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Und was machen Sie beruflich?

Rolf Dobelli

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607284 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR


 

{5}1


Vielleicht hat es doch gezittert.

 

Schon im Aufzug, ein ungewöhnliches Schütteln. Wie wenn man mit einer Gondel in die Bergstation einfährt. Auf den letzten Metern jeweils das Hin- undherrempeln zwischen Holzplanken.

 

Als er aus dem Aufzug getreten ist, auf der achtzehnten Etage, hat er es in seinen Beinen nochmals gespürt – das Rütteln.

 

Jetzt sitzt Gehrer an seinem Schreibtisch – in Papierberge versenkt.

 

Wenn es im Aufzug rüttelt, muss das nichts bedeuten. Das kann am Aufzug liegen.

 

Sonntagnachmittag – eine perfekte Zeit, um den Schutt der vergangenen Arbeitswoche abzutragen und sich gedanklich auf die kommende {6}einzuschießen. Es gelingt selten, sämtliche Pendenzen abzuschütteln. Im Gegenteil. Sie entwickeln sich zu Ungeheuern. Man wird noch daran sterben, denkt er.

 

Gehrer lässt das Dossier auf den Tisch sinken. Stille. Nur das Summen von Neonlicht.

 

Keine Erdbeben in dieser Stadt!

 

Ab und zu ein entferntes Zischen der automatischen Spülanlage im Herren-WC. Dann ist es wieder still.

 

Kein Mensch weit und breit. Gehrer ist der Einzige auf der ganzen Etage. Möglich, dass er der Einzige im ganzen Gebäude ist.

 

SolutionsUniverse – wer solche Firmennamen erfindet, verdient es, hingerichtet zu werden!

 

»Wir erwarten Sie im Konferenzraum, Montagmorgen sieben Uhr«, hatte der CEO gesagt, dann aufgehängt. Gehrer hatte nicht einmal Gelegenheit, nach den Traktanden zu fragen.

 

Dreifachverglasung. Ziehende Wolken hinter feinem Raster. Wenn selbst die Straßen im Schnee {7}untergehen, gibt es nur noch den See – ausgestanzt zwischen puderigen Hügeln. Heute bleibt der Schnee im Himmel hängen. Nur einzelne Flocken wirbeln, steigen, würzen eine sonst leichte Luft mit haarigen Eiskristallen.

 

Ohne wandernde Wolken sähe das aus wie die Großaufnahme einer Fototapete. Früher hatten seine Eltern jedes Jahr das mannshohe Panoramaposter einer anderen Stadt über seine Tapeten geklebt. Für ein Jahr lang stand man dann in Paris, Rom, New York oder lag auf dem Bett unter der Sydney Harbor Bridge. Nach einigen Tagen gewöhnte er sich an die neue Stadt, an das staubige Kolosseum, die zerbrochenen Steinbögen, die bunten Touristen in dieser Steinwüste, deren Figuren im Vierfarbendruck verschoben als rote, blaue, gelbe und grüne Punkte auseinandersprangen, von den Gesichtern ganz abgesehen; er vermisste den violetten Abendhimmel über New York, die auslaufende Queen Elisabeth II., die gelben Fähren hinter der Statue of Liberty, die aus Newark hervorsteigenden, sich im Violett auf‌lösenden Flugzeuge. Nach einem Jahr stand er in einer neuen Stadt, in San Francisco oder London, richtete sich ein, atmete Tapetenleim, der sich tagelang in der neuen Stadt hielt, presste Blasen nieder, solange {8}der Leim noch feucht war. Ärgerlich waren stets die Übergänge. Selbst wenn man die einzelnen Bögen oben sorgfältig aufeinander abstimmte, das Brückengeländer der Golden Gate haarscharf auf dem anderen Bogen weiterfuhr, so spaltete sich die Welt spätestens am Ende der Tapete, auf Bett-, also Augenhöhe, manchmal zentimeterweit. Der von winzigen Tug-Boats geschleppte Öltanker in der San Francisco Bay hatte einen Sprung, hörte für einen Moment auf zu existieren, zeigte Ansätze von römischen Steinbögen und lief dann zeilenversetzt weiter. Öl lief keines aus.

 

Einmal, mit sechzehn, hatte er genug davon, in fremden Städten zu wohnen, riss Tapete um Tapete nieder, schichtenweise Monumente, Paläste, Lichter, Türme, Säulen, Straßen, Himmel, stampf‌te den Papierklüngel mit seinem eigenen Gewicht klein, drehte ihn mehrmals am Boden, um wieder und wieder raufzusteigen, ihn runterzuwalzen, mit den nackten Füßen zu bändigen, ohne dass die Kugel kleiner wurde. Es blieb ein schwerer, sperriger Haufen Papier. Dann öffnete er das Fenster und ließ das Dutzend Städte auf die Straße fallen. Der Wind war stürmisch in jener Nacht. Gehrers erste Erfahrung als Mann von Welt.

 

{9}Heute geht kaum Wind. Das Gewinkel der alten Dächer. Der helle, schiefe Himmel. Winter aus allen Richtungen.

 

Selbst der Boden steht still.

 

Ein Eckbüro mit zwei Fensterfronten gibt’s nicht für jedermann, schon gar nicht an der Südwestecke des Glasturms.

 

Für den Marketingchef gibt es zwei Fensterfronten.

