollte. Keine Grippe, sondern die Pest. Die Schüler des Rabbi Goldenhirsch fingen an, Fragen zu stellen und ihn um Klärung zu bitten, und zum ersten Mal in seinem Leben sah er sich mit etwas konfrontiert, auf das er keine Antwort wusste. Bisher konnte er in solchen Fällen stets die verlässlich rätselhaften Wege des Herrn bemühen, aber der Krieg war keineswegs göttlichen Ursprungs, sondern Menschenwerk. Der Rabbi war ratlos. Er stand vor seinen Schülern, mit offenem Mund, und stotterte. Die Fakten waren ihm geläufig, aber deren tiefere Bedeutung entzog sich ihm. Er wusste natürlich, dass der Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo von feiger Hand gemeuchelt worden war. Doch Sarajewo war weit weg vom Zentrum der Welt, irgendwo tief auf dem Balkan, was kümmerte es schon die zivilisierte Gesellschaft, wer wen dort abknallte? Die Gojim schossen ja ständig um sich. Was machte es für einen Unterschied, ob nun ein Erzherzog mehr oder weniger auf Erden wandelte? Ihm war selbstredend klar, dass jedes Menschenleben unermesslich wertvoll, der gewaltsame Tod eines Menschen ein Frevel vor Gott war und so weiter, und er wusste auch, dass Seine Majestät, der Kaiser von Österreich-Ungarn, dem Rabbi Goldenhirsch und die Einwohner Prags zur Treue verpflichtet waren, sich verständlicherweise grämte. Aber, Hand aufs Herz, was ging unsereinen das an?

Offensichtlich viel. Binnen weniger Monate wurden die Straßen Prags von Unruhe ergriffen. Die Alten marschierten in den Kaffeehäusern auf und ab, ballten die Hände zu {9}Fäusten und wedelten mit zerknüllten Zeitungen. Ein jeder versuchte, die neusten Entwicklungen an dieser oder jener Front zu verstehen und einzuordnen. Auf dem Wenzelsplatz tummelten sich die Frauen und tauschten Informationen über ihre Söhne und Ehemänner aus, über ihre Brüder und Väter, die eifrig in den Krieg gezogen waren. Nur den wenigsten war klar, dass ein Großteil des Mannsvolks nie wieder heimkehren würde. Diejenigen, die zu jung zum Kämpfen waren, lasen die Listen der Versehrten und Gefallenen, als handle es sich um die Ergebnisse einer Fußballmeisterschaft. Wie viele von denen? Wie viele der unseren? Die Jugend war kampfeslustig, und sie sollte bald ihre Chance erhalten. Denn der Krieg wütete viele Jahre lang, und er war nicht wählerisch: Er verschlang alle.

Auch die Juden.

So begab es sich, dass Laibl Goldenhirsch eines sonnigen Tages in die kaiserlich-königliche Armee des alten Franz Joseph eingezogen wurde. Als Rifka vom Markt nach Hause kam und ihren krummen, dürrbeinigen Mann in einer Uniform vorfand, vergoss sie bittere Tränen. Er stand vor dem einzigen Spiegel und betrachtete sich und seine Uniform mit merklicher Verwirrung. Er hielt ihr sein Bajonett hin.

»Was soll ich damit tun?«, fragte er sie.

»Es in einen Russ hineinstecken«, erwiderte Rifka. Vergeblich kämpfte sie gegen ein erneutes Aufwallen ihrer Tränen an. Sie wandte sich ab und verbarg ihr Gesicht.

Und so marschierte Laibl Goldenhirsch von dannen, zog in einen Krieg, den er noch immer nicht verstand.

Rifka musste nun ohne ihren Gatten zurechtkommen, {10}was sich als bemerkenswert leicht herausstellte. Mit Verwunderung nahm sie zur Kenntnis, dass er im Sinne der Haushaltsführung vollkommen nutzlos gewesen war. Dennoch fehlte er ihr. Noch nie hatte sie etwas so Unnützes mit solcher Leidenschaft vermisst.

Fast jeden Tag verließ Rifka die Stadt und begab sich in die Wälder weit außerhalb Prags. Sie trug Eimer voll Kohle mit sich, die sie in den Bauernhöfen gegen Butter und Brot tauschte, denn besser, sie fror, als dass der Hunger an ihr nagte.

Im Sommer, mit seinen längeren Tagen, wurde ihr Unterfangen schwieriger. Sie musste andere Tauschgüter auftreiben, und sie musste die Butter unter ihrem Rock verstecken, denn überall lauerte Gefahr. Des Öfteren kehrte sie mit leeren Händen heim, besonders wenn Kämpfe in der Gegend ausbrachen und sie sich im Wald versteckte, bis alles vorbei war. Dann blieb nichts übrig als eine warme Spur geschmolzener Butter, die ihre Schenkel hinabrann.

Eines Abends im September kam sie nach Hause und sah Mosche den Schlosser im Treppenhaus sitzen. Er trug die verdreckte Uniform eines Rekruten und weinte. Er bot einen eigentümlichen Anblick, dieser greinende Hüne. Seine gewaltigen Schultern bebten, und sein Kopf wippte vor und zurück. Tiefe, kummervolle Schluchzer entwichen seinem grobschlächtigen Körper. Sie ging zu ihm und fragte ihn, was denn los sei. Er erzählte ihr, er habe ein paar Tage Fronturlaub, doch kaum sei er in die Wohnung getreten, habe ihm seine Frau verkündet, dass sie ihn verlasse. Schon länger habe er nichts mehr von ihr gehört. Keine Briefe, nichts, sagte er schluchzend. Rifka hatte Mitleid mit ihm, {11}die Frau des Schlossers war ihr nie sonderlich sympathisch gewesen, und es überraschte sie nicht, dass das Weibsstück ihn einfach so sitzenließ.

Sie nahm ihn in die Arme und tröstete ihn. Die feuchte Butter klebte noch an ihren Beinen.

*

An einem hellen Mittwochvormittag kehrte Laibl Goldenhirsch heim. Er humpelte, aber abgesehen davon war er...