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Die Entscheidung - Kriminalroman

Charlotte Link

 

Verlag Blanvalet, 2016

ISBN 9783641199807 , 576 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

GOUSSAINVILLE, FRANKREICH,
MONTAG, 7. DEZEMBER

Sie brauchte tatsächlich nur ein paar Sekunden, um das Türschloss zu öffnen. Mithilfe eines Drahtes, den sie geformt und gebogen hatte, genau so, wie es ihr Boris, ihr großer Bruder, vor vielen Jahren gezeigt hatte. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, Boris hingegen schon erwachsen, und jeder, der seine speziellen Hobbys kannte, hätte vermutlich darauf gewettet, dass er eines Tages eine kriminelle Karriere hinlegen würde: Er übte beständig, Türschlösser zu knacken oder Fenster aufzuhebeln, und er hatte beachtliche Fähigkeiten darin entwickelt. Aber schließlich war er ein grundsolider Tischler geworden. Es hatte nie auch nur die geringste Gesetzesübertretung in seinem Leben gegeben.

Selina schob die Tür auf, huschte in das Zimmer, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich kurz von innen dagegen. Bislang lief alles nach Plan, vor allem vollkommen lautlos. Trotzdem wusste sie, dass sie jeden Moment entdeckt werden konnte, und dass sie dann vermutlich am besten mit dem Leben abschloss. Wenn Sergej und Igor sie bei einem Fluchtversuch erwischten, war sie so gut wie tot.

Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, die in dem Zimmer herrschte. Eine Straßenlaterne, die unmittelbar hinter der Grundstücksgrenze stand, spendete ein wenig Licht, gedämpft von einem Baum, der sie zur Hälfte verdeckte. Nur schattenhaft konnte sie die Umrisse der Gegenstände im Raum wahrnehmen: Schreibtisch, Regale, ein Aktenschrank. Taisias Zimmer. Taisia war die Schlimmste. Sergej und Igor waren brutale Schläger, aber Taisia war der kluge Kopf dahinter, vollkommen kalt, skrupellos und ohne den Anflug eines Gewissens. Hier im Haus war sie die Chefin. Und jeder tat, was sie sagte.

Selina hatte ein einziges Mal im Vorbeigehen einen kurzen Blick in Taisias Büro werfen können, weil tatsächlich minutenlang die Tür nur angelehnt gewesen war, und dabei hatte sie gesehen, dass die Fenster nicht vergittert waren – wie sonst überall im Haus. Die Haustür war mit mehreren Zusatzriegeln versehen, sämtliche Fenster zudem durch abgeschraubte Griffe gesichert. Es gab kein Entkommen, jedenfalls keines, das nicht mühselig und umständlich und mit jeder Menge Lärm verbunden gewesen wäre. Was bedeutete, man konnte jeden Fluchtversuch vergessen.

Nur dieses eine Zimmer war eine Chance, das Zimmer, in dem Taisia arbeitete … Offenbar hatte sie ein Problem mit Gittern. Und mit abgeschraubten Griffen. Wahrscheinlich wollte sie gelegentlich frische Luft in ihr Büro lassen. Dafür hielt sie die Tür sorgfältig verschlossen, zog den Schlüssel immer ab. Und trug ihn wahrscheinlich stets bei sich.

Aber jetzt hatte sie sich bereits zum Schlafen zurückgezogen. Die anderen Mädchen waren unterwegs. Sergej und Igor saßen in dem kleinen Raum neben der Küche und spielten Karten. Selina wusste, dass es ihnen strikt verboten war, Alkohol zu trinken, daher brauchte sie nicht zu hoffen, dass sie sich langsam zulaufen ließen und an Wachsamkeit und Reaktionsvermögen verloren. Sie waren vollkommen nüchtern und so gefährlich wie scharfe Hunde. Wenn einer von ihnen auf die Idee kam, nach ihr zu sehen …

Ihr brach bei dieser Vorstellung der Schweiß aus. Sie durfte über diese Möglichkeit jetzt nicht nachdenken, sie bekam dann weiche Knie, geriet in Panik und machte ganz sicher irgendeinen furchtbaren Fehler.

