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Das Entdecken erfinden - Unterwegs in meinem Brasilien

Hugo Loetscher

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607109 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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20,99 EUR


 

{7}Unterwegs in meinem Brasilien


(1992)

Nein, zu erklären gibt es nicht viel. Wie soll man eine Liebe erklären? Aber auch was man nicht erklären kann (oder erklären mag), hat eine Geschichte. Selbst wenn sie nicht dort begann, wo es anfing.

Es fing in Portugal an. Nach der Veröffentlichung meines ersten Romans, Abwässer – Ein Gutachten, hatte ich einen Literaturpreis gewonnen, der mir erlaubte, in einem billigen (oder armen?) Land zu leben. Warum Portugal? Mag sein, dass es mit der Vorliebe für Übersehenes zusammenhängt. Ein Land im Rücken Spaniens, das seinerseits hinter den Pyrenäen lag. Der Zufallsentscheid wurde belohnt: Ich habe Lissabon als eine der schönen Städte Europas und die Portugiesen als liebenswertes Volk erlebt. Ein Portugal, das ein europäisches Winkeldasein führte, wo aber mit Selbstverständlichkeit von Luanda, Macau oder Goa gesprochen wurde. Provinzialität und Weltoffenheit, der Schweizer in mir fühlte sich angesprochen.

Über dieses Portugal herrschte Salazar, der mir die Liebe zu seinem Land verdarb. Ein Diktator, der bei uns kaum ernst genommen wurde. Dieses Portugal wählte ich als Filmthema. Das schweizerische Fernsehen war damit einverstanden.

Aber eine Stunde vor Ausstrahlung wurde der Film {8}abgesetzt. Ach Herr Salazar war eine »politische Elegie«. Am Schluss als Großaufnahme die Knochenwand im Gebeinhaus von Évora: »Hier herrscht die totale Demokratie. Aber man könnte mit ihr vorher beginnen.« Die Absetzung des Films weitete sich aus zu einem Skandal, von dem ein junger Autor nur träumen kann.

Der Text fand später Eingang ins Gratisbuch. Der Film selber ging verloren, als das Fernsehen nach Zürich-Oerlikon umzog. Er fand auch keine Aufnahme in die (gedruckte) Filmgeschichte. Es war, wie mich ein Herausgeber belehrte, ein 16-Millimeter-Film und nicht ein 36er. Ich habe mich in diesem Land immer wieder um Millimeter verrechnet.

An einen weiteren oder gar regelmäßigen Aufenthalt in Portugal war kaum mehr zu denken. Dies war umso ärgerlicher, als ich etwas Portugiesisch gelernt hatte. Aber anderseits: Gab es nicht eine lusitanische Welt? Und gehörte zu dieser lusitanischen Welt nicht Brasilien? Führte ein logischer Weg der Portugiesen nicht über den Südatlantik nach Südamerika? Meine Entdeckung Brasiliens verdanke ich einem Diktator und einem Fernsehredaktor, was nicht als Empfehlung gemeint ist.

Ohne es zu beabsichtigen, hatte ich mich literarisch auf Brasilien vorbereitet. Der erste Text, den ich auf Portugiesisch als Ganzes las, war die Predigt des heiligen Antonius an die Fische von António Vieira. In seiner Rollenpredigt übte dieser Jesuit aus dem 17. Jahrhundert schärfste Kritik an den portugiesischen Kolonialisten: »Dass ihr Fische einander fresst, ist ein Skandal. Der ist umso übler, als die großen die kleinen fressen. Umgekehrt wäre weniger schlimm. Da würde ein großer für sehr viele kleine genügen.«

{9}Die Predigt gab ich auf Deutsch heraus und schrieb dazu eine längere Einleitung. Dies schien mir schon deswegen aktuell, weil sich in den sechziger Jahren wieder einmal die biedere Auf‌fassung breitmachte, edle Gefühle und anständige Gesinnung genügten für Literatur. Vieira bot ein Beispiel dafür, wie Moralität und stilistische Verantwortung eine gültige Verbindung eingehen. Das Vorwort erwies sich im Nachhinein als poetische Konfession.

