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Die Meisterdiebin - Krimi

Tess Gerritsen

 

Verlag HarperCollins, 2016

ISBN 9783959676021 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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9,99 EUR


 

2. KAPITEL


Die Party auf Chetwynd war noch in vollem Gange. Durch die Fenster des Ballsaals drangen Gelächter, Geigenmusik und das Klingen von Champagnergläsern. Jordan stand auf der Einfahrt und überlegte, wie er sich am unauffälligsten wieder unter die Gäste mischen konnte. Sollte er die Hintertreppe wählen? Nein, dann musste er durch die Küche gehen und würde den Verdacht der Dienstboten erregen. Über die Rankhilfe in Onkel Hughs Schlafzimmer zu klettern, war auch keine Alternative, denn er hatte in dieser Nacht schon genug mit Kletterpflanzen gerungen. Er würde einfach durch die Vordertür hineingehen und hoffen, dass die anderen schon so vom Champagner berauscht waren, dass sie seinen derangierten Zustand nicht bemerkten.

Er richtete seine Fliege und bürstete die Spuren seines Ausflugs vom Jackett. Dann betrat er das Haus durch den Haupteingang.

Zu seiner Erleichterung war die Empfangshalle verwaist. Auf Zehenspitzen ging er an der Tür zum Ballsaal vorbei und stieg die geschwungene Treppe hinauf. Kaum hatte er den ersten Absatz erreicht, als ihn eine Stimme zusammenfahren ließ.

„Wo um alles in der Welt bist du gewesen?“

Er unterdrückte einen Seufzer und drehte sich um. Am Fuß der Treppe stand seine Schwester Beryl. Mit ihren geröteten Wangen sah sie noch entzückender aus als sonst. Sie hatte ihr schwarzes Haar zu einer eleganten Frisur getürmt und um den Kopf geschlungen, und das grüne Samtkleid betonte den schimmernden Glanz ihrer Schultern. Es tat ihr so gut, verliebt zu sein. Seit ihrer Verlobung mit Richard Wolf vor einem Monat hatte Jordan sie kaum ohne ein Lächeln im Gesicht gesehen.

In diesem Moment lächelte sie allerdings nicht.

Verwundert betrachtete sie sein zerknittertes Jackett, seine verschmutzten Hosenbeine und seine schlammverkrusteten Schuhe. Sie schüttelte den Kopf. „Ich wage nicht zu fragen.“

„Dann tu es auch nicht.“

„Ich frage dich trotzdem, was passiert ist?“

Er drehte sich um und nahm die nächsten Stufen. „Ich bin spazieren gegangen.“

„Mehr nicht?“ Der Stoff ihres Kleides raschelte vernehmlich, als sie hinter ihm die Treppe hinaufeilte. „Erst willst du, dass ich diesen entsetzlichen Guy Delancey einlade, der, nebenbei bemerkt, den Champagner nur so in sich hineinschüttet und allen Damen an den Hintern greift. Und dann verschwindest du und tauchst in diesem Zustand wieder auf.“

Er ging in sein Schlafzimmer.

Sie folgte ihm.

„Es war ein langer Spaziergang“, erklärte er.

„Es war eine lange Party.“

„Beryl.“ Seufzend drehte er sich zu ihr um. „Das mit Guy Delancey tut mir wirklich leid, aber ich kann im Moment nicht darüber reden. Ich würde einen Vertrauensbruch begehen.“

„Ich verstehe.“ Sie ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal zu ihm um. „Du weißt, dass ich ein Geheimnis für mich behalten kann.“

„Ich kann es auch.“ Jordan lächelte. „Deshalb sage ich kein Sterbenswörtchen.“

„Du solltest dich besser umziehen. Sonst fragt dich nachher noch jemand, warum du an Glyzinienranken herumgeklettert bist.“ Damit schloss sie die Tür hinter sich.

Jordan blickte an sich hinunter. Jetzt erst merkte er, dass er noch ein verräterisches Blatt übersehen hatte. Es steckte wie eine kleine Flagge in seinem Knopfloch.

Er zog einen sauberen Smoking an, kämmte sich die Zweige aus den Haaren und ging hinunter zu den Gästen.

Obwohl es bereits nach Mitternacht war, floss der Champagner weiterhin reichlich. Die Stimmung war immer noch so ausgelassen wie vor anderthalb Stunden, als er sich davongeschlichen hatte. Er schnappte sich ein Glas von einem Tablett, das herumgereicht wurde, und mischte sich unauffällig unter die Feiernden. Niemand kommentierte seine Abwesenheit, wahrscheinlich war sie keinem aufgefallen. Er schlenderte quer durch den Saal zum Büffet, das unter der Last der köstlichen Hors d’œuvres fast zusammenbrach, und wählte ein Stück schottischen Lachs. Einbrechen war anstrengend und machte ziemlich hungrig.

Als er ein Parfüm roch und eine Hand auf seinem Arm spürte, fuhr er herum und blickte in Veronica Cairncross’ fragende Augen. „Und? Wie ist es gelaufen?“

„Nicht ganz so reibungslos, wie geplant. Du hast dich im freien Abend des Butlers geirrt. Er war im Haus. Beinahe hätte er mich erwischt.“

„Oh nein“, stöhnte sie leise. „Dann hast du sie also nicht …“

„Doch. Sie sind oben.“

„Wirklich?“ Plötzlich strahlte sie übers ganze Gesicht. „Oh, Jordan!“ Sie beugte sich vor und umarmte ihn. Dabei schob sie sein Lachskanapee gefährlich nahe an seinen Smoking. „Du hast mir das Leben gerettet.“

„Ich weiß, ich weiß“, seufzte er. Dann sah er, wie Veronicas Mann Oliver auf sie zusteuerte, und löste sich schnell aus ihrer Umarmung. „Ollie kommt“, flüsterte er.

