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Karl der Große - Die Korrektur eines Mythos

Rolf Bergmeier

 

Verlag Tectum-Wissenschaftsverlag, 2016

ISBN 9783828863828 , 280 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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15,99 EUR


 

»So stellten sich mir die alten Zustände dar, allerdings schwierig für jedes Einzelne ohne Unterschied einen genügenden Beweis zu bringen. Denn die Menschen nehmen die Überlieferungen von den früheren Ereignissen, selbst wenn sie der eigenen Heimat angehören, ohne allen Unterschied ungeprüft an. So leicht nehmen es die meisten mit der Erforschung der Wahrheit. Sie greifen lieber nach dem, was auf der Hand vor ihnen liegt«.

(Thukydides, Der Peloponnesische Krieg 1,20, um 400 v. u. Z.)

Einleitung

Sakrosankten Texten ist niemals zu trauen. Aber wer am Heiligen rüttelt, hat es schwer. Eines dieser Heiligtümer ist die Lichtgestalt Karl der Große, »Vater Europas«, ein Allerheiligstes. Eine kaum überschaubare Schar von Nachkriegshistorikern und Publizisten des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts sieht ihn über alle Zeit- und Geografieräume hinweg als einsame Größe glänzen, als jemanden, der dunkle Jahrhunderte in eine Periode kultureller Hochblüte verwandelt habe.1 Ein homo universale sei er gewesen, bildungsbewusst, unerbittlich als Heerführer, ein weitblickender Staatsmann, ein Landwirt, der die Eier zählt und die Pflanzung der Obstbäume überwacht,2 leidenschaftlicher Jäger und Frauenheld, Analphabet und Wächter über gutes Schreiben, Erfinder der deutschen Grammatik, Liebhaber von Heldenliedern und der bildenden Kunst, erlesener Geist und Hort der Gelehrsamkeit, Sänger und unermüdlicher Gesetzgeber, Haupt eines Wanderzirkus und gestrenger Richter über die Rechtgläubigkeit seiner Untertanen, Sachsenschlächter und imperator christianissimus.3 Kurzum, Karl habe »das angeblich so finstere Mittelalter hell« gemacht, meint der Bayerische Rundfunk, »sogar sehr hell«.4 Karl der Große! Was für ein Kerl! Noch heute fallen die Honoratioren in Aachen vor dem »Leuchtturm Europas« und der »Zierde des Erdkreises« auf die Knie. Karl hat fünf Ehefrauen,5 ein Dutzend Mätressen und droht Frauen die Peitsche an, wenn sie nicht das Vaterunser beherrschen. Er kann nicht schreiben, lesen wohl auch nicht, ist des Lateinischen nur mäßig mächtig und soll dennoch der mittelalterliche Bildungspapst par excellence gewesen sein. Er führt vier Jahrzehnte Krieg mit seinen Nachbarn, provoziert die muslimischen »Sarazenen« im Süden Europas, rüstet mit mythischer Wucht gegen die Awaren im Osten, weil diese eine unerträgliche Bosheit »gegenüber der heiligen Kirche und dem populus christianus gezeigt« hätten,6 und wird dennoch wegen »seiner Friedensordnung nach innen« gelobt.7 Karl marschiert in Sachsen und Bayern ein, vereint sie mit den Franken unter christlicher Fahne, spart dabei nicht mit Deportationen und Zwangstaufen, was der Historiker HEINRICH HOFFMANN als ein »geschicktes« Unterfangen beschreibt, um Staat und Kirche »zu verschmelzen«.8

Am Ende sind sich Historiker und Geschichtsfreunde weitgehend einig: Karl ist ein »Großer«. Der renommierte Mittelalterforscher FRANCOIS L. GANSHOFER meint in Karl den »ersten Baumeister Europas« erkennen zu können, während LEOPOLD VON RANKE Karl zum »Vollstrecker der Weltgeschichte« hochwuchtet und JOSEF FLECKENSTEIN, in Fragen globaler Bedeutung nicht besonders pingelig, den Kaiser zum »Verwandler der Welt« (1990) befördert. Der Bonner Mediävist MATTHIAS BECKER lässt Karls Reich zur »Keimzelle des modernen Europas« (1999) aufwachsen, sein Tübinger Kollege STEFFEN PATZOLD assistiert, Karl sei »ein epochaler Erneuerer von Wissen und Gelehrsamkeit« gewesen (2014), und LUCAS WIEGELMANN beschäftigt sich mit Karls »Riesen-Bildungshunger« (2014).

So geht das Buch um Buch, Seite um Seite, und nach dem Studium von gefühlt vierzig Karl-Biografien und rund dreißig Seiten Internet-Anmerkungen zu Karl, von Kardinal Lehmann bis zum Deutschlandfunk, gewinnt man den Eindruck, dass Kontroversen in Wahrheit keine sind, die Bedeutung Karls und seine Verdienste trotz Hinweisen auf die Schattenseiten seines Lebens nicht infrage gestellt werden und er zu Recht im Jahr 2013 mit zwei weiteren Karl-Biografien gewürdigt wird.

