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Ostwind - Auf der Suche nach Morgen

Lea Schmidbauer

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2016

ISBN 9783641200374 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

1. Kapitel


Ein riesiger silberner Vollmond tauchte die Ebene in kühles Licht, aber der Wind, der sanft durch das dürre Gras strich, war warm auf ihrer Haut. Im Schneidersitz saß sie da, hatte die Augen geschlossen und wartete. Noch war nichts zu hören, außer den Grillen und dem Rascheln des Grases. Doch dann spürte sie es. Etwas bewegte sich auf sie zu. Sie fühlte den leisen Luftzug, roch den warmen erdigen Geruch und als sie das sanfte Schnauben hörte, erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie öffnete die Augen und ihr Herz machte einen Doppelschlag, als sie das dunkle Pferd sah, das wenige Meter vor ihr stehen geblieben war. Sein schwarzes Fell war im fahlen Mondlicht kaum von der Dunkelheit zu unterscheiden, aber die goldbraunen Augen und der weiße Stern auf seiner Stirn schienen umso heller zu leuchten. Für einen Moment sahen die beiden sich an, dann streckte sie die Hand aus und das Pferd nahm ihre Bewegung auf. Es kam die letzten Schritte auf sie zu und senkte den Kopf. Behutsam tasteten die weichen Nüstern über ihren Arm und als sie ihre Stirn an seine legte, war es wieder da: Das vertraute Gefühl zweier Energien, die sich zu einer verbanden wie zwei Hälften eines Ganzen. Sie atmete tief ein und fühlte, wie … sie etwas am Ohr kitzelte.

Mika verzog das Gesicht, drehte sich um und kuschelte sich energisch tiefer in die karierte Wolldecke. Sie wollte jetzt noch nicht aufwachen! Sie hatte schließlich den ganzen Vormittag mit einem starrköpfigen Haflinger verbracht, der nur widerwillig eingesehen hatte, warum er dem mickrigen Zweibeiner, der ihm jeden Tag sein Heu brachte, erlauben sollte, auf seinen Rücken zu steigen. Jetzt war ihre Mittagspause und die hatte sie sich redlich verdient. Wieder kitzelte es, diesmal an ihrer Nase, und sie wollte den nervigen Heuhalm gerade wegschieben, als ihre Finger in etwas Wolliges griffen. Das war doch … ein schlaftrunkenes Grinsen breitete sich auf Mikas Gesicht aus, als sie weitertastete: ein flauschiges Ohr, eine kleine warme Nase.

»Ora!« Sie schlug die Augen auf und sah das schwarze Fohlen, das neben ihr stand und genüsslich lange Halme aus dem Heuballen zog, auf dem sie ihr Lager errichtet hatte. Als es seinen Namen hörte, hielt es inne, legte den Kopf schief und sah Mika fragend an. »Hey! Du hast mich geweckt!« Es sollte eigentlich streng klingen, aber wie immer konnte sie dem kleinen Pferd nicht wirklich böse sein. Ora trat einen Schritt näher und lehnte ihren Kopf an Mika, die sie liebevoll zwischen den Ohren kraulte. »Ach egal, solange du keinen Unsinn anstellst …«, doch weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment ertönte ein gellender Schrei.

»AHHHHHHH!« Erschrocken riss Ora den Kopf hoch – und nun sah Mika den verdächtigen dunkelbraunen Bart um ihr rosa Maul. Und den schmierigen Fleck, den sie auf ihrem T-Shirt hinterlassen hatte. Alarmiert sprang sie auf. »Ihhh, was ist das? Was hast du gemacht?«