„Wirklich?“ Veronica drehte sich um. Als sie ihn sah, knipste sie ihr 1000-Watt-Lächeln für ihren Ehemann an.

„Offenbar fehle ich dir nicht besonders“, brummte Sir Oliver. Stirnrunzelnd betrachtete er Jordan, als wollte er seine wahren Absichten erraten.

Armer Kerl, dachte Jordan. Jeder Mann, der mit Veronica verheiratet war, verdiente Mitleid. Sir Oliver war ein anständiger Kerl und Abkömmling der ehrbaren Cairncross-Familie, die seit Generationen erfolgreich Teegebäck produzierte. Obwohl er zwanzig Jahre älter war als seine Frau und kahlköpfig wie eine Billardkugel, hatte Veronica sein Werben erhört. Seitdem beglückte er sie mit Schmuck und Diamanten.

„Es ist schon spät, Veronica“, sagte er. „Sollten wir nicht langsam nach Hause fahren?“

„Schon? Es ist doch erst kurz nach Mitternacht.“

„Ich habe morgen früh eine Besprechung. Und ich bin ziemlich müde.“

„Dann werden wir wohl gehen müssen“, seufzte Veronica. Sie lächelte Jordan verschmitzt an. „Ich glaube, ich werde heute Nacht sehr gut schlafen.“

Hoffentlich mit deinem Mann, dachte Jordan.

Nachdem sich die Cairncross verabschiedet hatten, blickte Jordan an sich hinunter und entdeckte ein Stückchen Lachs an seinem Revers. Mist! Noch ein versauter Smoking. Er versuchte den Fleck so gut wie möglich zu beseitigen, dann schnappte er sich sein Champagnerglas und tauchte wieder in der Menge unter.

Er entdeckte seinen zukünftigen Schwager und ging auf ihn zu. Richard Wolf stand neben der Band und sah so glücklich und beschwipst aus, wie es sich für einen baldigen Bräutigam gehörte.

„Und? Wie macht sich unser Ehrengast?“, fragte Jordan.

Richard grinste. „Zurzeit legt er eine Pause ein, was das Händeschütteln angeht.“

„Gute Idee. Man sollte mit seinen Kräften haushalten.“ Hinter Jordans Rücken erklang ein keckerndes Lachen, und er drehte sich um, um zu sehen, wer sich so amüsierte. Natürlich! Es war Guy Delancey, der schon einiges intus hatte und sich einer jungen vollbusigen Schönheit bis auf wenige Millimeter genähert hatte. „Leider ist nicht jeder hier der Ansicht, dass er mit seinen Kräften haushalten sollte“, stellte Jordan fest.

Auch Wolf beobachtete Guy Delancey. „Der Kerl hat tatsächlich versucht, Beryl anzubaggern, und das vor meinen Augen.“

„Hast du ihre Ehre verteidigt?“

Richard lachte. „Das brauchte ich nicht. Sie kann ihre Ehre sehr gut selbst verteidigen.“

Guy Delancey hatte seine Hand inzwischen auf den Rücken der drallen Schönheit gelegt und begann, sich langsam in tiefere, riskantere Regionen vorzuarbeiten.

„Was finden die Frauen nur an so einem Typen?“, fragte Richard.

„Vielleicht Sex-Appeal?“ Immerhin sah Delancey sehr südländisch und leicht verwegen aus. „Wer kann schon sagen, was Frauen zu gewissen Männern zieht?“ Weiß der Himmel, was Veronica Cairncross so an Guy faszinierte! Aber jetzt war sie ihn los, und wenn sie klug war, würde sie den Pfad der Tugend von nun an nicht mehr verlassen. Oder sich zumindest sehr gut überlegen, mit wem sie auf den Seitenpfaden flanieren wollte.

Jordan sah Richard an. „Sag mal, hast du jemals etwas von einer Sicherheitsfirma namens Nimrod gehört?“

„Ist das ein heimisches oder ein ausländisches Unternehmen?“

„Keine Ahnung. Ich nehme an, die haben hier irgendwo ihren Sitz.“

„Ich kenne sie nicht, aber ich kann mich gern für dich erkundigen.“

„Würdest du das tun? Das wäre sehr nett.“

„Warum interessiert dich diese Firma?“

„Ach …“ Jordan zuckte beiläufig mit den Schultern. „Der Name wurde heute Abend mal erwähnt.“

Richard musterte ihn nachdenklich. Verdammt, Richard fuhr seine Antennen aus. Das lag an seiner Vergangenheit als Geheimagent und war eine Eigenschaft, die je nach Perspektive entweder hilfreich oder nervig war. Man konnte praktisch sehen, welche Fragen ihm durch den Kopf schossen. Jordan musste auf der Hut sein.

Glücklicherweise trat Beryl just in diesem Moment zu ihnen und küsste ihren Zukünftigen, worauf der alles um sich herum vergaß. Noch ein Kuss und eine Umarmung, und der arme Richard würde in seiner Fantasie versinken.

Ach, junge Liebende und ihre Hormone, die rund um die Uhr Achterbahn fahren, dachte Jordan und leerte sein Glas. Dank des prickelnden Champagners spürte er in dieser Nacht auch seine eigenen Hormone.

Seine Gedanken waren bei dieser Frau.

Er konnte sie sich einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Ihre Stimme nicht und nicht ihr Lachen und schon gar nicht...