dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Ehefrau - Roman

Meg Wolitzer

 

Verlag DUMONT Buchverlag, 2016

ISBN 9783832189297 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

8,99 EUR


 

Eins

In dem Augenblick, in dem ich beschloss, ihn zu verlassen, in dem Augenblick, in dem ich dachte: Es reicht, befanden wir uns zehntausend Meter über dem Meer; wir rasten vorwärts und erweckten doch äußerlich den Anschein von Ruhe und Gelassenheit. Genau wie unsere Ehe, hätte ich sagen können, aber warum in diesem Moment alles zerstören? Wir sonnten uns im Glanz der ersten Klasse, einen flüchtigen Augenblick lang aller Ängste und Sorgen enthoben; es gab keine Turbulenzen, der Himmel strahlte, und irgendwo zwischen den anderen Fluggästen saß möglicherweise sogar ein Flugsicherheitsbegleiter in dröger Reisendenkostümierung, stocherte vielleicht in einer kleinen Schale voll fettiger Nüsse herum oder war der zombieesken Prosa der Bordmagazine zum Opfer gefallen. Die Getränke waren schon vor dem Start serviert worden, und ehrlich gesagt waren wir beide ziemlich betrunken, saßen da, die Münder halb offen, die Köpfe zurückgelehnt. Frauen in Uniform gingen mit Körben in den Händen die Gänge auf und ab wie eine Flotte sexualisierter Rotkäppchen.

»Ein paar Kekse, Mr Castleman?«, fragte ihn eine Brünette und beugte sich mit einer Gebäckzange zu ihm hinunter, und während ihre Brüste sich nach vorn schoben und wieder zurückzogen, konnte ich sehen, wie sich in ihm der uralte Mechanismus der Erregung surrend in Bewegung setzte wie ein elektrischer Bleistiftspitzer; ein Anblick, der sich mir in all den Jahrzehnten tausendfach geboten hatte. »Mrs Castleman?«, fragte die Frau auch mich, aber ich lehnte ab. Ich wollte ihre Kekse nicht, ich wollte gar nichts von ihr.

Wir waren auf dem Weg zum Ende unserer Ehe, bewegten uns auf den Punkt zu, an dem ich endlich den Stecker ziehen und mich von dem Ehemann trennen dürfte, mit dem ich Jahr für Jahr zusammengelebt hatte. Wir waren auf dem Weg nach Helsinki, Finnland, ein Ort, an den man nie denkt, es sei denn, man hört gerade Sibelius, liegt auf den heißen, feuchten Brettern einer Sauna oder isst eine Portion Rentier. Die Kekse waren verteilt, die Getränke eingeschenkt, und überall um mich herum waren Bildschirme in Position gebracht worden. Im Moment verschwendete hier niemand einen Gedanken an den Tod, so wie wir es zuvor getan hatten, als eine ganze Flugzeugladung voll Menschen – Economy, Business und die paar Auserwählten der ersten Klasse – inmitten des traumatischen Grollens und Kerosingestanks und des fernen, kreischenden Geschreis der in den Motoren gefangenen Furien ihre Gedanken zu einem einzigen vereinigt hatte, um die Maschine in die Luft zu zwingen wie das Publikum eines Illusionisten, das per Willenskraft einen Löffel zu biegen versucht.

Und natürlich bog sich der Löffel jedes einzelne Mal, stets neigte sich sein Kopf hinab wie die schwere Blüte einer Tulpe. Und wenn sich auch nicht jedes einzelne Flugzeug in die Luft erhob – unseres tat es an diesem Abend. Mütter verteilten Malbücher und kleine Tütchen mit Knabbereien, in denen sich krümeliger Bodensatz gebildet hatte; Geschäftsmänner klappten Laptops auf und warteten darauf, dass die flackernden Bildschirme zur Ruhe kamen. Der getarnte Flugsicherheitsbegleiter, wenn er denn an Bord war, aß, streckte sich und legte sich seine Pistole unter einem kleinen, rechteckigen Stück statisch aufgeladener Kunstfaserdecke zurecht, und unser Flieger erhob sich in den Himmel, bis er in der gewünschten Höhe hing, und ich fasste endlich den festen Entschluss, meinen Mann zu verlassen. Endgültig. Mit absoluter Sicherheit. Einhundertprozentig. Unsere drei Kinder waren fort, fort, fort, alle aus dem Haus, und es gab nichts, das meine Meinung ändern, mich kneifen lassen würde.

Er sah plötzlich zu mir herüber, betrachtete mein Gesicht und sagte: »Ist irgendwas? Du siehst ein bisschen … ich weiß nicht, wie, aus.«

»Nein, es ist nichts«, erwiderte ich. »Jedenfalls nichts, worüber man jetzt reden müsste.« Das reichte ihm als Antwort; während er sich wieder seinem Teller mit Keksen zuwandte, blähte ein kurzes Aufstoßen seine Wangen wie die eines Frosches. Es war nicht einfach, diesen Mann aus der Ruhe zu bringen; er hatte alles, was er sich nur wünschen konnte.

Er war Joseph Castleman, einer jener Männer, denen die Welt gehört. Sie kennen diese Sorte Mann: diese wandelnden Werbebanner für sich selbst, diese schlafwandelnden Riesen, die durch die Welt ziehen und dabei andere Männer, Frauen, Möbelstücke, Dörfer aus dem Weg räumen. Warum sollte sie irgendetwas kümmern? Es gehört alles ihnen, die Meere und die Gebirge, die bebenden Vulkane, die sich anmutig dahinschlängelnden Flüsse. Diese Sorte Mann kommt in unterschiedlichen Darreichungsformen daher: Joe war die Schriftstellerversion, ein klein gewachsener, überdrehter Romancier mit Hängebauch, der so gut wie nie schlief, der Weichkäse, Whiskey und Wein liebte und mit allen dreien die Pillen hinunterbeförderte, die seine Blutlipide daran hinderten zu gerinnen wie über Nacht in der Pfanne gelassene Fettreste, der der unterhaltsamste Mensch war, den ich kannte, der nie gelernt hatte, wie man für sich selbst oder andere sorgt, und der seinen Stil und seine Umgangsformen größtenteils Dylan Thomas entliehen hatte.

