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Die Salbenmacherin und der Bettelknabe - Historischer Roman

Silvia Stolzenburg

 

Verlag Gmeiner-Verlag, 2016

ISBN 9783839250761 , 416 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

Kapitel 1


Nürnberg, Februar 1409

Die Sonne tat dem elfjährigen Jona in den Augen weh. Sie stand direkt über der trutzigen Feste, die hoch über der Stadt Nürnberg thronte, und blendete schon von Weitem. Der Schnee auf den Dächern warf das Licht gleißend zurück, weshalb Jona den Blick auf den von Hunderten von Rädern, Hufen und Füßen aufgewühlten Boden senkte. Inmitten eines Stroms von Pilgern und Bauern bewegte sich der Knabe auf die gewaltige Ringmauer zu, deren zahllose Türme weithin die Macht der Reichsstadt verkündeten. Nördlich erstreckte sich ein Waldgebiet, aus dem eine lange Schlange von Karren Baumstämme in die Stadt schaffte. Vor der Stadtmauer befanden sich eine Handvoll befestigter Gehöfte, Ställe und Gärten. Doch Jonas Aufmerksamkeit wurde von dem riesigen Tor angezogen, über dessen Durchgang das Wappen der Stadt prangte. Ein breiter Holzsteg führte über den Wallgraben, wo Torwächter in glänzenden Harnischen den Reisenden in den Weg traten. Als Jona keine zwei Steinwürfe mehr von dem Stadttor unter der Reichsfeste entfernt war, sah er sich verstohlen um.

»Du kannst genauso gut gleich wieder umkehren«, hatte ihm ein anderer Waisenknabe im Pilgerspital »Heilig Kreuz« geraten. Dort hatte Jona ein Nachtlager und ein einfaches Mahl erhalten – das erste Mal, seit er vor vier Tagen vom Henker aus Bamberg hinausgeprügelt worden war. Die Erinnerung an die furchtbaren Schläge ließen ihn instinktiv den Kopf einziehen und mit der Rechten nach seinem Rücken tasten, der immer noch grün und blau war. Er wusste, dass er Glück gehabt hatte, dass der Richter Milde gezeigt hatte. Denn der Diebstahl des Brotlaibes hätte ihn ebenso gut einen Finger kosten können. Er ließ die Hand wieder sinken und suchte nach einem Gefährt, das für sein Vorhaben geeignet war.

»In Nürnberg kann nicht jeder betteln«, hatte der Junge im Spital gesagt und Jona damit fast die Hoffnung geraubt. Sein Magen war leer, seine Beinlinge zerschlissen, seine Glocke – ein einfacher Kapuzenumhang – kaum dick genug, um die Kälte abzuhalten.

»Eigentlich dürfen nur Einheimische in der Stadt um Almosen bitten«, hatte der andere Waisenknabe ihn informiert. »Wer betteln will, muss zwei Zeugen beibringen, die seine Bedürftigkeit beschwören, und eine Bettelmarke kaufen.«

Jona hatte ihn ungläubig angesehen.

»Die Bettelmarke muss offen getragen werden«, hatte der Junge weiter berichtet. »Wer ohne aufgegriffen wird, bekommt Ärger mit dem Bettelmeister und den Stadtknechten.«

Als Jona seine wenigen Pfennige aus der Tasche gezogen hatte, um sie zu zählen, hatte der Junge abgewinkt. »Als fremder Bettler darf man sich nur drei Tage in der Stadt aufhalten. Verding dich lieber als Mörtelträger beim Bau der neuen Ringmauer.«

Aber darauf hatte Jona nicht die geringste Lust. War er nicht wegen der harten Arbeit aus dem Elisabethenspital in Bamberg fortgelaufen? Wie dumm wäre es, jetzt in einer anderen Stadt noch härter zu schuften, um etwas zwischen die Zähne zu bekommen? Sein Blick blieb an einem Karren haften, auf dem sich Butterfässer stapelten. Da er nicht vorhatte, Nürnberg nach nur drei Tagen wieder zu verlassen, blieb ihm keine andere Wahl, als sich heimlich in die Stadt zu stehlen. Denn für den Torzoll reichten seine bescheidenen Mittel ganz sicher nicht aus.

