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WOLF'S HOUR Band 2 - Berserker

Robert McCammon

 

Verlag Festa Verlag, 2016

ISBN 9783865524218 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

1

Deutschland war das Land des Teufels – daran hegte Michael Gallatin keinen Zweifel.

Von dem Heuwagen aus, auf dem er und Maus mitfuhren – mit ungewaschener Kleidung und ebensolcher Haut, die Gesichter hinter zweiwöchigem Bartwuchs verborgen –, beobachtete Michael Kriegsgefangene beim Bäumefällen am Straßenrand. Die meisten der Zwangsarbeiter waren abgemagert und sahen wie alte Männer aus, aber der Krieg besaß die Fähigkeit, selbst Jugendliche alt aussehen zu lassen. Sie trugen sackartige graue Arbeitsuniformen und schwangen ihre Äxte wie müde Maschinen. Bewacht wurden sie von einer Lkw-Ladung Nazisoldaten, bis an die Zähne mit Maschinenpistolen und Gewehren bewaffnet. Die Soldaten rauchten und unterhielten sich, während die Gefangenen schufteten, und irgendwo in der Ferne brannte etwas – eine dichte schwarze Rauchwolke hing vor dem grauen östlichen Horizont. Ein Bombentreffer, vermutete Michael; die Alliierten verstärkten ihre Bombenangriffe im Vorfeld der Invasion.

»Halt!« Ein Soldat trat vor ihnen auf die Straße, und der Wagenlenker – ein drahtiger deutscher Angehöriger der Résistance, der Günther hieß – zügelte die Pferde. »Raus mit diesen Faulenzern!«, rief der Soldat, ein übereifriger junger Leutnant mit roten Wangen, die so dick wie Knödel waren. »Wir haben Arbeit für sie!«

»Es sind Freiwillige«, erklärte Günther mit würdevoller Miene, obwohl er nur die abgetragene Kleidung eines Bauern trug. »Ich bringe sie nach Berlin zur Arbeitseinteilung.«

»Ich teile sie zur Straßenarbeit ein«, blaffte der Leutnant. »Los, raus mit ihnen. Sofort!«

»Oh Scheiße«, flüsterte Maus in seinen zotteligen braunen Bart. Michael hatte es sich neben ihm im Heu gemütlich gemacht, und neben Michael saßen Dietz und Friedrich, zwei weitere deutsche Widerstandskämpfer, die sie begleiteten, seit sie vor vier Tagen das Dorf Sulingen erreicht hatten. Im Heu versteckt lagen drei Maschinenpistolen, zwei Luger, ein halbes Dutzend »Kartoffelstampfer«-Handgranaten und eine Panzerfaust mit einer Sprenggranate.

Günther wollte protestieren, aber der Leutnant stapfte bereits zur Rückseite des Wagens und rief: »Raus! Alle raus aus dem Wagen! Kommt schon, bewegt eure faulen Ärsche!« Friedrich und Dietz, die einsahen, dass es besser war, zu gehorchen, als mit einem kleinen Hitler zu diskutieren, stiegen aus dem Wagen. Michael folgte ihnen, Maus kam als Letzter. Der Leutnant wandte sich wieder an Günther. »Los, du auch. Fahr den Scheißwagen von der Straße und komm mit!« Günther ließ die Zügel schnalzen und lenkte den Wagen unter eine Gruppe Kiefern.

Der Leutnant scheuchte Michael, Maus, Günther und die anderen beiden Männer zum Lastwagen, wo man ihnen Äxte aushändigte. Michael sah sich um und zählte neben dem Leutnant noch 13 weitere deutsche Soldaten. Mehr als 30 Kriegsgefangene waren damit beschäftigt, die Kiefern zu fällen. »Also gut!«, bellte der Leutnant, der bis auf einen Schnäuzer glatt rasiert war. »Ihr zwei nach da drüben!« Er schickte Michael und Maus mit einer Handbewegung nach rechts. »Die anderen dahin!« Günther, Dietz und Friedrich wurden nach links geschickt.

»Äh … Entschuldigung, Herr Leutnant«, meldete Maus sich ängstlich. »Äh … was sollen wir denn eigentlich tun?«

»Bäume fällen natürlich!« Der Leutnant verengte die Augen und musterte den kaum 1,60 Meter großen, braunbärtigen und schmutzigen Maus. »Bist du genauso blind, wie du dumm bist?«

»Nein, Herr Leutnant. Ich habe mich nur gefragt …«

»Befolge einfach die Befehle! Und jetzt mach dich an die Arbeit!«

»Ja, Herr Leutnant.« Maus nahm seine Axt und trottete an dem Leutnant vorbei. Michael folgte ihm. Die anderen gingen zur gegenüberliegenden Straßenseite. »He!«, rief der Leutnant. »Zwerg!« Maus blieb stehen, innerlich vor Angst zitternd. »Das Einzige, was die Wehrmacht mit dir anfangen könnte, wäre, dich in eine Kanone zu stopfen und auf die verdammten Engländer zu schießen!« Ein paar der anderen Soldaten lachten, als hielten sie es für einen großartigen Witz. »Ja, Herr Leutnant«, antwortete Maus und stapfte zum Waldrand.

Michael suchte sich einen Platz zwischen zwei Kriegsgefangenen und begann, die Axt zu schwingen. Die anderen Zwangsarbeiter hielten weder in ihrer Arbeit inne, noch nahmen sie anderweitig von ihm Notiz. Holzspäne flogen durch die kühle Morgenluft, und der Duft von Kiefernharz vermischte sich mit dem Geruch nach Schweiß und Anstrengung. Michael fiel auf, dass viele der Zwangsarbeiter gelbe Davidsterne auf ihren Arbeitsuniformen trugen. Alle waren männlich, alle schmutzig, und alle hatten die gleichen ausgemergelten Gesichter und glasigen Augen. Sie waren, zumindest für den Augenblick, in ihren Erinnerungen abgetaucht, und die Äxte wurden in einem monotonen, mechanischen Rhythmus geschwungen. Michael fällte einen dünnen Baum und trat einen Schritt zurück, um sich mit dem Unterarm das Gesicht abzuwischen. »He, nicht aufhören!«, schnauzte ihn ein Soldat an, der hinter ihm stand.

