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Mein deutsches Dschungelbuch

Wladimir Kaminer

 

Verlag Manhattan, 2003

ISBN 9783894801632 , 256 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR

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    Zeit der Vergebung
    Die Zehn Gebote - Anspruch und Herausforderung
    Hurentaten - Die Erlebnisse eines Wiener Mädchen
    Mein Herz kennt die Antwort
    Bleib cool, Papa - Guter Rat für viel beschäftigte Väter
  • HÜTTE - Das Ingenieurwissen
    Challenges to The Second Law of Thermodynamics - Theory and Experiment
    Beständigkeit von Kunststoffen (Zweibändige Ausgabe)
    Service Märkte- Die Neuen Dienstleister
    Elfenkind - Ein Vampir auf der Suche nach der Wahrheit. Und ein Elfenkind, das den Schlüssel zu allem in sich trägt ...
    Alphavampir (Alpha Band 2) - Fortsetzung der Paranormal Romance um eine Gruppe Gestaltwandler
    Du gibst das Leben - Das sich wirklich lohnt

     

     

 

 

Die ersten zehn Jahre in der Bundesrepublik verbrachte ich in Berlin. Und jedes Mal, wenn wir mit Freunden in der Kneipe saßen und über Deutschland redeten, wollte mir keiner zuhören: »Du kennst dieses Land doch überhaupt nicht, Berlin ist nicht Deutschland, und der Prenzlauer Berg erst recht nicht. Du hast keine Ahnung, was hier wirklich los ist«, meinten sie.
»Was ist denn der Prenzlauer Berg, wenn er nicht Deutschland ist?«, fragte ich.
»Ein Schwabenland im Herzen Europas«, »ein Künstlernest«, »des Deutschen inneres Exil«, »das Russendorf«, meinten meine deutschen Freunde und lachten.
Ich hatte damals keine große Lust, in die Provinz zu fahren. In der Millionenstadt Moskau aufgewachsen, später in die Millionenstadt Berlin gezogen, hielt ich nicht viel von einem »glücklichen Dasein auf dem Land«. Der Alltag in einer Kleinstadt, wo alle einander kennen, alle gleichzeitig ins Bett gehen, gleichzeitig aufstehen und wo der Briefträger mit seinem Vornamen begrüßt wird, kam mir gruselig vor. In Russland war ich immer davon überzeugt gewesen, dass alle meine Landsleute nur einen Traum hatten, nämlich nach Moskau zu ziehen. Gott sei Dank schaffte das nicht jeder - nur jeder Zehnte. In Deutschland stellte ich mir die Situation ähnlich vor. In der Provinz würden wahrscheinlich nur diejenigen leben, die aus finanziellen, privaten oder gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage waren, nach Berlin oder München zu ziehen, dachte ich naiv.
Vor drei Jahren, als ich mein erstes Buch »Russendisko« herausbrachte, bekam ich die Gelegenheit, den Großraum Deutschland näher kennen zu lernen, weil mich nacheinander Hunderte von Buchläden, Kulturhäusern, Theatern und ländlichen Clubs zu einer Lesung einluden. Ich fuhr nach Langen und Wellmar, nach Weinberg, Waldbröl, Halberstadt und Hamm und las vor kleinem Publikum. Selbst meine deutschen Freunde wussten nicht immer, wo diese Orte lagen. Ich dagegen wurde zu einem Deutschland-Experten.
»Also Arnsberg, das ist im Süden von Nordrhein-Westfalen, ungefähr 40 Kilometer von Dortmund Richtung Süd-Ost!«, berichtete ich beispielsweise meinen Freunden.
Meine Meinung über die Provinz hat sich dabei mit der Zeit gründlich geändert. Inzwischen weiß ich, dass die Menschen sich überall gerne aufhalten, ihren Wohnsitz, wo immer er auch ist, über alles lieben und sich ein glückliches Leben woanders gar nicht vorstellen können.
Im schlimmsten Provinz-Alptraum würde ihnen nicht einfallen, nach Berlin oder München auszuweichen.