Er zog die Kapuze seiner Glocke über den Kopf und schlängelte sich zwischen den Wartenden hindurch. Hie und da erntete er Protest. Ein bulliger Müller versetzte ihm gar einen Rippenstoß, aber Jona ignorierte sein Schimpfen. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt näherte er sich dem Karren mit den Fässern, dessen Lenker genauso träge den Kopf hängen ließ wie der Ochse davor. Zwei Schritte hinter der Pritsche machte Jona Halt, gab vor, die Lumpen an seinen Füßen neu wickeln zu müssen und ging in die Knie. Während er versuchte, seinen hämmernden Herzschlag zu beruhigen, sammelte er Mut. Er durfte einfach nicht daran denken, was passieren würde, wenn man ihn entdeckte, bevor er in der Stadt war! Die Nürnberger sind töricht, redete er sich ein. Hatte nicht sein Held, Till Eulenspiegel, ihnen einen Streich um den anderen gespielt? Wenn die Stadtwächter wirklich so einfältig waren, wie es einige der Eulenspiegeleien vermuten ließen, dann würde es ein Leichtes sein, sich in Nürnberg durchzuschlagen.

Jona warf einen Blick über die Schulter. Als er sicher war, dass ihm niemand Beachtung schenkte, sprang er geschickt auf die Pritsche des Butterkarrens und duckte sich zwischen die Fässer. Sein Puls machte einen erschreckten Satz, als sich das Gefährt keine zwei Atemzüge später in Bewegung setzte. Allerdings war seine Furcht, der Lenker könnte ihn entdeckt haben, unbegründet. Nach wenigen quietschenden Umdrehungen der Räder kam der Karren wieder zum Stehen, und das Warten begann von Neuem.

Beinahe eine Stunde musste Jona zusammengekauert zwischen den Fässern ausharren, bis der Bauer endlich das Tor erreichte. Um nicht von den Wächtern gesehen zu werden, machte er sich noch kleiner und hielt den Atem an. Während der Bauer mit den Stadtwachen verhandelte, fragte Jona sich, ob es ihm auch gelingen würde, den Stadtknechten ein Schnippchen zu schlagen. Würde er ebenso verwegen sein wie Eulenspiegel, der die Wachen im Wächterhaus beim Rathaus zum Baden geschickt hatte? Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er sich die Geschichte in Erinnerung rief. Offenbar hatte Eulenspiegel eines Nachts drei Bohlen aus dem Brückensteg zwischen dem Saumarkt und dem Wächterhaus entfernt, um danach die Stadtwachen mit allerlei Geschrei anzulocken. Als diese ihm hinterhergelaufen waren, hatte er selbst einen großen Satz gemacht, wohingegen seine drei Verfolger in der Pegnitz gelandet waren. Jona konnte sich das Spektakel nur allzu gut vorstellen. Wie gerne er in dieser Nacht dabei gewesen wäre!

Als der Wagen endlich wieder anfuhr und über unebenes Kopfsteinpflaster holperte, ließ er erleichtert die Luft aus den Lungen entweichen. Er hatte es geschafft! Am liebsten hätte er einen Freudentanz vollführt, so groß war seine Erleichterung. Eine Zeit lang blieb er zwischen den Fässern hocken und hielt den Kopf unten. Doch sobald der Wagen die gepflasterte Straße verließ und die Räder sich in harschigen Schnee gruben, wagte er einen Blick über die Ladefläche des Karrens.