Dort wird uns auf mehr als tausend Seiten Karl, sein Leben und sein Wirken als gottesfürchtiger Mann nähergebracht. Die Autoren sind Mediävisten, Leute vom Fach, und sie schlagen eine scharfe Klinge für Karl und seine Zeit. »Ein einzigartiger Wissenstransfer von der Antike ins frühe Mittelalter und der Aufbau von Wissensspeichern in Form von Bibliotheken« kennzeichne die Epoche Karls, schreibt STEFAN WEINFURTHER, eine »bis dahin nicht da gewesene Bildungsoffensive« habe »weite Teile des christlichen Europas« erfasst. WEINFURTHER meint wohl das katholische Europa, denn das christlich-orthodoxe Ostrom rund um Byzanz, einschließlich der bis ins 10. Jahrhundert unter byzantinischer Herrschaft stehenden Territorien Süditalien, Sizilien und Sardinien, wollen ebenso wenig von Karls Bildungsoffensive beglückt werden wie der skandinavische Norden und das islamische Spanien und Portugal. Was die »Bildungsoffensive« auf das Frankenreich und Nord- und Mittelitalien begrenzt und die Frage aufwirft, wie eigentlich die zeitgenössische Wahrnehmung jenseits fränkischer Grenzen, in Byzanz und im arabischsprachigen Reich, gewesen ist. Die Antwort, das sei bereits vorab verraten, fällt ernüchternd aus.

Der Begriff »Araber» oder »arabisches Reich« verkürzt die ethnische Vielfalt der arabisch sprechenden Volksteile. Die wahren Araber sind nur eine kleine Gruppe von Stämmen, die den Islam verbreiten. Die Ägypter, Syrer, Libanesen und Iraner betrachten sich nicht als Araber, obwohl sie fast alle Arabisch als ihre Sprache und den Islam als ihre Religion ansehen. Korrekt müsste man also von Entwicklungen oder Gesellschaften »im arabischen Sprachraum« sprechen.

BEGRIFF

Weinfurthers Frankfurter Kollege JOHANNES FRIED zieht in seiner 730 Seiten starken Karl-Biografie gleichfalls alle Register. Unter dem Einfluss Karls habe sich sein Hof zu »einem einzigartigen Bildungszentrum, vorbildlich für alle kommenden Jahrhunderte«, entwickelt, zu einer »Zentrale der Wissensorganisation, wie es eine solche bis dahin nirgends gegeben hatte«. Karls Bildungshunger habe »die einzigartige Schönheit der römischen Dichtkunst gerettet«, und von Karl sei eine »Erneuerung der vernunftbetonten, intellektuellen Kultur des Abendlandes« ausgegangen sei, die »die Welt [!] in ihren Bann« geschlagen habe.9 Das sind große Worte, aber diese Glanzleistung Karls braucht den Leser eigentlich nicht weiter zu beschäftigen, da FRIED sich in der Einleitung seines Buches als Visionär vorstellt: Das Buch sei »eine Fiktion«, »subjektiv gefärbt«, eine »eigene Imagination«, denn »eine objektive Darstellung des großen Karolingers« sei »schlechterdings nicht möglich«.

Damit könnte man es eigentlich bewenden lassen: FRIED hat nach eigenem Bekunden einen üppigen, angenehm zu lesenden, an historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen entlanggleitenden, mit Visionen und Meinungen unterlegten Roman geschrieben – wären da nicht die Rezensenten, die den Roman gerade wegen seiner Nähe zur Wissenschaft loben. FRIED, meint der Beck-Verlag, habe »alle historischen Register« gezogen, habe Quellen, Artefakten und Indizien nachgespürt, kurzum, »näher könne man Karl dem Großen nicht mehr kommen« (Buchumschlag) – was in etwa das Gegenteil von FRIEDS Bekenntnis ist, eine objektive Darstellung Karls sei nicht möglich.

*****

Darum also geht es in diesem Buch. Um die Auflösung von Widersprüchen, die bei näherer Betrachtung durch ein Konglomerat aus Vertrauenswürdigem, unkritischen Wiederholungen und frommer Weltanschauung entstanden sind. Es geht um eine karolingische Epoche, deren kulturelle Leistungen an den von der antiken Vorgängerkultur und den byzantinischen und islamisch-arabischen Parallelkulturen gesetzten Maßstäben beurteilt werden muss, was aber regelmäßig nicht geschieht. Es geht um Karl, genannt »der Große«, dessen Großartigkeit vor allem aus Textquellen abgeleitet wird, die von Schreibkundigen im Dienst der geistlichen und weltlichen Obrigkeit entworfen, kopiert, verfremdet und gefälscht worden sind und dennoch, trotz aller Bedenken, Historikern als grundlegende Basis für ihr Karl-Bild dient. Es geht um ein Monument, über dessen Denkmal mittlerweile die Flagge Europas flattert, obwohl der Mann sein ganzes Leben lang Kriege geführt hat. Und es geht auch um eine irritierend homogene Berichterstattung über eine Person, die nach Auffassung der meisten Historiker wissenschaftlich gar nicht zu fassen ist und folglich zu diskursiven Interpretationen einladen müsste, aber selten, nach Augenschein der deutschen Nachkriegsliteratur nie aus einem von Wissenschaft, Politik, Presse und katholischer Kirche getragenen Einheitsbild ausbricht.

Und so scheint es also nach einer Zeit der Panegyrik angebracht, den Geschichtenerzählern das...