Den Draht hielt sie noch immer in der Hand, bückte sich jetzt aber und schob ihn unter den Schrank. Man würde ihn dort finden, aber das war egal. Wenn sie weg war, war sie weg, und die konnten ruhig wissen, wie es ihr gelungen war. Den Draht hatte sie aus einer Korsage herausgezogen, nachdem sie geduldig mit den Fingernägeln die Nähte aufgetrennt hatte. Die Mädchen hatten nicht einmal eine Nagelfeile zu ihrer freien Verfügung, geschweige denn eine Schere, und sie mussten sogar Haarklammern abliefern, wenn sie zu Hause waren. Es war fast unmöglich, an irgendeine Art von Werkzeug zu kommen.

Aber Selina hatte es geschafft.

Weil sie schlau war. Aber natürlich auch, weil sie Hilfe hatte.

In ihrer Jeanstasche steckte das Handy. Dass es ihr gelungen war, es bislang an sämtlichen Kontrollen vorbeizuschmuggeln, grenzte an ein Wunder. Es hing sicher damit zusammen, dass sie erst seit so kurzer Zeit hier war und es bislang noch keine Zimmerdurchsuchungen gegeben hatte. Die fanden, wie sie erfahren hatte, ohne jede Vorankündigung statt, und danach war kein einziger Gegenstand mehr an seinem alten Platz. Jede Mauerritze, jede Nische, jedes Schrankfach wurde auf den Kopf gestellt. Am schlimmsten aber waren die Leibesvisitationen, die Taisia höchstpersönlich vornahm. Selina wurde fast schlecht bei der Vorstellung, dass diese widerliche Frau ihr in jede einzelne Körperöffnung griff. Ganz abgesehen davon, dass spätestens dann das Mobiltelefon gefunden worden wäre, und sie mochte sich gar nicht ausmalen, was das nach sich gezogen hätte. Am Ende wäre darüber auch ihr Helfer ins Verderben gestürzt worden. Auch seinetwegen war es so wichtig, dass heute Abend alles glatt lief. Selina wusste genau, dass sie nur diese einzige Chance hatte. Entweder, es gelang heute. Oder es würde kein zweites Mal geben.

Sie wagte endlich wieder, sich vorwärts zu bewegen, und schlich durch den Raum. Sehr langsam, um bloß nirgends anzustoßen. Sie durfte nichts umwerfen, keinen Stuhl über den Boden rutschen, nichts berühren, nichts bewegen. Ihr kam plötzlich der Gedanke, dass sie keine Ahnung hatte, ob die Fenster womöglich mit einer Alarmanlage gesichert waren, und vor Schreck blieb sie stehen und überlegte. Sie konnte es nicht herausfinden, sie musste das Risiko eingehen. Oder das ganze Unternehmen abbrechen und in ihr Zimmer zurückkehren. Aber vor dem Umkehren hatte sie inzwischen genauso viel Angst wie vor dem Weitergehen. Sie war ungesehen und ungehört die zwei Treppen hinunter und über den Gang bis hierher gelangt, und damit hatte sie riesiges Glück gehabt. Es war keineswegs sicher, dass sie das ein zweites Mal schaffen würde, denn Sergej und Igor unternahmen in unregelmäßigen Abständen Kontrollgänge durch das Haus. Sie konnte ihnen jederzeit direkt in die Arme laufen, und dann gnade ihr Gott.

