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Das zweite Gesicht

Kai Meyer

 

Verlag MiMe books, 2016

ISBN 9783944866116 , 576 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Vorwort


von Dominik Graf

Die Baumkronen rauschten über ihren Köpfen wie erstarrte Explosionen aus Holz.

Dieses Buch hätte längst verfilmt werden müssen – wenn auch nur irgendetwas in der deutschen Kinobranche stimmen würde. Hier ist der Stoff, der die Weimarer Republik, den Expressionismus-Wahnsinn, Sex, Unschuld, Kokain, deutsche Mythen, Schöpfer-Exzesse, Zerstörungsräusche zusammenfügt, auf einen Punkt bringt. Hitzig und tolldreist und mit einer Hauptfigur, die man im Kino lieben könnte. Solche Kraft und Leidenschaft in einem bundesdeutschen Film-Stoff ist den Trüffel-Suchern und Projekt-Entscheidern aber wohl zuviel. Der Roman liegt seit 2002 vor ihren Augen und sie heben ihn nicht auf. Phantastik boomt weltweit, im Kino, im Comic, in der Literatur, auf den deutschen Buch-Bestsellerlisten ... Phantastik ist wie eine herrliche Sucht, sie erklärt einem die Welt, und wir haben vom Kinderbuch bis zum Erwachsenen-Gothic auch in Deutschland außer Kai Meyer – der allmählich als Ausnahme-Erscheinung gesehen werden muss – noch ein paar andere gute Genre-Autoren. Aber der deutsche Film verweigert sich. Das Geld und die Hoffnung der Funktionäre fließen in bürokratisch inszenierte Event-Movies, kreuzbrave Sozial-Themen-Filmchen, die wie Deutsch-Besinnungsaufsätze erzählt sind, in unweigerlich altbackene Literaturverfilmungen, und in die Büßerhemd-Ästhetik der Berliner-Schule-Filmautoren, die sich leicht fördern lässt, weil sie wenig kostet und man sich auf den Festivals damit schmücken kann. Lediglich der Polizeithriller darf im Fernsehen ab und zu noch grandiose kleine Blüten treiben – aber das deutsche Kino will auch davon nichts wissen. Zu dem Problem befragt würden die Entscheider wahrscheinlich etwas von kommerziellen Bedenken faseln – in Wirklichkeit ist es nur eine Ausrede für ihre Ignoranz, für ihren gnadenlos schlechten Filmgeschmack und für ihre fehlende Leidenschaft zum wahren Kino.

Die Spannung von Kai Meyers Roman hält vom ersten Augenblick bis zum Ende an. Von der verstörenden Vorausblende mit irrer Flucht zu Beginn, über die Rückblende – ein Jahr zuvor –, hinein in die chronologische Erzählung, beginnend mit Chiara, die dem Begräbnis ihrer berühmten Schwester Jula in Berlin beiwohnt. Die Schwestern stammen aus Meißen – das macht sie in unseren Augen per se zerbrechlich. Chiara versucht im Folgenden, die Geheimnisse hinter dem Tod der nach Berlin vorausgegangenen Jula zu ergründen. Sie pflegte daheim ihren todkranken Vater, Jula dagegen hatte das Weite gesucht und wurde eine umjubelte Stummfilmdarstellerin. Die jüngere Schwester geht nun gewissermaßen den Weg der Älteren nach, sozusagen Brian de Palmas Sisters in überraschender, deutscher Variante. Und worauf Chiara dann in den Untiefen des 20er-Jahre-Berlins stößt, das ist ziemlich unfassbar. Aber lesen Sie selbst.

Lesen Sie die Beschreibung der wahnwitzigen Szenerie des Scheunenviertels! Von allen historischen Korrektheiten und Rücksichtnahmen unseres deutschen Film- und Literaturbetriebs befreit schildert Kai Meyer eine entfesselte Sitten-Apokalypse. Das ist herrlicher Groschenroman und Bahnhofskino! Das reiche Berlin kauft sich alles, aber wirklich alles, im armen Berlin. Und die Überlebenden einer Brandkatastrophe in den Filmstudios des durchgeknallten Regisseurs Felix Masken geistern mit ihren monströsen Narben wie die Untoten durch diese Welt. Die Filmleute sind die Schlimmsten!, sagt die zarte Nette. Man munkelt von der Sammlung eines Irren namens Khan, der weibliche Geschlechtsorgane aus Leichen herausschneiden lässt und in Gläsern aufbewahrt. Was für ein Fiebertraum. Lotte Lenya! Anita Berber! Alle die Helden und Heroinen der Weimarer Jahre sind präsent.

Was für Träume könnten wir haben, was für Filme könnten wir machen! Die Besetzungsliste wäre herrlich sich auszudenken. Chiara Mondschein – klar, zum Beispiel Hannah Herzsprung, aber es gibt ja auch so viele andere! Jula – Karoline Herfurth? Und dann Nette und Felix Masken und Konrad Sager und Henriette Hegenbarth – Was könnten wir alles heute für großartige Schauspieler für diese Rollen-Namen aufbieten: Anna Mühe und Ulrich Tukur und Jürgen Vogel und Florian Stetter und Ulrich Noethen und Edgar Selge und die tolle Henriette Confurius oder, oder , oder ...

