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Knickgeflüster - Ein Ostsee-Krimi

Marc Freund

 

Verlag Boyens Buchverlag, 2016

ISBN 9783804230484 , 280 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

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„KOMM SCHON, DU Feigling!“

Der Ruf gellte über das Wasser, und Hark wusste, dass es keine weitere Aufforderung für ihn geben würde. Wenn er jetzt nicht spurte, war er raus. Eine ganz einfache Logik.

Er stand am Ufer, blinzelte gegen die Sonne und fasste den Entschluss, es zu wagen. Er griff nach dem dürren Ast, den er sich mühsam aus dem Gehölz der Steilküste gebrochen hatte und trat auf das Eis hinaus.

Die Ostsee war nicht komplett zugefroren, doch am Ufer hatten sich krustige Schollen gebildet, die teilweise vom kalten Wasser unterspült wurden. Mit aller Kraft stampfte er darauf herum – längst nicht so geschickt, wie es Sascha und Stefan kurz zuvor getan hatten, doch immerhin mit der entsprechenden Prise Glück. Mit einem trockenen Knacken löste sich eine etwa anderthalb Quadratmeter große Eisfläche vom Ufer und wurde sofort vom Sog des zurücklaufenden Wassers erfasst. Hark erschrak, als er erkannte, wie schnell sich die Kluft zwischen ihm und seinem schneeweißen Floß verbreiterte. Er gab sich einen Ruck und sprang auf die Eisscholle. Beinahe wäre er durch den Schwung ausgeglitten, und der Ast fiel ihm aus der Hand. Doch er hatte zum zweiten Mal Glück: Er blieb auf den Beinen, und seine improvisierte Stange landete auf der Eisscholle. Bevor sie ins Wasser rollen konnte, hatte Hark sie gepackt. Seine Finger waren rot vor Kälte und fast ohne Gefühl, doch niemals hätte er zugegeben, dass ihm das etwas ausmachte. Er wollte dazugehören. Und das hier war seine letzte Chance. Wenn man zehn Jahre alt war, wusste man das mit absoluter Sicherheit.

Hark packte die Stange und tauchte sie ins flache Wasser. Er stieß sich vom Ufer ab, um zu den anderen zu gelangen, die weiter draußen bereits auf die Fahrrinne zusteuerten.

Er balancierte sein Gewicht aus, sodass er einen sicheren Stand hatte und rasch vorwärts kam. Die Distanz zu den anderen wurde rasch kleiner. Jetzt hatten sie ihn gesehen, und allein das erfüllte Hark mit Stolz. Er spürte, wie ihm unter der Wollmütze warm wurde, und er hatte das Verlangen, den Schal, der nass von seinem schnell gehenden Atem war, fortzureißen, doch er war zu sehr damit beschäftigt, den richtigen Kurs zu halten.

Inzwischen tauchte die Stange weit tiefer ins Wasser. Bereits zwei Drittel hatten sich nass und dunkel gefärbt.

Fast hatte er die beiden anderen erreicht. Nur noch zwei Meter trennten ihn von den beiden Jungen, die kurz innehielten und zu ihm hersahen. Hark lachte laut und wollte ihnen etwas zurufen, als sein Blick kurz den Boden der Eisscholle streifte. Etwas bewegte sich darunter. Ein dunkler Schatten. Zu spät begriff er, dass es sich dabei um das Wasser der Ostsee handelte, die durch das zentimeterdünne Eis schimmerte. Im gleichen Augenblick brach die Scholle beinahe genau in der Mitte und Hark vollführte einen schmerzhaften Spagat. In seiner Verzweiflung klammerte er sich an die Stange, als die beiden Hälften des Eises unter ihm wegdrifteten.

Jemand lachte laut und meckernd.

Hark schrie auf. Entsetzen und Todesangst machten sich in ihm breit und wuchsen in rasendem Tempo zu einem brüllenden Ungetüm heran. Dann kippte er vornüber und tauchte in die eiskalte Ostsee.

Seine Schreie verstummten, kaum dass das dunkle Wasser über seinem Kopf zusammengeschlagen war 

Hark blinzelte die Erinnerungen fort und schirmte seine Augen mit der Hand gegen die Mittagssonne ab. Sein Blick wanderte für einige Sekunden über die Ausläufer der Flensburger Förde. Drüben, auf der anderen Seite: Sonderburg – zum Greifen nah, nur fünfzehn Minuten entfernt, wenn man ein gutes Boot besaß. Schroffe Küsten, grüne Hügel und Felder; genau wie hier.

Nicht weit von Hark entfernt, dümpelte ein kleiner Fischkutter. An Bord nahm er die Bewegungen von zwei Männern wahr, die dabei waren, ihre Netze einzuholen.

Weiter draußen, in der Fahrrinne, zog gerade ein größerer Kahn vorbei, Richtung Flensburg. Das gemächliche Brummen und Tuckern der Motoren drang bis hierher.

Hark wandte sich vom Wasser ab, das seichte Wellen gegen einen Strand spülte, der von faustgroß geschliffenen grauen Steinen übersät war, die ihn an manchen Stellen für Wanderer nahezu unpassierbar machten.

Wie lange war es her, seitdem er das letzte Mal hier unten gewesen war? Er dachte einen Moment lang ernsthaft über diese Frage nach, bevor er den Versuch abbrach. Er wusste es nicht. Und was spielte es für eine Rolle? Er war kein Heimkehrer. Noch heute würde es ihn wieder fortziehen, zurück in die Stadt, die er kennen und lieben gelernt hatte.