Klar, dass ich beabsichtigte, die Orte aufzusuchen, an denen Vieira gewirkt hatte. Bahia, und hoch im Norden, in Maranhão, São Luís, wo er seine Predigt gehalten hatte.

Aber Brasilien begann in Rio. Und es begann atemberaubend, ohrenbetörend und augenbegeilend.

Der Abflug war kurzfristig entschieden worden, auch wenn es wie nach touristischer Planung aussah. Ich kam an einem Freitagmorgen an. Die erste Begrüßung mit einem cafézinho (Kaffeechen) und die Bekanntschaft mit Tropenfrüchten, deren Namen ich von nun an zu lernen hatte. Ein flüchtiges Flanieren durch die Renommierstraße Rio Branco. Ein koloniales Kloster als historische Reminiszenz und die Schattenschluchten zeitgenössischer Wolkenkratzer. Die erste cachaça (Zuckerrohrschnaps) an der Praça Mauá, damals noch mit Hafenkneipen und Matrosenbetrieb. Ein Tag des Jetlags, aufgekratzt und benommen unter einem feuchtheißen Himmel.

Und am andern Morgen Trommeln, die weckten. Samstag vor dem Karneval. Ich begab mich hinunter vors Hotel und folgte einer musizierenden Gruppe, ließ diese und zog einer anderen nach, hängte mich dort an und ließ mich hier treiben. Von Taumel zu Taumel und von einem Tag in den {10}andern hinein. Der schwarze Junge, der mit einer Hühnerfeder im Kraushaar sich in einen Indio verwandelte. Und die Luxusmasken auf dem Laufsteg, auf dem die Gäste defilierten, die am Opernball teilnahmen. Die kichernden Auf‌tritte der Transvestiten und der Vorbeimarsch der Sambaschulen. In der tonisierten Luft vibrierten Stahl, Glas und Stein, und was eines Klangs fähig war, wurde als Schlagzeug benutzt. Die Anfälligkeit helvetischer Knochen für Rhythmus und Geist, der nicht mehr stark sein mochte, sondern willig wie das schwache Fleisch. Ein Karneval im Hochsommer. Die Körper entledigten sich der Kleider, und in allen Straßen und auf allen Plätzen tanzte die Schönheit der Mulattinnen und Mulatten. Die erste Umarmung. Und dann der Jetlag der Erotik. Und irgendwo und irgendwann der zweite Kuss.

Dann aber war die Stadt plötzlich dunkel und still. Selbst der Verkehrslärm nahm sich diskret aus, was etwas heißen will beim lateinischen Talent fürs Hupen. Man sagt dem Fleisch nur Lebewohl (carne vale), wenn es danach keins mehr gibt. Unsere protestantischen Fasnachten tun sich deswegen so schwer, weil ihnen kein Büßertag droht, der etwas anderes ist als ein Kater. Auch das Toben am Polterabend erhält nur Sinn, wenn anderntags die Asche der Ehe aufs Haupt gestreut wird.

Man hatte mich in Zürich vor dem Abflug gewarnt. Unmöglich, ein Hotelzimmer zu finden. Aber ich fand eins. Und zwar an dem, was man beste Lage nennt. Im Zentrum. In der Nähe des Platzes, wo die Oper, das Nationalmuseum und die Nationalbibliothek, das Justizministerium, das Parlamentsgebäude, der Senat ein Ensemble bilden, Bauten, {11}die daran erinnerten, dass Rio fünf Jahre zuvor noch Hauptstadt war.