 

Die Etagen haben wenig mit der Hierarchie zu tun. Die Kantine zum Beispiel befindet sich zuoberst, im zweiundzwanzigsten Stock. Manchmal setzt er sich an einen Tisch voller Lehrlinge aus dem Call Center. Dann wechseln die Gespräche, ohne dass weniger geredet wird.

 

Nur noch selten spricht ihn jemand mit Herr Direktor an. Dann sind es kurz vor der Pensionierung stehende oder ausländische Sachbearbeiter auf bedauernswert geringen Hierarchiestufen. Nicht einmal Jobsuchende nennen ihn so. Für die Jungen ist er bloß der Gehrer, und so behandeln sie ihn auch.

 

{10}Trotzdem, und im Hinblick auf die morgige Sitzung: Eine Beförderung in diesem Alter kann nie vollkommen ausgeschlossen werden.

 

Winter jenseits der Dreifachverglasung.

 

Das hat er gemeint zu spüren: ein Rütteln, ganz kurz, dazu ein kaum hörbares Rauschen aus dem Untergrund.

 

Das Hirn ist unberechenbar.

 

Das letzte Beben in Zürich muss Jahrhunderte zurückliegen, wenn überhaupt. Nie haben seine Eltern oder Großeltern von einem Erdbeben erzählt. Auch nicht seine Lehrer. Erdbeben gibt’s nur im Ausland.

 

Kein Land ist stabiler als die Schweiz.

 

Es war kein Rauschen. Eher ein Dröhnen aus der Tiefe.

 

Es ist idiotisch, sich im achtzehnten Stockwerk aufzuhalten. Es ist idiotisch, sich überhaupt in einem Gebäude aufzuhalten. Dazu noch an einem Sonntagnachmittag, wenn man mutterseelenallein ist.

 

{11}Vermutlich ist alles nur Einbildung.

 

Selbst im Radio: keine Meldungen, ein Erdbeben betreffend. Nur schlechte Nachrichten aus der Wirtschaft an diesem Februartag. Miserabler Empfang. Gekrächze. Er dreht es aus.

 

Diese schleichende Unordnung auf dem Schreibtisch, in den Schubladen, überall.

 

Das Summen aus winzigen Transformatoren.

 

Gehrer kann jetzt nicht weiterarbeiten. Er sitzt am Schreibtisch und horcht. Nichts. Dann steht er auf. Auch der Gang ist leer. Wieder steht er still, schaut eine Weile zu Boden – seine Schuhe, als wären sie auf den Spannteppich geleimt –, dann geht er weiter. Er marschiert mit kräf‌tigen Schritten auf und ab, als könnte er damit Geister vertreiben.

 

Jeder Schritt ein Akt der Selbstbestätigung.

 

Keine Firma stabiler als die SolutionsUniverse!

 

Jetzt zieht er einen dünnwandigen Plastikbecher aus der Röhre, die an der Seite des Kaf‌feeautomaten angebracht ist, und verschwindet im Herren-WC.

 

{12}Dort füllt er den Becher randvoll mit Wasser, stellt ihn auf den Boden und kauert sich daneben. Keine Vibration. Auch nicht nach einer Viertelstunde.

 

Mit der Zeit setzt er sich auf den WC-Boden, umspannt die angezogenen Beine mit den Armen. Das ist weniger anstrengend.

 

Noch immer nichts.

 

Jetzt liegt er auf den Bodenkacheln, seitlich, den Kopf auf den Arm gestützt wie ein Fotomodell im Bikini.

 

Die Wasseroberfläche im Becher ist so starr wie eine Scheibe Glas. Die unendliche Produktion von Stille.

 

Plötzlich zischt und rauscht es, es zischt laut, Gehrer zuckt zusammen. Dann ist es wieder still. Darauf war er nicht gefasst: die automatische Spülanlage der Pissoirs.

 

Dann wieder nichts. Noch immer keine Vibration im Wasserbecher.

 

{13}Weshalb soll man sich fürchten, wenn gar nichts los ist? Es ist lächerlich! Gehrer steht auf und wäscht sich die Hände. Es ist idiotisch, denkt er: Der Marketingchef einer Softwarefirma im Firmen-WC, wie er über stehendem Wasser lauert. Zum Glück ist er allein in diesem Gebäude. Was er im Spiegel sieht: Der Haarausfall ist of‌fensichtlich, aber nicht problematisch. Er sieht nicht älter aus, er fühlt sich nur älter, und er fragt sich, ob er es lieber umgekehrt hätte.

 

Wieder die automatische Spülanlage. Ein Zischen, ohne dass sich der Boden krümmt.

 

Es kann gar nicht ohne Falten funktionieren, denkt Gehrer jetzt, rein physikalisch nicht. Die menschliche Haut ist kein Gummi. Das Gesicht bewegt sich, wirft sich in nachdenkliche oder lachende Posen. Außerdem wird gesprochen und gegessen. Es bewegt sich also etwas unter der Hülle. Notwendigerweise gibt es Orte, wo zu viel Haut liegt, wo sie sich ansammelt, als Vorrat für zukünf‌tige Bewegungen. Sie überwirft sich, schlägt Wellen, wirft Furchen, wird durch die Bewegung der darunterliegenden Muskeln zerknüllt, zerknittert. Hautbeben. Das alles beobachtet er im Toilettenspiegel, während er sich älter wünscht oder jünger, {14}aber älter aussehend, reifer, aber jünger, er weiß es wirklich nicht. Unter dem Mikroskop muss Haut aussehen wie verwüstete Landschaft, Härchen wie abgeknickte Bäume,...