»ORAAAAAAA!!«, hallte es prompt über den Hof und zu Mikas Entsetzen erkannte sie die kräftige Stimme ihrer Großmutter. Doch Ora sah nicht aus, als hätte sie den Ernst der Lage erkannt und antwortete stattdessen mit einem fröhlichen Wiehern. Fieberhaft hielt Mika dem überraschten Fohlen das Maul zu. »Pschhht!« Aber es war zu spät, schon hörte sie, wie sich hastige Schritte dem Heu­lager näherten, in das sie sich für ihren Mittagsschlaf zurückgezogen hatte. Mika hielt den Atem an und versuchte, kein Geräusch zu machen. Noch war sie sicher, denn sie hatte sich vorsorglich hinter einer dichten Mauer aus Heuballen versteckt, doch im nächsten Moment schwand auch diese Hoffnung. Ein Kopf reckte sich über die Heumauer und Mika atmete erleichtert aus, als sie in Sams braune Augen sah. Nur verhieß sein ernster Blick nichts Gutes.

»Mann, Mika! Da bist du ja! Und wo zur Hölle ist …« In diesem Moment lockerte Mika den Griff um Oras Maul und das Fohlen stieß ein empörtes Schnauben aus. »Ora?« Sam musste grinsen. Auch er war dem Charme der kleinen Stute längst verfallen. Mika lächelte entschuldigend.

»Ich hab nur ganz kurz die Augen zugemacht, ich schwör’s. Ich dachte, Tinka passt auf.« Sam verdrehte die Augen.

»Tinka? Superidee. Die hat ja schon mit ihrem durchgeknallten Pony alle Hände voll zu tun.« Er schob sich durch den schmalen Spalt zwischen den Heuballen in Mikas Versteck und erst jetzt sah sie seinen merkwürdigen Aufzug. Seine widerspenstigen braunen Haare waren akkurat gescheitelt und er trug statt des gewohnten Karohemds einen dunklen Anzug, der ihm deutlich zu klein war. Mika musste ein Kichern unterdrücken.

»Warum siehst du aus wie ein Staubsaugervertreter?« Sams Augenbrauen zogen sich drohend zusammen.

»Weil ich im Gegensatz zu dir nicht vergessen habe, dass heute der TERMIN ist!« Mika erstarrte.

»Heute wie … heute?«

Sam nickte.

»Heute wie jetzt. Und jetzt wie in fünf Minuten. Sie sind jeden Moment da. Und dann gab es da dieses kleine Missgeschick mit der Sachertorte …«

»Oh nein!«

»Oh doch!« Er nickte in Oras Richtung, die mit Unschuldsmiene neben Mika stand und ihn aufmerksam ansah. »Frau Kaltenbach ist … wie heißt das Wort, das ich suche? Ungehalten?«

»Fuchsteufelswild?«, schlug Mika kleinlaut vor und legte eine Hand auf Oras Rücken. Wie konnte sie das nur vergessen? Seit Wochen sprach ihre Großmutter von nichts anderem als dem Besuch ihrer alten Freundin. Mika hatte jede Anekdote gehört, die die beiden in ihrer aktiven Zeit als Springreiterinnen erlebt hatten, sie kannte den Namen jedes Pferdes, den Punktestand jedes Turniers. Wie ein Feldwebel war Maria Kaltenbach in den letzten Tagen über den Gutshof gefegt, um Kaltenbach in vollem Glanz erstrahlen zu lassen. Sie hatte Mika sogar ein Kleid bestellt, in dem sie laut Fanny zwar aussah wie ein Transvestit, das ihrer Großmutter aber Tränen der Rührung in die Augen getrieben hatte. Und dieses Kleid hing jetzt unerreichbar in ihrem Schrank! Mit schreckgeweiteten Augen sah sie Sam an, der offenbar denselben Gedanken hatte und bedauernd den Kopf schüttelte.

»Vergiss es. Das schaffst du nie. Und Zuspätkommen ist schlimmer.«

Mika schluckte und sah an sich hinab. So schlimm war es nicht. Die Jeans hatte kein Loch, ihre roten Turnschuhe waren nur ein bisschen schlammig und das weiße T-Shirt hatte sie heute Morgen frisch angezogen. Nur hatte es jetzt einen tellergroßen dunkelbraunen Fleck an der Schulter, der, wie sie nun wusste, wohl von Mariannes berühmter Sachertorte herrührte.