»Ich bin kein Häftling«, stellte Michael klar. »Ich bin Bürger des Deutschen Reiches. Ich erwarte, mit Respekt behandelt zu werden … Junge«, fügte er noch hinzu, denn der Soldat war höchstens 19 Jahre alt.

Der Deutsche funkelte ihn an. Es gab einen Moment der Stille, unterbrochen nur von den dumpfen Schlägen der Äxte, und dann brummte der Soldat etwas und ging weiter die Reihe der Zwangsarbeiter entlang, seine MP 40 an die Brust gedrückt.

Michael machte sich wieder an die Arbeit und schwang die Axt in hohem Bogen. Unter seinem Bart knirschte er mit den Zähnen. Es war der 22. April, 18 Tage nachdem er und Maus Paris verlassen und sich auf die Route begeben hatten, die Camille und die französische Résistance für sie arrangiert hatten. In diesen 18 Tagen waren sie in Fuhrwerken, Ochsenkarren, Güterzügen, zu Fuß und per Ruderboot durch Hitlers Reich gereist. Sie hatten in Kellern geschlafen, auf Dachböden, in Höhlen, im Wald und in Wandverstecken, und sie hatten sich von dem ernährt, was ihre Helfer für sie entbehren konnten. Ein paarmal hätten sie hungern müssen, hätte Michael nicht eine Gelegenheit gefunden, sich unbemerkt seiner Kleidung zu entledigen und nach kleinen Beutetieren zu jagen. Trotzdem hatten Michael und Maus fast fünf Kilo verloren und sahen hohläugig und hungrig aus. Aber so sahen auch die meisten Zivilisten aus, die Michael unterwegs gesehen hatte; die Rationen gingen an die Soldaten, die in Norwegen, Holland, Frankreich, Polen, Griechenland und Italien stationiert waren, und natürlich an die, die in Russland um ihr Leben kämpften, und die Bewohner des Deutschen Reiches starben jeden Tag ein kleines bisschen mehr. Hitler mochte stolz auf seinen eisernen Willen sein, aber es war sein eisernes Herz, das langsam, aber sicher sein Land zerstörte.

Und was hat es mit der Eisernen Faust auf sich?, fragte Michael sich, während seine Axt Holzspäne durch die Luft schleuderte. Er hatte viele der Widerstandskämpfer und Agenten zwischen Paris und Sulingen nach diesem Begriff befragt, aber niemand kannte seine Bedeutung. Man war sich jedoch einig, dass diese Codebezeichnung ganz Hitlers Stil entsprach; außer in seinem Willen und seinem Herzen musste es auch einiges an Eisen in seinem Gehirn geben.

Was auch immer diese Eiserne Faust war, Michael musste es herausfinden. Der Juni rückte näher, die Invasion stand bevor, und es wäre Selbstmord, wenn die Alliierten die Strände stürmten, ohne genau zu wissen, was sie dort erwartete.

Ein weiterer Baum fiel unter Michaels Axthieben. Berlin lag knapp 50 Kilometer östlich von hier. So weit waren sie gekommen, durch ein Land, zernarbt von nächtlichen Bombenangriffen. Sie waren SS-Trupps, Panzerwagen und misstrauischen Dorfbewohnern aus dem Weg gegangen, nur um jetzt von einem unreifen Leutnant aufgehalten zu werden, der nichts Besseres im Sinn hatte, als Bäume zu fällen. Agentin Echo sollte in Berlin Kontakt zu Michael aufnehmen – auch das hatte Camille arrangiert –, und zu diesem Zeitpunkt konnte jede Verzögerung fatal sein. Keine 50 Kilometer mehr, und die Äxte gruben sich weiter in das Holz.

Maus fällte seinen ersten Baum und sah zu, wie er langsam umkippte. Links und rechts von ihm arbeiteten die Häftlinge stumpf weiter. Die Luft war voller stechender Holzsplitter. Maus stützte sich auf die Axt, seine Schultern schon jetzt völlig verkrampft. Tief im Wald ahmte ein Specht klopfend die Äxte nach. »Na los, an die Arbeit!« Ein Soldat mit einem Gewehr trat neben Maus.

»Ich ruhe mich nur für eine Minute aus. Ich …«

Der Soldat trat ihm gegen die rechte Wade – nicht fest genug, um ihn zu Fall zu bringen, aber mit genug Wucht, dass er einen blauen Fleck davontragen würde. Maus schreckte zusammen und sah, wie sein Freund – der Mann, den er nur als Grünauge kannte – seine Arbeit einstellte und sie beobachtete.

»Ich sagte: an die Arbeit!«, befahl der Soldat, den es nicht zu kümmern schien, ob Maus Deutscher war oder nicht.

»Schon gut, schon gut.« Maus nahm seine Axt wieder in die Hand und humpelte etwas tiefer in den Wald. Der Soldat war direkt hinter ihm, offenbar wartete er nur auf einen weiteren Vorwand, den kleinen Mann treten zu können. Kiefernnadeln kratzten über Maus’ Gesicht, als er die Zweige beiseiteschob, um an den Stamm zu gelangen.

Und da sah er zwei dunkelgraue, mumifizierte Füße vor seinem Gesicht hängen.

Verblüfft blickte er nach oben. Sein Herz machte einen...