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Der Überfall - Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion - Ein SPIEGEL E-Book

Klaus Wiegrefe

 

Verlag SPIEGEL-Verlag, 2016

ISBN 9783877631607 , 290 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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2,99 EUR


 

1. Vorgeschichte
SPIEGEL SPECIAL 2/2005

Brutale Praxis


Die deutsche Armee war voll in den nationalsozialistischen Unrechtsstaat integriert. Besonders in Polen, Südosteuropa und in der Sowjetunion war die Wehrmachtführung für Massenmorde verantwortlich. Von Dieter Pohl
Am 22. Juni 1941 begann mit dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion der brutalste Vernichtungskrieg der Geschichte, in dessen Verlauf Millionen Kriegsgefangener und Zivilisten im Osten ermordet wurden. Damit war zweifelsohne der Tiefpunkt in der Geschichte des deutschen Militärs erreicht. Doch die Integration der Armee in den nationalsozialistischen Unrechtsstaat reicht viel weiter zurück.
Die kleine Reichswehr der Weimarer Republik begrüßte bereits die „nationale Revolution“ des Jahres 1933. Denn Hitler versprach sofort die Wiederaufrüstung Deutschlands, insgeheim sogar einen Krieg zur Erringung der Hegemonie.
Da wog es gering, dass die Machtübernahme von einer Welle ungezügelter Gewalt begleitet war. Die enorme Expansion der Wehrmacht ab 1935 beschleunigte ihren inneren Wandel. Die Masse der neuen Offiziere und Soldaten entstammte einer neuen Generation, nicht wenige kamen aus SA und Hitlerjugend. Zugleich betrieb die Wehrmachtführung in ihrer Schulung und Propaganda eine deutliche Anpassung an die rassistische Ideologie.
Doch noch empfand sich die Wehrmacht als zweite Säule im Staat, nahezu gleichberechtigt neben der NS-Bewegung. Das musste zwangsläufig zu Konflikten führen. So bildete sich im Rahmen der Sudetenkrise Ende 1938 eine kleine, aber bedeutsame Militäropposition. Diese war jedoch nicht gegen die terroristische Innenpolitik des Regimes gerichtet, sondern gegen Hitlers gefährlichen außenpolitischen Kurs. Dieser würde den europäischen Krieg zu früh vom Zaun brechen, bevor ausreichend aufgerüstet sei.
Nachdem die riskanten Manöver zur Zerschlagung der Tschechoslowakei glückten, traf der Angriff auf Polen kaum mehr auf Opposition.
Mit dem Polenfeldzug vom September 1939 begann die Integration des Militärs in die nationalsozialistischen Verbrechen. Etwa 20000 polnische Kriegsgefangene und Zivilisten wurden im Verlaufe des Feldzugs ermordet, und zwar nicht nur durch SS und Polizei. Etwa die Hälfte der Opfer ging auf das Konto deutscher Heereseinheiten, wo man schnell mit dem Vorwurf des Partisanenwesens oder mit völkerrechtswidrig exzessiven Repressalien zur Hand war. Gegen die Verbrechen der SS, die sich systematisch gegen die polnische Elite richteten, erhob sich jedoch bald scharfer Protest der Generäle: Die SS habe sich hier exekutive Kompetenzen angemaßt, die mit den Militärs nicht abgesprochen gewesen seien.
Sodann war es der Krieg gegen Frankreich, der den Generälen Sorge machte. Doch völlig unerwartet konnte der „Erbfeind“ 1940 binnen sechs Wochen niedergeworfen werden: ein Blitzkrieg, der nicht als solcher geplant war. Nun fielen die letzten Kritiker um und schwenkten in den Führerkult ein. England war zwar noch nicht besiegt, doch der deutsche Machtbereich erstreckte sich fast über den gesamten europäischen Kontinent. Das Militär übernahm dabei nicht nur die Eroberungen, sondern auch den Export nationalsozialistischer Unterdrückungspolitik. Schon in Polen hatte die kurzzeitig währende Militärverwaltung 1939 die Ausplünderung der Bevölkerung und vor allem die Entrechtung der Juden eingeleitet. Die Besatzungspraxis in Polen, zu der Deportationen und Massenmorde gehörten, wurde Mitte 1940 von der Militärführung offiziell gutgeheißen, obwohl sich intern auch Protest regte. In Nordfrankreich und Belgien übernahm die Wehrmacht die Besatzungsherrschaft auf Dauer. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, reiste eigens nach Paris, um dort die Enteignung der französischen Juden voranzutreiben.
Die Rückkehr zur direkten Gewaltanwendung brachte nicht erst der Krieg gegen die Sowjetunion, sondern bereits der Überfall auf Südosteuropa ab April 1941. Ähnlich wie in Polen anderthalb Jahre zuvor, richteten deutsche Truppen große Massaker an. Nach den erbitterten Kämpfen um Kreta, an denen sich auch die einheimische Bevölkerung beteiligt hatte, erschoss die deutsche Fallschirmtruppe in zahlreichen Dörfern die Männer.
Doch dies alles wurde im Krieg gegen die Sowjetunion in den Schatten gestellt. Bereits die militärische Anlage des Feldzugs barg eine Radikalisierung in sich. Hier entfaltete sich der erste absichtsvoll entwickelte Plan für einen Blitzkrieg. Vorgesehen war ein kurzer Feldzug von acht bis zehn Wochen, bei dem Panzerspitzen tief in sowjetisches Territorium eindringen sollten, um den Großteil der Roten Armee einzukesseln. Entsprechend labil war die Logistik aufgebaut: Sie war nur auf kurze Zeiträume ausgerichtet und belastet mit dem Problem überlanger Versorgungslinien. Deshalb übernahm die Militärspitze die Überlegungen des „Ernährungsdiktators“ Herbert Backe, der die volle Versorgung der Wehrmacht mit Lebensmitteln aus dem Lande avisierte und dabei den Hungertod von Millionen Einheimischen einkalkulierte.