Es ist letztlich unsere deutsche Filmtradition: von Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau bis zur Alraune von Arthur Maria Rabenalt (die hätte besser sein können) oder zum Rosen blühen auf dem Heidegrab (ein mystischer Film, der durchgängig großartig ist) oder zum exzeptionellen Geheimtipp Sukkubus von Georg Tressler und zu Alfred Vohrers lustvollen Edgar Wallace-Entgleisungen – kurz, es ist genau das Kino, das man sich heute in Blogs und Retros, allgemein in Deutschland herbeiruft und herbeisehnt, das die Funktionäre abwürgen. Sie sind auf diesem Ohr komplett taub (auch wenn ihre Töchter zu Hause Kai-Meyer-Romane en gros verschlingen), die Filmhochschüler ducken sich unter den Stoffpräferenzen der Apparatschiks. Die spezifisch deutsche Filmtradition, die hier moderne Enkel finden könnte, wird ausgetrocknet.

Ok. Das Zweite Gesicht, Göttin der Wüste, Arkadien ... – lasst uns dann eben von den Filmen nach Kai Meyers Stoffen träumen! Wenn uns der Blick der Filmförderungs-Medusa versteinern lässt, dann visionieren wir am besten unter der Maske wie unter einer Grabplatte weiter. Erträumen wir uns doch zum Beispiel eine deutsche Horror- und Phantastikfilmwelle! Teutonenträume sozusagen – allesamt gedreht im Wende-geleerten Brandenburger Osten, im wundervollen Märchen-Thüringen (wie die Italowestern in Spaniens Wüstenregionen damals). Träumen wir davon, das 2er-Jahre-Berlin aus dem Zweiten Gesicht in NRW-Studio-Kulissen (NRW hat mehr Geld zu vergeben als die unglückselige Berliner Filmförderung) digital wieder zu errichten. Und vielleicht sollte die teutonische Welle auch auf den schwarzen Vulkansteinen der deutschen Urlauber-Fantasy-Insel Lanzarote gedreht werden? Träumen wir davon, dass ein kleiner deutscher Tsunami billiger und teurerer Machart zehn Jahre lang die Filmwelt in Atem halten könnte. Alles – oder die meisten – Stoffe von Kai Meyer. Und die Welt würde staunen, wie die Deutschen zurückfinden zu dem, wovon sie immer viel verstanden: vom Grauen, von den falschen Tönen, hinter denen sich in der Summe die Wahrheit verbirgt, vom Irrsinn, von der Katastrophe.

Der deutsche Expressionismus hat in der Filmgeschichte ein paar Kinder gezeugt, darunter vor allem den italienischen Giallo der 70er-Jahre, vom Schlitzer-Thriller bis zum Kannibalen-Movie, vom stilistisch würdevollen Großmeister Mario Bava bis zum wilden Dichter Lucio Fulci. Alles sozusagen Fritz Langs wilde Erben. Denn: Der Neorealismus nach dem Krieg war den Italienern nicht genug, um ihre ureigensten Dämonen, für die der Duce nur eine Karikatur war, zu bannen. Die Wirklichkeit reicht eben nicht aus zur Bewältigung des real existierenden Grauens. Auch heute bei uns in Euroland nicht. Irgendwohin muss der Albtraum der Gegenwart sublimiert werden.

Und so wütet in diesen Seiten des Romans Das Zweite Gesicht unter der Oberfläche auch der Horror der deutschen Wende-Neunziger: Man denkt unwillkürlich an die Fackel-Feiereien der BRD-Politiker und ihrer nichtsahnenden Untertanen 1990, man denkt an bald darauf faulende statt blühende Ost-Landschaften, an den Sieg des Westens über die versklavten „neuen Bundesländer“, an die Raubzüge des Kapitalismus als Herren-Ritual, an die Vernichtungsorgie der Birgit-Breuel-Treuhand an der DDR-Industrie (nachdem die Herren Rohwedder und Herrhausen aus dem Weg geräumt waren, weil sie Anderes, Faireres mit dem Osten im Sinn gehabt hatten) – kurz, es bietet sich einem vor dem inneren Auge durchaus das Bild eines grauenerregenden Vergleichs-Szenarios für die deutschen Jubel-90er, äquivalent zu dem, was Kai Meyer hier über die 20er halluziniert Nach der Wende herrschte gesamtdeutscher Feier-Terror, Berlin außer Rand und Band, Love Parade every day, hilflose oder korrupte Politik stand mit den Händen in den Taschen daneben. Das deutsche Fernsehen verkam in den 90ern zum Privatsender-Zuhälter- und Huren-Markt. Promiskuitive germanische Berlusconiererei allenthalben in den Etagen der Fernsehdirektoren. Die Filmleute sind die Schlimmsten.

2002, als Kai Meyer das Buch schrieb, hatte die aberwitzige Euphorie bei uns schon den Dämpfer der Millionen Arbeitslosen und den Paukenschlag von Nine-Eleven zu spüren bekommen. Aber im Zweiten Gesicht tobt noch eine phantomhafte prä-faschistoide gierige Menge – sozusagen via...