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Einer von uns - Die Geschichte eines Massenmörders

Åsne Seierstad

 

Verlag kein & aber, 2016

ISBN 9783036993294 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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19,99 EUR


 

Ein neues Leben (1979)


»Man will geliebt werden, mangels dessen bewundert, mangels dessen gefürchtet, mangels dessen gehasst und verachtet. Man will irgendein Gefühl in den Menschen wecken. Die Seele schreckt vor der Leere zurück und sucht um jeden Preis Kontakt.«1

Hjalmar Söderberg, Doktor Glas (1905)

Es war einer jener klaren, kalten Wintertage, an denen Oslo funkelt. Die Sonne, die die Menschen schon fast vergessen hatten, ließ den Schnee glitzern. Passionierte Skiläufer blickten sehnsüchtig durchs Bürofenster auf die weißen Berge, die Sprungschanze und den blauen Himmel.

Stubenhocker verfluchten die zwölf Minusgrade, denn wenn sie hinausmussten, zitterten sie in dicken Pelzjacken und gefütterten Stiefeln. Die Kinder trugen mehrere Schichten Wolle unter den Schneeanzügen, Schreie und Quietschen tönten von den Rodelhügeln der Kindergärten, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, seit immer mehr Frauen zur Arbeit gingen.

Vor der alten Klinik im Norden der Stadt hatten die Räumfahrzeuge Berge von Schnee aufgetürmt. Er knirschte unter den Füßen der Besucher.

Es war ein Dienstag, der 13. Februar.

Am Haupteingang fuhren Autos vor, aus denen werdende Mütter stiegen, gestützt von werdenden Vätern. Sie waren ganz in ihr persönliches Drama vertieft, gespannt auf das neue Leben, das zu ihnen kommen würde.

Seit den frühen Siebzigerjahren durften auch Väter der Geburt in norwegischen Kliniken beiwohnen. Anstatt auf dem Gang hin und her zu laufen und auf Schreie zu warten, durften sie nun zusehen, wie der Kopf ihres Babys herauskam. Sie rochen das Blut und hörten den ersten Schrei ihres Kindes. Die Mutigsten unter ihnen bekamen von der Hebamme eine Schere in die Hand gedrückt, um die Nabelschnur zu durchtrennen.

Die Gleichstellung der Geschlechter und eine neue Familienpolitik waren typische Slogans des Jahrzehnts. Haus und Kinder waren keine reine Frauensache mehr, die Väter waren von Anfang an in die Erziehung involviert, schoben Kinderwagen und kochten Babybrei.

Auf einem der Zimmer litt eine Frau große Schmerzen. Die Wehen waren heftig, aber das Baby wollte nicht kommen. Sie war schon neun Tage über dem Termin.

»Nimm meine Hand!«, stöhnte sie zu dem Mann, der am Kopfende stand. Er ging zu ihr, ergriff ihre Hand und hielt sie fest. Es war sein erstes Mal. Zwar hatte er drei Kinder aus einer früheren Ehe, aber damals war er folgsam draußen geblieben, bis er die Kinder sauber eingewickelt in Empfang nehmen durfte – zwei in Hellblau, eines in Rosa gehüllt.

Die Frau keuchte, der Mann hielt ihre Hand.

Sie hatten sich vor einem Jahr in der Waschküche eines Mietshauses in Frogner kennengelernt. Sie wohnte in einer Einzimmerwohnung im Erdgeschoss zur Miete, er besaß eine größere Wohnung im ersten Stock. Er – ein frisch geschiedener Diplomat auf Heimatdienst nach zwei Stationierungen in London und Teheran. Sie – Krankenpflegehelferin und alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter. Er war dreiundvierzig Jahre alt, mager und hatte schütteres Haar, sie war elf Jahre jünger, schlank, hübsch und blond.

Kurz nach ihrer ersten Begegnung war sie schwanger. Sie heirateten in der norwegischen Botschaft in Bonn, wo er an einer Konferenz teilnahm. Er verbrachte eine Woche dort, sie nur zwei Tage, während eine Freundin auf ihre Tochter aufpasste.

Am Anfang freute sie sich über die Schwangerschaft, aber nach ein oder zwei Monaten überkamen sie Zweifel, und sie wollte das Kind nicht mehr haben. Immer, wenn seine drei Kinder zu Besuch kamen, wirkte er kühl und distanziert. Der Mann schien keine Freude an Kindern zu haben – sollte sie wirklich noch ein Kind mit ihm in die Welt setzen?

Im selben Monat, als sie schwanger wurde, hatte das norwegische Parlament mit einer Stimme Mehrheit für das Recht auf selbstbestimmte Abtreibung gestimmt. Das neue Gesetz sah die unbedingte Selbstbestimmung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche vor. Aber es sollte erst ein Jahr später in Kraft treten, und außerdem hatte sie schon zu lange gezweifelt. Es war zu spät.

Schon bald litt sie unter so heftiger Übelkeit, dass sie eine Abneigung gegen das kleine Leben entwickelte, das in ihr heranwuchs. Das kleine Herz schlug gleichmäßig und kraftvoll, der Fötus entwickelte sich völlig normal. Es gab keinerlei Anzeichen von Abnormalität, kein Klumpfuß, keine überflüssigen Chromosomen, kein Wasserkopf. Im Gegenteil, es war ein lebhaftes Baby, vollkommen gesund nach Ansicht der Ärzte, lästig nach Ansicht der Mutter. »Ich glaube, er tritt mich absichtlich, um mich zu quälen«, sagte sie.

Bei der Geburt war der Junge bläulich.

Abnormal, dachte die Mutter.