Da saß er nun also neben mir auf dem Finnair-Flug 702, und jedes Mal wenn die Brünette mit irgendetwas zu ihm kam, nahm er es an, völlig egal, ob es sich um Kekse, geröstete Erdnüsse, ein Paar schwammartiger Einwegpantoffeln oder einen dampfenden, eng wie eine Thora zusammengerollten Waschlappen handelte. Hätte diese verführerische Keksfrau sich obenrum freigemacht und ihm eine ihrer Brüste angeboten, die Brustwarze mit der Autorität einer Stillberaterin in seinen Mund geschoben, er hätte sie ohne das geringste Zögern angenommen.

Man kann davon ausgehen, dass die Männer, denen die Welt gehört, sexuell hyperaktiv sind – nur nicht unbedingt mit ihren Ehefrauen. Früher, in den Sechzigern, waren Joe und ich ständig in irgendwelche Betten gehüpft, hatten manchmal sogar während der lauen Phase einer Cocktailparty irgendjemandes Schlafzimmertür verbarrikadiert, um einen Berg aus Mänteln zu erklimmen. Draußen wurde gegen die Tür gehämmert, die Leute wollten ihre Mäntel wiederhaben, und wir lachten, ermahnten uns gegenseitig, leise zu sein, und versuchten, unsere Reißverschlüsse zu schließen und alle losen Zipfel unserer Kleidung irgendwie unterzubringen, bevor wir sie hereinließen.

So etwas hatten wir lange nicht mehr getan, aber wenn Sie uns in diesem Flugzeug auf dem Weg nach Finnland gesehen hätten, hätten Sie uns für ein zufriedenes Paar gehalten, hätten geglaubt, dass wir uns nachts noch immer gegenseitig an unseren schwabbeligen Körperteilen berührten.

»Sag mal, willst du noch ein Kissen dazu?«, fragte er mich.

»Nein, ich hasse diese Puppenkissen«, sagte ich. »Ach, und vergiss nicht, deine Beine zu strecken, wie es Dr. Krentz gesagt hat.«

Sie hätten uns gesehen – Joan und Joe Castleman, wohnhaft in Weathermill, New York, momentan Platz 3A und 3B – und ganz genau gewusst, warum wir nach Finnland reisten. Sie hätten uns vielleicht sogar beneidet – ihn um die Kraft, die in seinem massigen, mit leichten Gebrauchsspuren versehenen Körper luftdicht eingeschlossen war, und mich darum, dass ich rund um die Uhr Zugang dazu hatte, so als wäre ein berühmter und brillanter Schriftstellerehemann eine Art Gemischtwarenladen für seine Frau, in dem sie sich jederzeit eine große Dose verblüffenden Intellekt, Schlagfertigkeit und Aufregung holen konnte.

Die Leute hielten uns in aller Regel für ein »gutes« Paar, und das mochte auch irgendwann einmal so gewesen sein, vor langer, langer Zeit, damals, als in Lascaux die ersten Höhlenmalereien an die Wände gekritzelt wurden, als die Welt noch nicht erschlossen und kartografiert und alles noch voller Hoffnung war. Doch schon bald hatten wir die Pracht und die Eigenliebe aller jungen Paare hinter uns gelassen und waren in jenen von Algen durchzogenen Sumpf aufgebrochen, den man taktvoll als die »zweite Lebenshälfte« bezeichnet. Auch wenn ich heute vierundsechzig und für Männer größtenteils so unsichtbar wie ein paar herumwirbelnde Staubflocken bin, war ich doch einmal eine schlanke, vollbusige Blondine, deren Schüchternheit Joe anzog wie ein hypnotisiertes Huhn.

Ich bilde mir nichts darauf ein; Joe wurde immer schon von Frauen angezogen, allen Arten von Frauen, von dem Moment an, als er im Jahr 1930 die Welt durch den Windkanal der Geburtsorgane seiner Mutter betreten hatte. Lorna Castleman, die Schwiegermutter, die ich niemals kennenlernte, war übergewichtig, auf eine sentimentale, dichterische Weise empfindsam und so besitzergreifend, dass sie ihren Sohn mit einer Exklusivität liebte, die sonst den romantisch Liebenden vorbehalten ist. (Andere aus der Gruppe der Männer, denen die Welt gehört, wiederum wurden ihre ganze Kindheit über ignoriert und standen mittags ohne Pausenbrot auf trostlosen Schulhöfen herum.)

Nicht nur Lorna liebte ihn, sondern auch ihre beiden Schwestern, mit denen sie sich die Wohnung in Brooklyn teilte, in der auch noch Joes Großmutter Mims lebte, eine Frau von der Größe einer Fußbank, deren Errungenschaften sich darauf zu beschränken schienen, dass sie eine »sensationelle Rinderbrust« zubereiten konnte. Martin, sein Vater, ein ununterbrochen seufzender, lebensuntauglicher Mann, erlag in seinem Schuhladen einem Herzinfarkt, starb mit einem Paar Sattelschuhe in der Hand, als Joe sieben Jahre alt war, und ließ ihn als Gefangenen in dieser seltsamen weiblichen Zivilisation zurück.

Charakteristisch war die Art und Weise, wie sie ihm mitteilten,...