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Mind Control - Roman

Stephen King

 

Verlag Heyne, 2016

ISBN 9783641195588 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

10. APRIL 2009

MARTINE STOVER

Am dunkelsten ist es immer vor der Morgendämmerung.

Dieser gut abgehangene Spruch kam Rob Martin in den Sinn, als der Rettungswagen, den er lenkte, langsam die Upper Marlborough Street entlang in Richtung Heimat rollte, das heißt zur Feuerwache Nr. 3. Wem auch immer das eingefallen war, er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Heute Morgen war es jedenfalls dunkler als in einem Bärenarsch, obwohl die Dämmerung nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.

Nicht dass dieser Tagesanbruch etwas Besonderes darstellen würde, wenn er endlich in Fahrt kam; er hatte sozusagen einen Kater. Der Nebel war dicht und roch nach dem nahen Großen See, der nicht so großartig war. Zu allem Überfluss hatte es auch noch zu nieseln begonnen, feine, kalte Tropfen. Rob drehte die Scheibenwischer von Intervall auf langsam. In nicht allzu weiter Entfernung erhoben sich zwei unverkennbare gelbe Bogen aus der trüben Suppe.

»Die Goldenen Titten von Amerika!«, rief Jason Rapsis, der auf dem Beifahrersitz saß. In seinen über fünfzehn Jahren als Rettungssanitäter hatte Rob mit allerhand Kollegen zusammengearbeitet, und Jace Rapsis war der beste – locker, wenn gerade nichts los war, unerschütterlich und vollkommen konzentriert, wenn es drunter und drüber ging. »Auf zur Futterkrippe! Gott segne den Kapitalismus! Bieg ab, bieg ab!«

»Im Ernst?«, sagte Rob. »Nachdem uns eben plastisch vorgeführt wurde, was der Scheiß anrichten kann?«

Sie kehrten gerade von einem Einsatz in einer der Villen in Sugar Heights zurück, wo ein Mann namens Harvey Galen den Notruf gewählt und über furchtbare Schmerzen in der Brust geklagt hatte. Die beiden hatten ihn im Salon, wie reiche Leute zweifellos sagten, auf einem Sofa liegend vorgefunden wie einen gestrandeten Wal in einem blauen Seidenpyjama. Seine Gattin war ihm nicht von der Seite gewichen, überzeugt, er würde jeden Moment das Zeitliche segnen.

»Auf zu Mäckes, auf zu Mäckes!«, skandierte Jason, während er auf seinem Sitz hüpfte. Der ernste, kompetente Sanitäter, der Mr. Galens Vitalparameter gemessen hatte (neben sich Rob, der den Notfallkoffer mit dem Beatmungsgerät und den Herz-Kreislauf-Medikamenten parat hielt), hatte sich in Luft aufgelöst. Mit seinen blonden Haaren, die ihm in die Augen fielen, sah Jason wie ein zu groß gewachsener Vierzehnjähriger aus. »Bieg ab, hab ich gesagt!«

Rob bog ab. Er hatte selbst Lust auf einen McMuffin Sausage und vielleicht eines von diesen Kartoffeldingern, die wie gebackene Büffelzunge aussahen.

Vor dem Bestellschalter wartete nur eine kurze Autoschlange. Rob stellte sich hinten an.

»Außerdem hatte der Bursche sowieso keinen echten Herzinfarkt«, sagte Jason. »Er hatte bloß beim Mexikaner zu viel in sich reingeschaufelt. Schließlich hat er sich geweigert, mit uns ins Krankenhaus zu fahren, stimmt’s oder hab ich recht?«

Es stimmte. Nach ein paar herzhaften Rülpsern und einem Posaunenstoß aus dem Unterleib, bei dem seine klapperdürre Frau in die Küche geflohen war, setzte Mr. Galen sich auf, erklärte, er fühle sich schon wesentlich besser, und meinte, nein, er glaube nicht, dass er ins Kiner Memorial transportiert werden müsse. Rob und Jason glaubten das ebenfalls nicht, nachdem sie sich angehört hatten, was Galen am Vorabend im Tijuana Rose alles verschlungen hatte. Sein Puls war kräftig und sein Blutdruck stabil. Letzterer zwar auf heiklem Level, aber das wahrscheinlich schon seit Jahren. Der automatisierte externe Defibrillator war in seinem Leinenbeutel geblieben.

»Ich will zwei McMuffins Egg und zwei Hash Browns«, verkündete Jason. »Und schwarzen Kaffee. Ach, eigentlich will ich doch lieber drei Hash Browns.«

Rob dachte immer noch über Galen nach. »Diesmal war es eine Verdauungsstörung, aber bald wird es was Ernstes sein. Ein Infarkt wie ein Donnerschlag. Was meinst du, wie viel er gewogen hat. Hundertvierzig? Hundertsechzig?«

»Mindestens hundertfünfzig«, sagte Jason. »Aber hör jetzt auf, mir mein Frühstück madig zu machen.«

Rob wies mit dem Arm auf die goldenen Bogen, die in dem vom See heranziehenden Nebel aufragten. »Dieser Schuppen und die ganzen anderen Fettschleudern sind zu ’nem ziemlichen Teil schuld an dem, was hier in Amerika schiefläuft. Als jemand, der im medizinischen Bereich arbeitet, weißt du das bestimmt. Was du da bestellen willst? Das sind neunhundert Kalorien nur mal so zwischendrin, Kumpel. Wenn du in deine McMuffins noch Sausage zum Egg packst, kommst du sogar auf circa dreizehnhundert.«