»Oh Gott«, entfuhr es ihr unwillkürlich. Sam sah sie mitleidig an.

»Na komm, es hilft nichts. Wir müssen nur den Satansbraten irgendwo einsperren. Vor der berühmten, unvergleichlichen, hochwohlgeborenen Ingeborg Rauschenberg wird deine Oma dir sicher nicht den Kopf abreißen.« Er grinste und Mika fühlte sich sofort ein bisschen besser. »Und wenn doch, kannst du ihr ja einfach zur Ablenkung einen Staubsauger verkaufen.«

Als Mika und Sam wenig später die Terrasse betraten, thronte Maria Kaltenbach bereits am Ende des festlich gedeckten Kaffeetischs. Das Erste, das Mika sah, war die Sachertorte. Marianne hatte sich redlich bemüht, sie mit Sahneverzierung und Marzipanrosen zu retten, aber nach Oras Attacke erinnerte sie doch eher an einen Kuhfladen. Neben ihrer Großmutter saß eine hagere Frau mit grauem Dutt und Hakennase, die in ihrer hochgeschlossenen grünen Seidenbluse ein bisschen aussah wie ein Habicht auf einem Jagdausflug. Kleinlaut schob Mika sich neben Sam an den freien Platz am Tisch und versuchte ein Lächeln in Richtung ihrer Großmutter. Doch die warf ihr nur einen kurzen Blick zu, der gereicht hätte, die Hölle gefrieren zu lassen und wandte sich dann wieder der Habichtfrau zu, die so laut sprach, als wäre Maria Kaltenbach schwer­hörig.

»… und mit Persephone haben wir letztes Jahr in ­Aachen gewonnen, 23 Sekunden, fehlerfrei. Ich habe einfach einen Blick für gutes Genmaterial, und das sage ich in aller Bescheidenheit.« Der dickliche Mann, der neben ihr saß, nickte Mika und Sam freundlich zu.

»Das sagst du, wie immer, ohne alle Bescheidenheit, Liebste«, sagte er dann gutmütig und fügte hinzu: »Aber es stimmt. Es lief gut für uns in der letzten Saison. Wie sieht es denn bei dir aus, Maria? Ach … ist das deine berühmte Enkelin? Man hat ja schon einiges von ihr gehört!« Die hagere Frau schien die Neuankömmlinge erst jetzt zu bemerken. Sie drehte den Kopf und lächelte erwartungsvoll – für ungefähr eine halbe Sekunde. Offenbar hatte sie etwas ganz anderes erwartet als ein schlaksiges Mädchen mit wilden roten Haaren und einem fleckigen T-Shirt. Ihr Lächeln wurde deutlich schmaler. Maria räusperte sich.

»Ja, das ist Mika. Wir sind alle sehr stolz auf sie.«

»Viel gehört, ja, ja«, echote sie und sah Maria Kaltenbach mitfühlend an.

»Sie hat ein außergewöhnliches Talent.« Ingeborg legte ihre knochige Hand wohlwollend auf Marias.

»Natürlich von dir. Wie gesagt, gute Gene …« Sie wandte sich an Mika. »Und, wie sieht dein Turnierplan aus in diesem Jahr? Springen oder Dressur, ich habe das nicht genau mitbekommen?«

Mika lächelte. »Weder noch.« Die buschigen Brauen des Habichtgesichts zogen sich zusammen.

»Ach, wie enttäuschend. Dann Military? Vielseitigkeit vielleicht?« Mika schüttelte den Kopf und sah die Frau her­ausfordernd an.

»Nein. Und ich finde auch …« In diesem Moment spürte sie einen schmerzhaften Tritt gegen ihr Schienbein und Sam neben ihr hustete.

»Mika beschäftigt sich mehr mit … alternativen...