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Tage der Schuld - Island Krimi

Arnaldur Indriðason

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2017

ISBN 9783732529490 , 446 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Drei


Die Frau, die die Leiche entdeckt hatte, war um die dreißig. Sie erklärte Marian und Erlendur gleich zu Anfang, dass sie an Schuppenflechte litt, und zeigte ihnen zum Beweis die schorfigen Stellen an der Kopfhaut, am Arm und vor allem am Ellbogen. Als sie ihnen auch noch andere Stellen zeigen wollte, befand Marian, es sei genug und winkte ab. Es war ihr offenbar ungeheuer wichtig zu erklären, dass sie nur wegen ihrer Hautkrankheit die Leiche an diesem bizarren und abgelegenen Ort gefunden hatte.

»Meist bin ich dort ganz allein«, sagte sie und blickte Marian an. »Aber anscheinend hat es sich doch schon herumgesprochen. Ich habe gehört, dass inzwischen auch andere hierherkommen, obwohl ich noch nie jemandem begegnet bin. Es gibt hier keine Umkleidemöglichkeiten, aber das macht nichts. Das Wasser hat einfach eine ideale Temperatur, und es tut wahnsinnig gut, darin zu baden.«

Marian und Erlendur hatten die Frau zu ihrem Dienstwagen mitgenommen, der an der Straße nach Grindavík stand. Erlendur saß vorne auf dem Fahrersitz, und Marian hatte sich mit der Frau hinten ins Auto gesetzt. Zwei Streifenwagen und ein Rettungswagen parkten vor und hinter ihnen an der Straße. Die Mitarbeiter der Spurensicherung waren bereits unterwegs. Außerdem hatten sich auch schon zwei Fotoreporter der Tageszeitungen eingefunden, denn die Nachricht vom Leichenfund hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Es gab nicht einmal einen richtigen Weg zur Lagune, die sich vor etwa drei Jahren wegen des Abwassers aus dem geothermalen Energiewerk ganz in der Nähe gebildet hatte. In dem Energiewerk wurde sowohl Heizwasser als auch Strom für die umliegenden Ortschaften produziert. Die Frau hatte den westlichsten Teil des türkisblauen Warmwassersees für sich entdeckt, der von der Straße nach Grindavík aus nur zu Fuß über die mit dickem Moos bewachsene Lava zu erreichen war. An dieser Stelle war der künstliche See sehr flach. Die Frau hatte sich dort eine Stunde lang in dem warmen Wasser entspannt und sich mit dem Heilschlamm aus Kieselerde, Algen und Meersalz eingerieben. Die Tage waren kurz, und die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, deswegen wollte sie zurück zum Auto. Bei ihrem letzten Besuch war es schon so dunkel gewesen, dass sie sich fast zu ihrem Auto hatte vortasten müssen. Das wollte sie diesmal um jeden Preis vermeiden.

»Für mich ist das hier ein wunderbarer Ort, auch wenn er ziemlich gespenstisch wirkt. Das liegt an dem Dampf, der von dem warmen Wasser aufsteigt. Man ist da ganz allein in dieser bizarren Lavalandschaft, und … Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie fürchterlich erschrocken ich war, als ich … Ich hatte mich weiter hinaus in die Lagune gewagt als zuvor, und auf einmal ragte da ein Schuh aus dem Wasser. Erst hab ich natürlich gedacht, es sei einfach nur ein Schuh, den jemand verloren oder weggeworfen hat. Als ich aber danach griff, saß das Ding an irgendwas fest, und ich … ich war so blöd, noch etwas stärker daran zu ziehen. Und dann merkte ich, dass das Ding … dass zu dem Schuh noch ein Bein gehörte.«

Die Frau verstummte. Der Leichenfund hatte sie augenscheinlich sehr verstört, und Marian Briem ging behutsam vor. Die Zeugin hatte es, so gut es ging, vermieden, die Leiche anzusehen, als die Helfer sie zur Straße trugen. Sie tat sich schwer damit, den Kriminalbeamten ihr Erlebnis zu schildern.

Erlendur versuchte, sie zu beruhigen. »Du hast dich angesichts dieser schlimmen Entdeckung wirklich ganz richtig verhalten«, sagte er.

»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie entsetzlich es war. Ich war zu Tode erschrocken. Ich war ja auch ganz alleine.«

Eine halbe Stunde zuvor war Erlendur in eine Anglerhose gestiegen, um in Begleitung von zwei Mitarbeitern der Spurensicherung zu der Leiche zu waten. Marian hatte das rauchend vom Ufer aus verfolgt. Die Polizisten aus Grindavík waren zuerst am Fundort eingetroffen, hatten aber darauf geachtet, vor dem Eintreffen der Kollegen von der Kripo in Reykjavík nichts anzurühren. Die Kriminaltechniker fotografierten die Leiche und die unmittelbare Umgebung. Die Blitze der Kameras beleuchteten die beklemmende Szenerie. Auch ein Taucher war schon unterwegs, der den Boden des künstlichen Sees untersuchen sollte. Erlendur beugte sich über die Leiche und versuchte festzustellen, wie sie an diesen Ort gelangt sein konnte. Das Wasser reichte ihm bis zur Taille. Als die Techniker meinten, genug gesehen zu haben, hatten sie die Leiche aus dem Wasser gehoben und sofort etwas außerordentlich Seltsames bemerkt. Die Extremitäten wiesen an vielen Stellen Frakturen auf, der Brustkasten war eingedrückt, und anscheinend war auch das Rückgrat gebrochen. Die Leiche hing beim Tragen so schlapp herunter wie ein nasser Sack.