Auf meinen Lesereisen wurde ich überall freundlich empfangen und neugierig aufgenommen, doch unsere hauptstädtische »Russendisko« war bald nirgendwo eine Überraschung mehr. Selbst in der tiefsten Provinz hatten die Omas und Opas schon die Nase voll von Russendiskos. Meine Landsleute, die es in jedem kleinen deutschen Dorf mittlerweile gibt, haben mir nahezu überall den Überraschungseffekt versaut. Wohin ich blickte, fand ich Russen und Russendiskos - an den gottverlassensten Orten. Trotzdem pendelte ich weiter durch Deutschland, und lernte jeden Tag neue Leute und bisher unbekannte Orte kennen. Das Land war voller Geschichten. Mir wurde klar, es war an der Zeit, ein neues Buch zu schreiben. Nicht irgendeines, sondern ein Buch über die deutsche Provinz. Also fing ich an, mir Notizen für ein »Deutsches Dschungelbuch« zu machen. Die ICEs und Interregios wurden zu meinem wichtigsten Arbeitsplatz. Bald wusste ich in allen Zügen, wo das beste Abteil zum Schreiben war. Die unzähligen Hotelzimmer wurden zu meinem zweiten Zuhause. Hier ging ich nachts noch einmal die krakeligen Notizen durch.
Es war kein leichter Job. Unvorbereitet, ohne jegliches geographische und historische Wissen und nur wenig dialektgeschult tourte ich landauf, landab. Je länger ich unterwegs war, umso größer wurde meine Unkenntnis. Das deutsche Bild zerfiel in Tausende kleiner Puzzleteile. Wenn ich, was vorkam, mehr als sieben Orte an einem Stück abklapperte und so jeden Tag in einem neuen Dorf landete, verlor ich oft gänzlich den Sinn für Realität und fühlte mich wie ein Astronaut, der sein Raumschiff nicht mehr im Griff hat. Alles rauschte an mir vorbei, unzählige Wohneinheiten mit eigenartigen Sitten, Vorlieben und Macken, eigenen Helden und Verbrechern. Mal erkannte ich eine Landschaft plötzlich wieder, mal wusste ich überhaupt nicht mehr, wo ich war. Abends bei den Lesungen brachte ich die Namen der Orte durcheinander.
»Ich bin zum ersten Mal in Nordhorn«, begann ich.
»Aber Sie sind gar nicht in Nordhorn, Sie sind in Nordheim«, konterte das Publikum.
Egal, dachte ich, entschuldigte mich und las meine
Geschichten vor. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich, die Fragen dagegen fast immer die gleichen:
»Wie haben Sie unsere Sprache gelernt?«, wunderte sich das Publikum.
»Haben Sie nicht Heimweh?«, »Träumen Sie auf Deutsch oder auf Russisch?«, »Wie gefällt es Ihnen hier bei uns in Deutschland?«
Je kleiner der Ort, umso überzeugter waren die Bewohner, dass sie im einzig wahren Deutschland lebten. Aber zwanzig Kilometer weiter sah dieses Deutschland schon ganz anders aus.
Ich schrieb an meinem Buch weiter, suchte nach typischen Merkmalen, nach Allgemeinheiten und geistigen Knotenpunkten, die dieses Land zusammenhielten. Das, was ich fand, war oft skurril, manchmal erstaunlich und natürlich immer sehr subjektiv. Ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang an die Tagebücher des russischen Schriftstellers von Wisin. Er hatte die Neigung, aus realen Erlebnissen falsche Schlussfolgerungen zu ziehen. Als er vor rund hundert Jahren mit der ersten deutschen Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth fuhr, sah er, wie in seinem Waggon eine große rothaarige Dame einen Jungen beschimpfte und ihn an den Ohren zog. Der Junge schrie vor Schmerz, aber ein Mann, der neben dem Schriftsteller saß, hob nicht einmal den Kopf. Er las konzentriert weiter in seiner Zeitung.
»Die deutschen Frauen haben rote Haare und schlagen gern ihre Kinder«, schrieb der russische Reisende später in sein Tagebuch, »die Männer haben eine Glatze, sie sind ruhig und lesen leidenschaftlich gerne Zeitung.«
Trotz vieler Zweifel wurde mein »Dschungelbuch« immer dicker. Zu Hause im Prenzlauer Berg las ich diese Geschichten meinen Freunden, Kollegen und Nachbarn vor.
»Genau so habe ich mir Bitterfeld immer vorgestellt«, sagte der eine.
»Also Sinsheim habe ich eigentlich ganz anders in Erinnerung«, bemerkte ein anderer.
»Wieso hast du gar nichts über Dinslaken geschrieben? Da komme ich nämlich her!«, fragte ein Dritter.
Sie hörten aber weiter zu, lachten und schüttelten die Köpfe: »Das ist zu skurril, das kann doch nicht wahr sein, das gibt es nirgendwo.