Was er sah, hätte ihn um ein Haar einen erstaunten Ruf ausstoßen lassen. Keine zehn Zoll von seiner Nase entfernt glotzte ihm das Gesicht eines zahnlosen Reisigweibes entgegen. Die gebeugte Alte wartete mit trüben Augen, bis der Butterkarren an ihr vorbeigerumpelt war, ehe sie über die Straße huschte und in einem Kellerloch verschwand. So viele Menschen drängten sich vor und hinter dem Wagen, dass der Lenker anhalten musste, um niemanden zu überrollen. Das Gewimmel war so gewaltig, dass Jona sich vor Verwunderung die Augen rieb. Wie konnte eine Stadt einer solch gewaltigen Zahl von Einwohnern Obdach bieten? Er versuchte, die Köpfe zu zählen, scheiterte jedoch kläglich.

Sobald der Karren weiterfahren konnte, ließ er den Blick schweifen. Auf beiden Seiten der Gassen, durch die sie kamen, standen dicht gedrängte Holzhäuser mit abenteuerlich anmutenden Erkern, Außentreppen und Vorbauten. Die obersten Stockwerke der gegenüberliegenden Gebäude waren kaum eine Armlänge voneinander entfernt. Überall hingen Wäscheleinen, und die Rüssel von Hausschweinen zuckten durch den Morast, der sich in einer Rinne in der Mitte der Straße gesammelt hatte. Trotz der eisigen Kälte war dieser Schlamm nicht gefroren, was vermutlich am Urin der Tiere lag. Hoch über ihm ragte die Reichsfeste auf. Doch erst jetzt erkannte Jona, dass es sich nicht um eine, sondern um gleich drei Burgen handelte. Mussten die Nürnberger viel Geld haben! Er schob den Kopf etwas weiter nach oben und bestaunte die bunten Schilder vor den Häusern, die offensichtlich das Gewerbe der jeweiligen Bewohner verkündeten. Scheren, Töpfe, Schuhe und vieles mehr verrieten dem Jungen, in welchem Viertel er sich befand. Als der Wagen schließlich über eine Brücke polterte und anschließend auf ein Gebäude neben einer Kirche zusteuerte, beschloss Jona, dass es Zeit war, den Karren zu verlassen. Leichtfüßig sprang er von der Ladefläche und tauchte ein in das Gewimmel, das ihn augenblicklich verschluckte. Eine Zeit lang ließ er sich einfach treiben, sog die Gerüche der Stadt ein und malte sich aus, was er hier alles erreichen konnte. Doch nach einiger Zeit wurden seine Zehen steif, und sein Magen knurrte so vernehmlich, dass er die Hand darauf presste, um ihn zu beruhigen. Als er vor einer weiteren Kirche anlangte, machte er deshalb kurzerhand einen krummen Buckel, streckte die Hand aus und jammerte lautstark: »Ein Almosen, edle Herren. Habt Erbarmen mit einem armen Krüppel. Ein Almosen.« Er humpelte auf eine Gruppe wohlhabend wirkender Männer mit pelzverbrämten Mänteln zu. »Habt Mitleid mit einem Waisen«, flehte er. »Ein Almosen.«

Zwei der Kaufleute drehten ihm den Rücken zu, der dritte hingegen schien ein weicheres Herz zu haben, da er nach der Geldkatze an seinem Gürtel griff. »Hier«, sagte er und warf Jona ein paar Pfennige zu.

»Habt Dank, mein Herr«, rief der Knabe aus. Hastig sammelte er die Geldstücke ein und steckte sie in die Tasche. »Gott segne Euch.« Er wollte sich gerade ein neues Opfer suchen, als ein ärgerlicher Ruf die Luft zerriss.

»Du da!«, brüllte ein grobschlächtiger Kerl, der an seinem Helm als Stadtknecht zu erkennen war.

Jona erschrak bis ins Mark. Meinte der ihn? Da er nicht vorhatte abzuwarten, bis der Wächter nahe genug war, um ihn zu packen, rappelte er sich hastig auf und...