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Er liebt sie nicht - Thriller

Sharon Bolton

 

Verlag Manhattan, 2016

ISBN 9783641174989 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1. Kapitel

An der Küste des Bristolkanals in Somerset, ungefähr gleich weit von Minehead und Weston-super-Mare entfernt, befindet sich ein großes Abflussrohr.

Niemand kann es leiden.

Durch das Rohr, eine geschwärzte Betonröhre von anderthalb Metern Durchmesser, fließt überschüssiges Regenwasser aus dem Ackerland der Mendip Hills ab; hundert Meter vor der Ufermauer mündet es in den Kanal. Bei Flut stöhnt und brüllt das Meerwasser darin, während Steine und Treibholz mit erschreckender Wucht gegen die Betonwände krachen.

Wenn Wanderer, Hundebesitzer oder Fischer an der Einstiegsluke vorbeikommen, beschleunigen sie ihre Schritte. Ein Viereck aus hohen stählernen Gittern hält sie auf Abstand, doch das käfigartige Gebilde fördert lediglich die Illusion, dass sich da etwas Bedrohliches unter der Erde regt. Und niemand schätzt die stinkenden, öligen Tropfen, die bei jeder hohen Welle durch den Lukendeckel aus feinmaschigem Stahlgitter spritzen. Organisches Material wird dort hineingeschwemmt und verfault. Tatsächlich fängt das Abflussrohr alles ein, was am Meer finster und schrecklich ist, und verdichtet es.

Maggie Rose war das Rohr schon immer unheimlich. In ein paar Minuten wird sie Angst haben, dass sie darin umkommt.

Wenn sie den Strand erreicht, nimmt Maggie meistens den Klippenpfad. An diesem Morgen lenkt eine kleine Stoffpuppe sie ab, die einsam und verlassen auf der Ufermauer liegt. Verdutzt bückt sie sich, um sie aufzuheben. An diesen Strand kommen keine Kinder. Es gibt keinen Sand zum Spielen, und auf den großen glatten Kieselsteinen kommt man schwer vorwärts. Maggie hat hier noch nie ein Kind gesehen und würde mitten im Winter auch nicht damit rechnen.

Die Puppe in der Hand, sieht sie sich um, schaut auf das zornige Wasser, blickt zu den Möwen hinauf, die hoch und verschlagen zwischen den immer tiefer hängenden Wolken gleiten. Auf der Wiese hinter ihr sieht sie Schafe, schlaff und unglücklich in ihren bereiften Wollpelzen.

Der Strand ist verwaist. Ein Kind kann sie nicht entdecken. Nur zwei Menschen, denen möglicherweise eins abhandengekommen ist.

Dort, wo das Regenwasserrohr endet, stehen eine dünne Frau mit kurzem hellem Haar und ein Mann in Anglerkleidung bis zu den Knien im Wasser. Anscheinend versucht die Frau, in das Rohr zu kriechen, doch die brechenden Wellen und der Angler halten sie davon ab.

»Was ist passiert?« Maggie weiß nicht genau, ob die zwei sie hören. Der Wind reißt alle Geräusche mit, außer denen, die er selbst macht. Wieder prallt eine Welle gegen das Paar, und der Mann fällt hin.

Das Wasser ist eiskalt, als Maggie hineintritt, und die rollenden Kiesel machen das Waten gefährlich. Durch das graue schlammige Wasser kann sie den Grund nicht sehen. Ein wenig außer Atem erreicht sie die beiden, gerade als der Angler mühsam auf die Beine kommt.

»Ich geh da jetzt rein.« Die Frau ist drauf und dran, in das Abwasserrohr zu steigen. »Mein Sohn überlebt es nicht, wenn ihr was passiert.«

Maggie denkt an die Stoffpuppe, die jetzt in ihrer Manteltasche steckt. Ein Enkelkind? Ein Kind von vielleicht sechs Jahren könnte in dem Rohr aufrecht stehen; es würde nur das Abenteuer sehen, das dieser geheimnisvolle Tunnel bietet, und nicht an die Gefahr durch die auflaufende Flut denken.

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?« Maggie muss der Frau direkt ins Ohr brüllen.

»Vor einer Minute, vielleicht auch zwei.« Die Stimme der Frau ist vom Schreien fast völlig weg. »Sie ist tiefer da reingelaufen, weg von den Wellen.«

Nun ja, das ist ja wenigstens etwas.

»Von hier aus können Sie da nicht rein«, schreit Maggie. »In einer Viertelstunde ist das Ding voll bis obenhin. Dann ertrinken Sie beide.« Eine Viertelstunde ist vielleicht optimistisch gerechnet. Das Wasser steht bereits hoch, schnappt nach Maggies Oberschenkeln. Der Pegel in der Röhre wird mit jeder neuen Welle steigen, bis es für das kleine Mädchen ganz einfach keinen Ausweg mehr gibt. »Vielleicht können wir sie weiter oben rausholen.« Maggie wendet sich an den Angler. »Können Sie hierbleiben, solange es nicht zu gefährlich ist? Für den Fall, dass sie rausgeschwemmt wird?« Zu der Frau sagt sie: »Kommen Sie mit, ich werde Hilfe brauchen.«

Die beiden Frauen halten sich an den Händen und waten an Land; ihre Kleider sind völlig durchweicht, noch ehe sie den Strand erreichen. Als sie eilig wieder über die Ufermauer steigen, läuft die gut zwanzig Jahre jüngere Maggie voraus. Sie geht jeden Tag hier entlang. Sie hat gesehen, wie Kanalarbeiter von oben in das Rohr hinabgestiegen sind.

»Was ist?« Die Frau holt sie ein, als Maggie das Metallgitter erreicht, das die Einstiegsluke umgibt.