Okay, sie musste es auf die Alarmanlage ankommen lassen. Vielleicht konnte sie im Zweifelsfall trotzdem noch nach draußen gelangen und blitzschnell in der Dunkelheit untertauchen. Sie hörte plötzlich ein seltsames Geräusch und stellte gleich darauf fest, dass es ihre Zähne waren, die unkontrolliert aufeinanderschlugen. Sie hatte nicht gewusst, dass das sprichwörtliche Zähneklappern ein tatsächlicher körperlicher Reflex sein konnte. Im Grunde, wenn sie den Gedanken nur eine Sekunde lang zuließ, wusste sie, dass es Wahnsinn war, was sie tat, und dass die Chancen hoch standen, dass sie diese Nacht nicht überleben würde.

Sie kam am Schreibtisch vorbei. Taisias Laptop stand zusammengeklappt auf der Schreibtischunterlage. Ein ziemlich kleines Teil. Ehe Selina wirklich überlegte, weshalb sie das tat, griff sie danach. Es war kein Problem, es mitzunehmen. Wer wusste, was darauf gespeichert war. Es ging ihr vordergründig um nichts anderes als um Flucht, Überleben, um das Entkommen vor dem Wahnsinn. Aber dahinter, hinter ihrem reinen, unverfälschten Überlebensinstinkt, saß ein weiterer Gedanke: diese Leute zur Rechenschaft zu ziehen. Irgendwann vielleicht. Irgendwie.

Ihr Atem ging keuchend und viel zu laut, als sie das Fenster erreichte. Von dem Moment an, da sie die Tür geöffnet hatte, bis hin zu diesem Augenblick waren höchstens drei Minuten vergangen, aber Selina kam es vor, als hätte sie eine erschöpfende, kräftezehrende, endlos anmutende Wanderung hinter sich. Sie war schweißgebadet, der warme Pullover, den sie trug, klebte an ihrem Körper. Sie fühlte sich gleichzeitig hellwach, elektrisiert und daneben zu Tode erschöpft. Dem Zusammenbruch nahe. Dabei war Zusammenbrechen das Letzte, was sie sich gerade jetzt erlauben durfte.

Ihre Hand glitt zum Fenstergriff, berührte ihn, bewegte ihn vorsichtig. Sie erwartete, jeden Augenblick das schrille Kreischen einer Alarmanlage zu hören, aber alles blieb ruhig. Sie drehte den Griff.

Es blieb immer noch alles ruhig.

Das Fenster ging auf.

Kalte, feuchte Luft strömte ins Zimmer. Selina atmete tief. Wie lange war es her, dass sie zuletzt draußen gewesen war, etwas anderes gerochen hatte als den abgestandenen, stickigen Geruch dieses alten Hauses? Obwohl es hier, in diesem stillgelegten Industriegebiet eines Pariser Vororts nur ein paar wenige Bäume und Büsche und kaum Grasflächen gab, konnte Selina den Duft nach Erde riechen, nach Tannennadeln, nach Wald, nach Holz. Ihr schossen die Tränen in die Augen, weil in dieser Sekunde die Erinnerung mit einer schmerzhaften Heftigkeit über sie kam: die Erinnerung an Spaziergänge mit ihren Eltern, früher, als sie noch klein gewesen war. Und dann später mit Sarko, ihrem Freund. Sie hatten an den Sonntagen lange Wanderungen mit seinem Hund unternommen. In den Wäldern hatte es gerochen wie hier, und vor dem Himmel über ihnen kreuzten sich die Äste der Bäume.

Wie hatte sie Sarko und seine schüchterne Liebe so gering schätzen können? So gering, dass sie sie, ohne mit der Wimper zu zucken, aufgegeben und weggeworfen hatte.

Nicht heulen, ermahnte sie sich. Nicht jetzt!

Sie kletterte auf die Fensterbank, spähte hinunter. Das Zimmer lag im Hochparterre, trotzdem würde der Sprung nicht allzu hoch sein. Sie musste geschickt aufkommen, durfte sich nichts verknacksen oder vertreten, weil jetzt alles darauf ankam, dass sie so schnell wie möglich davonlief. Einen Moment überlegte sie, den Laptop doch...