Um dieses riskante Vorgehen zu sichern und jeglichem Widerstand im Hinterland brachial den Boden zu entziehen, wurden die Einheimischen im sogenannten Kriegsgerichtsbarkeitserlass völlig entrechtet; den Soldaten versprach er bei Gewaltanwendung weitgehende Straffreiheit. Die verbrecherische Feldzugsplanung ging noch weiter. Um Konflikte wie in Polen 1939 zu vermeiden, gab die Militärführung den SS- und Polizeieinheiten, allen voran den berüchtigten Einsatzgruppen, weitgehende Handlungsfreiheit. Auch die Fronttruppe sollte nicht unbeteiligt bleiben. Der berüchtigte „Kommissarbefehl“ sah vor, dass Offiziere für die sofortige Tötung gefangener Politfunktionäre der Roten Armee sorgen sollten.
Die hemmungslose Beteiligung der Wehrmachtführung an der Planung von Massenverbrechen ist nur verständlich, wenn man berücksichtigt, dass die Militärs erwarteten, die Hoheit binnen kurzer Frist an zivile Besatzungsbehörden abzugeben. Doch weder funktionierte der Feldzugsplan, noch verlief die Durchführung der Massenverbrechen so geräuschlos, wie das die Wehrmachtführung angenommen hatte. Zwar meldete etwa die Hälfte aller Divisionen die Erschießung von Politkommissaren der Roten Armee, doch regten sich auch deutliche Widerstände gegen die Ausführung dieser Morde.
Über die Massaker der SS- und Polizeieinheiten, zunächst an jüdischen Männern verübt, waren die Oberkommandos gut informiert. Kritik daran wurde höchstens unter der Hand geäußert. Als aber deutlich wurde, dass die SS nach zwei bis drei Monaten auch jüdische Frauen und Kinder zu erschießen begann, erhob sich an vielen Stellen Protest. Freilich galt dies kaum für die Militärverwaltung; die meisten Stellen halfen weiterhin beim Massenmord, sei es durch die Anordnung zur Versammlung der Juden, durch die Lieferung von Munition an die SS, gelegentlich sogar durch die Teilnahme von Soldaten oder durch den Einsatz von Pionieren beim Bedecken der Massengräber.
Die eigentlichen Hauptopfer der Wehrmacht in der Sowjetunion waren die gefangenen Rotarmisten. Sie wurden von Anfang an unmenschlich behandelt, Tausende schon beim Transport erschossen. Völlig unzureichend untergebracht, senkte man für die Mehrheit von ihnen im Oktober 1941 die ohnehin schon kümmerlichen Essensrationen. In der Folge starb ein großer Teil der Gefangenen binnen kürzester Zeit. Zwar hing dieser Massenmord indirekt mit Versorgungsproblemen der Truppe zusammen, doch grassierte er in ähnlichem Ausmaß auch fern der Front. Bestimmte Kriegsgefangene wie Juden oder Kommunisten, gelegentlich auch Asiaten, sortierte man in den Lagern aus, sie wurden von SS oder Wehrmacht erschossen. Etwa drei Millionen Rotarmisten starben in deutscher Hand.
Auch die zivile Bevölkerung im Militärgebiet hatte schwer zu leiden. In den Gebieten mit russischer Mehrheit, vor Leningrad, im Donezbecken oder auf der Krim, starben besonders die Stadteinwohner massenhaft an Hunger, weil ihnen kaum Rationen zugebilligt wurden. Am schwersten traf es Einheimische in den Partisanengebieten. Gemeinsam mit der SS vertrieb die Wehrmacht die Einwohner aus ihren Dörfern und erschoss tausendfach angebliche „Partisanenverdächtige“. Freilich war das extrem gewalttätige Vorgehen, das besonders von SS und Polizei forciert wurde, nicht unumstritten. Viele Offiziere verfolgten eine Politik, die sich erbarmungslos gegen Partisanenverdächtige richtete als auch die Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen suchte, zwei letztlich unvereinbare Ziele.
Dieses Muster wurde überall dort wirksam, wo die Wehrmacht im besetzten Europa gegen Widerstand vorging; zunächst in besonders brutaler Machart in Serbien, wo deutsche Einheiten noch 1941 fast alle jüdischen Männer als Repressalie gegen Partisanenanschläge ermordeten. Als sich der Partisanenkrieg 1942/43 nach Bosnien verlagerte, bevorzugten die Militärs Massendeportationen statt Erschießungen. Mit dem Beginn der Partisanenaktionen weitete sich die brutale Praxis auch auf Polen, Griechenland, Italien und zuletzt Frankreich aus. In diesen Ländern sind Polizei und Waffen-SS wohl für die meisten Opfer verantwortlich, ähnlich wie bei der Niederschlagung der Aufstände in Warschau und in der Slowakei ab August 1944.
Wie kam es zu dieser tiefgreifenden Integration des Militärs in das verbrecherische System des Nationalsozialismus, und welche Ausmaße nahm sie an? Zweifelsohne bildete die politische Integration der Armee in den Staat die Voraussetzung. Zugleich aber machte die Mehrheit des Personals den gleichen Anpassungsprozess mit wie die übrige Bevölkerung auch. Extremer...