Im Einzugsgebiet des Platzes eine Reihe von Theatern und Kleinbühnen. Wegen der vielen Kinos Cinelândia genannt. Ein Platz, der sich zu den Hauptstraßen von Downtown öffnet. Mühelos geht die Geschäftigkeit des Tages über in die Geschäftigkeit des abendlich-nächtlichen Nichtstuns. Gleich anfangs war der Entscheid gefallen, dass ich nie ein Copacabana-Bewohner werden würde. Ohne Zweifel imposant, der geschwungene Strand. Einzigartig die Skyline. Faszinierend, die Promenade abzufahren. Am Tag wie in der Nacht. Kein Rio-Aufenthalt ohne einen Abstecher nach Copacabana, Leme, Leblon, Ipanema oder wie immer die einzelnen Strände und ihre Viertel am Atlantik heißen. Ich blieb ein Bewohner jenes Rio, das an der Guanabara-Bucht liegt, an der es gegründet wurde.

Ich übernahm auch ein Ritual aus Lissabon: bald nach der Ankunft mit der Fähre ans andere Ufer zu fahren und mit einer der nächsten zurückzukehren, um stilgerecht vom Wasser her anzukommen. Hier bringt einen die Fähre nach Niterói, der Schwesterstadt. Und mit der Fähre zurück, sich der Wolkenkratzervielfalt von Rios Downtown nähernd. Auf die Stelle zusteuern, wo einst die Schiffe aus Europa anlegten, und einige repräsentative Bauten sehen, das Rio der Kaiserzeit, von der Fähre an Land gehen und sich als einer unter ihnen fühlen.

Auf diese Bucht ging der Blick vom Hotel Serrador. Er wäre klassischer nicht denkbar. Gegenüber der Zuckerhut und rechts oben die Christus-Statue auf dem Corcovado. Das Spiel des Lichts mit Wasser und Hügel. Eine {12}Landschaft, bei deren Kreation es sich der liebe Gott einfach machte, er wählte als Vorlage die schönste Postkarte.

Aber eines Jahres war das Hotel von der staatlichen Erdölgesellschaft, der Petrobras, gekauft worden. Mein Gepäck ließ alle Handgriffe hängen. Es begann ein nomadisches Hotelsuchen. Bis ich mich fürs Novo Mundo entschied. Und dies nicht zuletzt wegen des Viertels in seinem Rücken. Catete, nach dem früheren Regierungssitz benannt. Ansonsten ein recht gewöhnliches Wohnquartier, gerade dies war ausschlaggebend. Jene Banalität, deren Alltag alle Sightseeings überdauert. Nach wie vor der Blick vom Hotelzimmer auf die Bucht. Nicht mehr Breitleinwand, aber noch ein geschlossenes Bild. Als Hintergrund der Hügelzug am andern Ufer. Und in der Bucht stets Bewegung, ein Tanker, ein Segelschiff oder ein Kriegsschiff auf dem Wasser und in der Luft ein Flugzeug, das vom nationalen Flughafen aufsteigt, und die krabbelnden Kabinen der Schwebebahn vom Zuckerhut. Zu Füßen die Praia Flamengo. Ein Strand, an dem wegen der Verschmutzung das Baden verboten ist. Acht- oder zehnspurige Straßen. Aufgeschüttetes Terrain, von einem Landschaftskünstler gestaltet. Eine Anlage, in der es gefährlich wurde zu flanieren. Mit Fußballfeldern. Bis Mitternacht und darüber hinaus Jugendliche, die hier spielen. Straßenjungen, elternlos und ohne Heim, profitieren von der Leere, der Kühle und dem Flutlicht. Die meisten dunkelhäutig wie Pelé. Sie träumen mit den Füßen, mit denen sie gegen den Ball treten, und ihr aussichtsloses Leben gewinnt ein Ziel, ein Tor und eine Latte.

Rio blieb Anflughafen für Südamerika, auch wenn sich inzwischen einiges bei Ankunft und Einfahrt geändert hat.

{13}Als wir bei meinem ersten Flug nach Südamerika den...