Auf einer Bahre war der Körper über die schroffe Lava zum Rettungswagen an der Straße getragen worden, um ihn von dort in die Pathologie des Nationalkrankenhauses in Reykjavík zu überführen. Vor der Obduktion musste sie von dem weißen Kieselschlick befreit werden. Der Abend war schon fortgeschritten, und mit ihm war die Dunkelheit gekommen. Man hatte von Dieselaggregaten betriebene Scheinwerfer aufgestellt, in deren grellem Licht noch besser zu erkennen war, in welch fürchterlichem Zustand sich der Körper des Toten befand. Das Gesicht war eingedrückt, die Schädeldecke war aufgebrochen. Nach der Kleidung zu urteilen, handelte es sich um einen Mann. Er hatte keine Papiere bei sich, anhand deren er identifiziert werden konnte. Wie lange der Mann im Wasser gelegen hatte, ließ sich noch nicht sagen. Der Dampf, der von der Lagune aufstieg, hatte das Seinige zu dem unheimlichen Szenario beigetragen. Es war aber zu dunkel gewesen, um festzustellen, ob noch jemand anderes in der Nähe gewesen war. Die eigentliche Spurensuche würde erst am nächsten Tag erfolgen können.

»Und danach hast du dich sofort an die Polizei gewandt?«, fragte Marian die Zeugin jetzt. Erlendur hatte sich aus der Wathose geschält, bevor er sich ins Auto setzte. Der Motor lief, im Auto war es warm, und die Scheiben waren von innen beschlagen. Scheinwerfer beleuchteten das Gelände, man hörte Stimmen und sah die Schatten von hin und her eilenden Menschen.

»Ich bin so schnell es ging zurück zu meinem Auto, und dann bin ich zur Polizeistation in Grindavík gefahren«, antwortete die Frau. »Dann sind zwei Polizisten mit mir zurückgefahren, ich musste ihnen den Weg zeigen. Dann sind noch mehr Polizeiautos gekommen. Und jetzt ihr. Ich kann bestimmt heute Nacht nicht schlafen. Und wahrscheinlich auch die nächsten Tage nicht.«

»Ja, es ist schlimm, in so eine Situation zu geraten«, sagte Marian in beruhigendem Ton. »Kennst du nicht jemanden, der heute Abend bei dir sein könnte? Damit du nicht ganz allein bist. Und damit du über das reden kannst, was du erlebt hast.«

»Hast du in der Nähe jemanden bemerkt, als du heute Abend hierhergekommen bist?«, fragte Erlendur.

»Nein, bestimmt nicht. Ich hab doch schon gesagt, dass ich hier noch nie andere Leute getroffen habe.«

»Und du kennst auch niemanden, der die Lagune aus denselben Gründen wie du besucht und hier badet?«, fragte Marian.

»Nein. Was ist denn eigentlich mit dem Mann passiert? Habt ihr gesehen, wie schrecklich er … Mein Gott, ich mochte gar nicht hinschauen.«

»Selbstverständlich nicht«, entgegnete Marian.

»Diese Hautkrankheit, diese Schuppenflechte, ist sie schlimm?«, fragte Erlendur.

Marian warf ihm einen raschen Blick zu.

»Es kommen immer mal wieder Medikamente auf den Markt, die diese Krankheit angeblich ein wenig in Schranken halten«, antwortete die Frau. »Aber mir haben sie kaum geholfen. Der Juckreiz ist schlimm, aber noch schlimmer sind all die Stellen am Körper, wo jeder sehen kann, dass ich krank bin.«

»Und es hilft dir, wenn du in diesem Wasser badest?«

»Ja, ich finde schon. Wissenschaftlich ist es wohl nicht erwiesen, aber mir tut es gut.«

Sie lächelte Erlendur an. Marian stellte der Frau noch ein paar Fragen im Zusammenhang mit dem Leichenfund, danach konnte sie gehen. Sie stiegen aus, und die Frau beeilte sich, zu ihrem Auto zu kommen.

Erlendur stand mit dem Rücken gegen den Nordwind und drehte sich zu Marian um. »Ist es nicht ziemlich offensichtlich, weshalb der Mann so übel zugerichtet ist?«, fragte er Marian.

»Du glaubst, dass ihn jemand zu Tode geprügelt hat?«

»Was denn sonst?«

»Ich weiß nur, dass er übel zugerichtet ist. Ja, vielleicht hat er sich hier mit jemandem getroffen, und dabei kam es möglicherweise zu Tätlichkeiten. Und dann sollte er wohl für immer und ewig in der Lagune verschwinden.«

»Irgendwas in der Art.«

»Klingt einleuchtend. Aber ich bin mir trotzdem nicht sicher, dass der Mann zu Tode geprügelt wurde«, entgegnete Marian und fügte hinzu: »Ich habe mir die Leiche angesehen, bevor sie abtransportiert wurde. Die Verletzungen rühren nie im Leben von einer normalen Schlägerei her.«

»Was meinst du damit?«

»Ich habe deformierte Körper gesehen, die aus großer Höhe auf dem Boden aufgeschlagen sind, und genau danach sieht es mir aus. Auch nach einem besonders schweren Verkehrsunfall könnte ein Körper so aussehen. Uns liegen aber keine Meldungen über einen Unfall vor.«

»Wenn es ein Sturz war, dann muss er tatsächlich aus sehr großer Höhe erfolgt sein«, sagte Erlendur. Er blickte sich um und sah zum schwarzen Himmel hinauf. »Es sei denn, er ist von da oben gekommen. Vielleicht ist er vom Himmel gefallen.«

»Um genau hier im See zu landen?«

»Ist das völlig abwegig?«

»Ich weiß nicht …«, entgegnete...