»Was nimmst du eigentlich, du Gesundheitsapostel?«

»Einen McMuffin Sausage. Vielleicht auch zwei.«

Jason schlug ihm auf die Schulter. »So gefällst du mir schon besser!«

Die Schlange bewegte sich vorwärts. Vor ihnen waren noch zwei Autos, als das Funkgerät unter dem im Armaturenbrett eingebauten Computer losplärrte. Die Leute in der Zentrale verhielten sich normalerweise ruhig und gefasst, aber die Stimme am anderen Ende klang diesmal wie die eines ausgeflippten Radiomoderators nach zu vielen Dosen Red Bull. »An alle Rettungswagen und Feuerwachen, wir haben einen MANV! Ich wiederhole, MANV! Das ist ein dringlicher Ruf an alle Rettungswagen und Feuerwachen!«

MANV, die Abkürzung für Massenanfall von Verletzten. Rob und Jason starrten sich an. Flugzeugabsturz, Zugunglück, Explosion oder Terroranschlag. Eines davon musste es eigentlich sein.

»Einsatzort ist das City Center in der Marlborough Street, ich wiederhole: das City Center in der Marlborough. Noch einmal, das ist ein MANV mit wahrscheinlich mehreren Toten. Gehen Sie vorsichtig vor.«

Rob Martin zog sich der Magen zusammen. Wenn man zu einem Unfall oder einer Gasexplosion geschickt wurde, ermahnte einen niemand zur Vorsicht. Das hieß, es handelte sich um einen Terroranschlag, der womöglich noch im Gang war.

Die Stimme im Funkgerät fing wieder von vorn an. Jason schaltete Rotlicht und Sirene ein, während Rob das Lenkrad herumkurbelte, um den schweren Rettungswagen auf den schmalen Fahrweg zu lenken, der am Gebäude entlangführte. Dabei streifte er die Stoßstange des Wagens vor ihm. Sie waren nur neun Straßen vom City Center entfernt, aber wenn Al-Kaida dort mit Kalaschnikows herumballerte, konnten sie das Feuer nur mit ihrem getreuen Defibrillator erwidern.

Jason griff nach dem Mikrofon. »Verstanden, Zentrale, hier spricht Nummer dreiundzwanzig von Wache drei, wir sind in etwa sechs Minuten da.«

Aus anderen Stadtvierteln waren andere Sirenen zu hören, aber der Lautstärke nach zu urteilen, waren sie selbst dem Schauplatz am nächsten. Ein eisengrauer Lichtschein kroch langsam in die Luft, und während sie aus dem McDonald’s-Parkplatz in die Upper Marlborough einbogen, schob sich ein grauer Wagen aus dem Nebel, eine große Limousine mit verbeulter Motorhaube und übel verrostetem Kühlergrill. Einen Moment lang waren die aufgeblendeten HID-Scheinwerfer direkt auf Rob gerichtet. Er drückte aufs Doppelhorn, bevor er das Steuer herumriss. Der Wagen – ein Mercedes, allerdings war Rob sich da nicht sicher – schlitterte auf seine eigene Fahrspur zurück, dann sah man nur noch im Nebel verschwindende Rücklichter.

»Du lieber Himmel, das war knapp«, sagte Jason. »Hast du dir vielleicht das Kennzeichen gemerkt?«

»Nee.« Robs Herz hämmerte so heftig, dass er das Pulsieren in der ganzen Kehle spürte. »War damit beschäftigt, uns das Leben zu retten. Hör mal, wie kann’s am City Center denn mehrere Tote gegeben haben? Ist doch viel zu früh. Da muss noch geschlossen sein.«

»Vielleicht war es ein Busunglück.«

»Unmöglich. Die Busse fahren erst ab sechs.«

Sirenen. Überall Sirenen, die sich aufeinander zubewegten wie die leuchtenden Punkte auf einem Radarschirm. Ein Streifenwagen raste vorüber, aber soweit Rob es beurteilen konnte, würden sie vor den anderen Rettungswagen und Löschzügen da sein.

Was uns die Chance gibt, erschossen oder in die Luft gesprengt zu werden, dachte Rob – von einem wild gewordenen Araber, der Allahu akbar brüllt. Nette Vorstellung.

Aber Arbeit war Arbeit, weshalb er auf die steile Rampe fuhr, die zum Hauptgebäude der Stadtverwaltung und zu dem potthässlichen Betonklotz führte, in dem er bei Wahlen seine Stimme abgegeben hatte, bevor er in einen Vorort gezogen war.

»Stopp!«, brüllte Jason. »Verdammte Scheiße, Robbie, stopp!«

Scharen von Menschen kamen aus dem Nebel auf sie zu. Manche rannten fast taumelnd die steile Rampe herunter. Einige schrien. Ein Mann stürzte, rollte über den Boden, rappelte sich auf und rannte weiter. Unter seiner Jacke ragte flatternd ein zerrissener Hemdzipfel hervor. Rob sah eine Frau mit zerfetzter Strumpfhose, blutigen Schienbeinen und nur einem Schuh. Er trat so panisch auf die Bremse, dass sich die Schnauze des Rettungswagens neigte und jede Menge ungesicherter Kram durch die Gegend flog. Medikamente,...