»Schsch!«

Die beiden Frauen lauschen dem Grollen, Saugen und Stöhnen unter ihren Füßen. Irgendetwas ziemlich Großes kracht dort unten umher.

»Das sind Wellen.« Maggie zeigt durch das Gitter. »Wenn die Flut voll aufgelaufen ist, spritzt es da durch den Rost raus. Jetzt noch nicht, also steht das Rohr unter uns noch nicht unter Wasser, zumindest noch nicht die ganze Zeit. Helfen Sie mir mal da rauf.«

Auf der anderen Seite legt sie sich auf den Bauch und hält das Gesicht über die Luke. »Hallo! Kannst du mich hören? Komm hierher!«

»Daisy«, sagt die Frau; ihre Stimme klingt gepresst und heiser. »Sie heißt Daisy.«

»Daisy!«, brüllt Maggie noch einmal und zerrt an dem Lukendeckel. »Wenn du mich hören kannst, komm hierher!« Wieder reißt sie an dem Deckel, doch der rührt sich nicht.

»Hilft das hier?« Der Angler ist inzwischen angekommen und streckt die Hand durch das Gitter. »Das ist ein Leatherman-Tool. Versuchen Sie’s mal mit einem von den Schraubenschlüsseln.«

Während die Großmutter vor sich hin wimmert, greift Maggie nach dem Allzweckwerkzeug und findet einen Schraubenschlüssel in der richtigen Größe. »Halt durch, Daisy, wir kommen.«

Sie dreht das Schloss und spürt, wie es nachgibt.

»Na los, Mädchen«, drängt der Angler. »Du schaffst es!«

Der Bügel des Schlosses löst sich. Der Deckel scheppert auf den Betonboden, und Maggie starrt in die Finsternis dort unten. Ehe sie es sich anders überlegen kann, schwingt sie die Beine herum und springt. Dann hockt sie in dem Tunnel und kann nichts sehen, nichts hören, außer dem Tosen des immer näher kommenden Wassers. Tief gebückt und die Hände an die Seitenwände gestützt, beginnt sie, sich vorwärtszutasten, und ruft aufmunternd nach dem Kind.

»Daisy! Hab keine Angst. Komm einfach zu mir.«

Nach noch nicht einmal einem Dutzend Schritte bedeckt Wasser ihre Knöchel, flutet mit jeder Welle höher. Die Großmutter und der Angler rufen noch immer nach dem Kind, und das ist auch gut so, denn Maggie möchte hier unten den Mund nicht noch einmal aufmachen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ein weiteres Dutzend Schritte. Das Wasser reicht ihr fast bis zu den Knien. Allmählich tut ihr der Rücken weh, und ihre Oberschenkelmuskeln halten diese gekrümmte Haltung nicht mehr lange aus.

»Daisy?«

Eine große Welle prallt gegen sie, trifft sie voll ins Gesicht. Das Kind ist tot. Es ist hoffnungslos. Gerade macht Maggie kehrt, als eine weitere Welle sie trifft und sie aus dem Gleichgewicht bringt. Sie fällt auf die Knie und hört ein kratzendes Geräusch hinter sich. Dann ein erstickter Klagelaut und schweres Atmen. Ein schlotternder Körper drängt sich gegen sie. Sie dreht sich um und sieht verängstigte Augen, die ihr entgegenstarren, hört ein verzweifeltes, dankbares Aufkläffen.

Daisy ist ein Hund.

Ihre eigene Blödheit kann sie später verfluchen. Maggie bekommt das Halsband des Hundes gerade noch zu fassen, als eine neuerliche Welle versucht, das Tier ins Meer hinauszuziehen. Als das Wasser zurückweicht, nutzt der Hund den Halt, den Maggies Körper bietet, und klettert über sie hinweg. Er saust auf die Luke zu.

Wieder eine Welle, eine größere. Einen Augenblick lang ist Maggie völlig unter Wasser, spürt, wie sie über den Betonboden des Rohrs rutscht. In der glatten runden Röhre gibt es nichts zum Festhalten. Noch eine Welle; sie rutscht wieder zurück. Die Wellen lassen ihr keine Zeit, um sich zu fangen, bevor die nächste zuschlägt. Sie wird immer tiefer in den Tunnel hineingezogen.

Ein paar Meter entfernt bellt Daisy, die nicht aus dem Rohr hinausspringen kann, wie wild. Die Frau und der Angler brüllen immer noch. Fast zu durchgefroren, um sich zu rühren, kaum in der Lage, wieder zu Atem zu kommen, kriecht Maggie vorwärts.

Sie wird bei dem Versuch, einen Hund zu retten, draufgehen. Wie ungeheuer lächerlich.

Dann ist der Hund auf ihrem Rücken; seine spitzen Krallen bohren sich durch ihren Mantel, als er sie als Sprungbrett benutzt. Krallen kratzen an Stein, und der Hund ist oben.

Maggie stemmt die Füße ab, hält sich am Rand der Luke fest und springt ab.

Wieder sicher auf festem Boden, sinkt sie neben der erschöpften Daisy zusammen.

»Oh, braves Mädchen, kluges Mädchen, gut gemacht!«

Ohne recht zu wissen, ob das Lob ihr gilt oder dem Geschöpf, das sie gerade gerettet hat, streicht Maggie mit der Hand über die Flanke des nassen zitternden Tieres. Große braune Augen starren aus einem hübschen Hundegesicht zu ihr empor. Der schlanke glatte Körper ist mit schwarzen Flecken übersät. Daisy ist ein Dalmatiner.

»Hey, Süße.« Maggie schiebt den Hund zur Seite und macht den Lukendeckel wieder zu, gerade als eine Welle – eine, die sie beide hätte umbringen können – die Röhre heraufgefegt kommt. Sie hört ein metallisches...