Hark schob die Gedanken beiseite wie ein lästiges Insekt und setzte seinen Weg fort. Zu seiner Rechten erhob sich die Steilküste mit ihren grün bewachsenen Hängen, die stellenweise durch kahle, lehmige Abschnitte unterbrochen wurden. Hier und da ragte eine Buche schräg in den Himmel – ein Opfer der stetig nachgebenden Erdmassen, die jährlich von oben abrutschten.

Hark bog das Geäst eines im Wasser liegenden Baumes auseinander und schlüpfte hindurch, immer darauf bedacht, sich keine nassen Füße zu holen. Vor ihm tauchte das alte Fischerhaus im Schatten der Küste auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es früher zur Seeseite hinaus schon ein Fenster gehabt hatte. Fast war er versucht, an das kleine, aus Natursteinen gebaute Haus heranzutreten, um durch die leicht staubigen Scheiben zu sehen. Das Haus hatte eine leise Faszination auf ihn als Kind ausgeübt, weil es scheinbar immer verschlossen war und sich nie jemand dort gezeigt hatte. Genau wie jetzt. Einige Dinge änderten sich nie.

Die Männer auf dem Wasser waren mit ihrer Arbeit fertig. Der Motor des Kutters gab ein dunkles Knurren von sich, und das Boot entfernte sich gemächlich in Richtung der nächsten Markierung.

Hark stieg die drei Zementstufen zur kniehohen Mauer hinauf, die im rechten Winkel zum Wasser verlief und mit der Befestigung des Hauses verbunden war. Er verharrte einen Moment, während der aufkommende Wind an seiner Jacke zerrte, und hielt Ausschau nach der Treppe, die die Küste hinauf führte. Hark entdeckte sie in etwa fünf Metern Entfernung, hinter einigen ausladenden Ästen.

Der Soldatenstieg, wie dieser Weg nach oben genannt wurde, war ein kleiner Pfad, dem während des Deutsch-Dänischen Krieges eine besondere Bedeutung zugekommen war, als österreichische und preußische Soldaten gemeinsam hier herunter und schließlich über die zugefrorene Förde marschiert waren. Über die Jahre musste er mehrfach ausgebessert und befestigt worden sein.

Hark nahm die ersten Stufen und tauchte ein in die Schatten, die von hohen Bäumen und letztlich von der Steilküste selbst geworfen wurden. Wieder fiel ihm die Stille auf. Das Wasser lag hinter ihm; das Geräusch der murmelnden Wellen wurde von dem Mantel des verflochtenen Geästs um ihn herum abgeschirmt.

Die Stufen der Treppe bestanden aus einfachen Brettern, die in den lehmigen Boden eingeschlagen und mit je zwei Bolzen fixiert worden waren. Hark widerstand der Versuchung, sie zu zählen, so wie er es vielleicht als Junge getan haben mochte. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Alles lag so weit zurück.

Das Haus lag hinter einem brusthohen Maschendrahtzaun, der an mehreren Stellen gerissen war. Von dem Gebäude selbst war kaum etwas zu sehen; es war rundherum von einem Gerüst umzingelt, das mit einer Schutzfolie umspannt worden war.

Hark schätze die Entfernung, die das Haus vom Abgrund der Steilküste trennte, auf etwa sechs bis acht Meter, keinesfalls mehr. Er fragte sich, wie lange die Natur benötigen würde, um aus diesem vergleichsweise jämmerlichen Bauwerk einen unansehnlichen Haufen Geröll zu machen. Um genau dies herauszufinden, war er schließlich hier, man hatte ihn eigens dafür hierher kommen lassen.

Ein seltsames Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Etwas, das er nicht erwartet hatte und das auch nicht hierher gehörte. Es stammte von einer Heckenschere, wenn ihn nicht alles täuschte. Sollte Hoffmann die Wartezeit für ein wenig Gartenarbeit genutzt haben? Aber jetzt im Winter und zudem an einem Haus, das nicht sein eigenes war?

Nein, dachte Hark. So einer würde sich ganz bestimmt nicht selbst die Hände schmutzig machen. Hoffmann gehörte eindeutig zu den Menschen, die schneiden ließen.

Hark hätte das Haus auf der Waldseite umrunden müssen, um zur Auffahrt zu gelangen, entschied sich aber dafür, abzukürzen und den direkteren Weg durch eine der Lücken im Zaun zu nehmen. So gelangte er direkt auf das Grundstück, von dem aus man einen einmaligen Blick auf die sonnenbeschienene dänische Küste hatte. Einmalig, dachte Hark, aber nicht unbezahlbar. Ein trockener Zweig knackte unter seinem Schuh, als Hark sich von der Küste abwandte und auf das Haus zutrat. Beinahe im selben Augenblick hörte das schneidende Geräusch auf.

Hark reckte den Hals, doch es war niemand zu erkennen. Wer immer hier war, musste sich auf der anderen Seite befinden. Er wusste später nicht mehr, was es gewesen war, doch irgendetwas ließ ihn in diesem Moment nach links blicken, wo das Haus unter seiner Haube verborgen lag. Anfangs dachte Hark, es wäre der Wind gewesen, der das lose Ende der Folie zu fassen bekommen hatte und es mal in die eine, mal in die andere Richtung flattern ließ. Dann kam ihm die Erkenntnis, dass etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Hinter der nur halb durchsichtigen Folie zeichnete sich der Schatten eines Menschen ab. Und er hatte sich in dem Moment bewegt, in dem Hark seinen Blick über das Gerüst schweifen ließ. Jetzt stand er still. Wartete.

„Herr Hoffmann?“ Hark hatte mit kräftiger Stimme gerufen, aber seine Worte klangen hier oben auf seltsame Weise fehl am...