Gesund und munter, sagte der Vater.

Es war zehn vor zwei am Nachmittag. Der Junge begann sofort zu schreien. Eine normale Geburt, laut Klinikbericht.

In der Aftenposten stand folgende Geburtsanzeige:

Aker Hospital. Ein Junge.

13. Februar. Wenche und Jens Breivik.

Später würde jeder der beiden seine Version der Geschichte erzählen. Sie würde sagen, die Geburt sei grausam gewesen, er würde sagen, es sei gut gelaufen.

Bestimmt sei das Kind von den vielen Schmerzmitteln geschädigt, die sie bekommen hatte, meinte die Mutter. Mit dem Jungen sei alles in Ordnung, meinte der Vater.

Noch später würden ihre Meinungen über jede Kleinigkeit auseinandergehen.

Das norwegische Außenministerium hatte flexible Regeln für junge Eltern eingeführt und erlaubte frischgebackenen Vätern, in der Zeit nach der Geburt daheimzubleiben. Doch als Wenche aus der Klinik nach Hause kam, fehlte etwas Entscheidendes:

Ein Vater, der keinen Wickeltisch für sein Neugeborenes besorgt, kann es nicht lieben, fand Wenche. Es bedrückte sie, dass sie das Baby auf dem Boden im Badezimmer wickeln musste. Jens wechselte sowieso keine Windeln, er war von der alten Schule. Sie fütterte das Baby, wiegte es und sang es in den Schlaf. Sie gab ihm die Brust, bis sie wund war. Dunkelheit ergriff sie, der gesamte Frust ihres Lebens verdichtete sich zu einer tiefen Depression.

Schließlich schrie sie ihren Mann an, er solle endlich einen Wickeltisch kaufen. Jens tat es, aber von da an war ein Keil zwischen sie geschlagen.

Der Junge wurde auf den Namen Anders getauft.

Als Anders sechs Monate alt war, wurde Jens zum Botschaftsrat an der norwegischen Botschaft in London ernannt. Er zog nach England, Wenche und die Kinder kamen kurz vor Weihnachten nach.

Sie war viel allein in der großen Wohnung in Prince’s Gate, in der die Hälfte der Räume brachlagen. Ihre Tochter ging auf eine englische Schule, und Wenche blieb mit Anders und dem Au-pair zu Hause. Das Leben in der Großstadt machte sie nervös. Wenche kapselte sich immer mehr in ihrer eigenen Welt ein, wie sie es als kleines Kind oft getan hatte.

Noch vor kurzer Zeit waren sie verliebt gewesen, davon zeugte – daheim in Oslo – eine ganze Schachtel voller Liebesbriefe von ihm.

Und nun lief sie nervös in der riesigen Wohnung umher und bereute alles. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie Jens geheiratet und sich durch das Baby an ihn gebunden hatte. Schon länger waren ihr Eigenschaften an ihrem Mann aufgefallen, die sie überhaupt nicht mochte. Er war manchmal sonderbar und unfähig, auf andere einzugehen. Immer wollte er seinen Willen durchsetzen. Ich darf mich nicht an ihn binden, hatte sie schon früh gedacht, aber genau das hatte sie getan.

Bei ihrer Hochzeit war sie schon mehrere Monate schwanger gewesen. Sie hatte die Augen geschlossen und gehofft, dass alles gut enden würde. Schließlich hatte er auch seine guten Seiten, er war freundlich, großzügig und ordentlich. Seine Arbeit schien er gut zu machen, er war viel außer Haus, auf Empfängen und zu anderen offiziellen Anlässen. Sie hoffte, dass ihr Zusammenleben besser werden würde, wenn sie eine echte Familie waren.

In London wurde sie immer unglücklicher. Sie hatte das Gefühl, dass er nur für den äußeren Anschein und ein sauberes Heim eine Ehefrau brauchte, denn das war ihm am wichtigsten. Nicht seine Frau und auch nicht sein Sohn.

Sie fand, er habe sich ihr aufgedrängt. Er hingegen fand sie zu distanziert und meinte, sie sei zu wenig für ihn da. Sie habe ihn ausgenutzt und aus egoistischen Motiven geheiratet.

Im Frühjahr fiel Wenche in eine tiefe Depression, doch sie wollte es nicht wahrhaben und schob es auf die fremde Umgebung. Sie konnte ihren Mann und ihr Dasein nicht mehr ertragen.

Schließlich packte sie die Koffer.

Jens war bestürzt, als sie ihm eröffnete, dass sie die Kinder mit nach Oslo nehmen wolle. Er bat sie zu bleiben, aber es schien leichter, einfach zu gehen.

Also ging sie. Weg von Jens, weg vom Hyde Park, der Themse, dem grauen Wetter, dem Au-pair, dem Hausmädchen, dem privilegierten Leben. Ein halbes Jahr hatte sie es als Frau des Botschaftsrats ausgehalten.

Zurück in Oslo reichte sie die Scheidung ein. Sie war wieder allein, diesmal mit zwei Kindern.

Wenche war ganz auf sich selbst gestellt. Zu ihrer eigenen Familie, die aus der Mutter und zwei Brüdern bestand, hatte sie keinen Kontakt, ebenso wenig zum Vater ihrer Tochter. Er war Schwede, hatte sie kurz nach der Geburt verlassen und seine Tochter nur einmal im Alter von wenigen Monaten gesehen.

»Wie konntest du nur das angenehme Leben in London aufgeben?«, fragte eine ihrer wenigen Freundinnen.

Es habe nicht an London gelegen, antwortete Wenche, sondern an ihrem Mann. Eigensinnig, aufbrausend und...