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Der Diakon - Limburg-Roman

Horst Christian Bracht

 

Verlag Societäts-Verlag, 2016

ISBN 9783955422295 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Vorwort – Hotzel-Carl


Es gibt einige, äußerst seltene Momente der Selbsterkenntnis im Verlaufe eines Lebens, die einen Menschen entweder in tiefe Verzweiflung stürzen oder der Zukunft eine Vision, ein zu erstrebendes Ziel und neue Zuversicht geben können.
Ausgerechnet bei einem feierlichen Requiem für eine hochehrwürdige Adelswitwe anno 1678 wurde ihm bewusst, sein Leben werde einst so enden, wie es begonnen hatte: als ehrloser, krüppeliger Bastard, geächtet von Kirche und Gemeinde, vielleicht sogar auf dem Acker der Verstoßenen verscharrt, ohne christlichen Segen. Mit der unehelichen Geburt war sein Leben vorbestimmt. Knecht blieb Knecht, Adel und Klerus standen jedoch die Welt offen dank der ihnen – und nur ihnen – verliehenen Macht, sei es weltliche oder geistliche oder weltliche und zugleich geistliche. Verliehen von wem? Von Gottes Gnaden? Wen Gott liebt, so sagte man, dem schenkt er adliges Geblüt, Macht, Ehre, Weisheit und Wohlstand. Die weltlichen und kirchlichen Würdenträger schwelgten im Pomp und Überfluss, davon konnte er nur träumen. Der brave, gemeine Bürger hatte den Mächtigen zu dienen, vor ihnen untertänigst im Staub zu kriechen.
Der vierzehnjährige Carl war zu dieser Trauerfeier eigentlich nicht zugelassen, das Volk war ausgesperrt, hatte vor der Klosterkirche zu warten. Sein Ziehvater, Ratsherr der Stadt, hatte ihn eingeschleust: Carl müsse dieser für Lympurg einmaligen Ansammlung von höchsten Würdenträgern beiwohnen, dieses Ereignis dürfe er nicht versäumen. Seine rastlosen, aufgerissenen Augen schweiften immer wieder über die Hochwürden und Hochwohlgeborenen, als sie den breiten Gang zum Traueraltar hinunterschritten. Es schien, als blicke er durch eine unsichtbare Mauer auf Menschen, die der Schöpfer mit besonderen Privilegien ausgestattet hatte, die wahrlich Gottes Lieblinge sein mussten.
Immer wieder schaute er zum Gekreuzigten in der Klosterkirche Sankt Sebastian auf. Zunächst noch zögerlich fragend, dann mit einem deutlichen Ausdruck des Unmutes. Warum? Warum hatte der Allmächtige ihn nicht als Adligen in die Welt gesetzt? Warum hat er ihn mit körperlichem Makel gestraft? Warum musste sein Leben mit dem Tod seiner Mutter beginnen?
Seine Mutter Anna hatte sich einst als Küchenmagd beim Freiherrn von Walderdorff bedingt. Zwei Jahre bevor die Arbeiten für den Um- und Neubau des kompakten, feudalen Gebäudekomplexes mitten in der Stadt, hinter den Brotschirnen, begannen. Sie musste vor allem die Handwerker – vorwiegend italienische – bekochen. Anna war die jüngste von drei Schwestern, von denen zwei bereits unter der Haube waren. Ihre Eltern hatten sie bereits lange verloren. Die Töchter mussten zusehen, wo sie blieben. Lisbeth war mit dem Hofbeständer Johann Pauli von Blumroth verheiratet. Keine besonders erstrebenswerte Partie, aber sie war versorgt. Die andere, hübschere Schwester Maria hatte sich den reichen Lympurger Ratsherrn und Tuchhändler Hans Birkenbühl geangelt, sie wollte nicht wie ihre anderen Schwestern als Magd enden. Anna dagegen war stolz, am neuen, herrschaftlichen Hof der Freiherrn arbeiten zu dürfen, war es doch neben der Residenz des Churfürstlichen Oberamtmanns oben auf dem Felsen das zweitgrößte und bedeutendste profane Bauwerk der Stadt, das die Lympurger auch als „Stadtschloss“ bezeichneten. Zu ihrer größten Freude hatte sie eine eigene kleine Kammer am Hof beziehen dürfen. Die Küchenmägde hatten Anna ob ihrer freundlichen, lebensfrohen Art ins Herz geschlossen. Aber das Schicksal war ihr nicht hold. Nach einer kurzen, ungestümen Liebesaffäre wurde sie schwanger. Bald strengte sie die Küchenarbeit zu sehr an, und als sie zudem großes Unwohlsein plagte, bat sie ihre Schwester Lisbeth, auf dem abgelegenen Hof Blumroth niederzukommen. Sie verließ den Walderdorffer Hof nicht unbedingt freiwillig, denn der rigorose Küchenmeister drängte sie mit Nachdruck, in ihrem Zustand vom herrschaftlichen Anwesen zu verschwinden. Der gestrenge Baron dulde keine unverheiratete Magd in guter Hoffnung an seinem ehrwürdigen, honorigen Domizil. Sie sei ein gefallenes Mädchen, das nur noch im Freudenhaus oder bei den Nonnen Unterschlupf finden werde. Er vertrieb sie mit Schimpf und Schande von der herrschaftlichen Baustelle. Mit ihr verschwand auch ihr Liebhaber auf Nimmerwiedersehen.
Von heftigen Schmerzen gepeinigt, setzten die Wehen unverhofft und zu früh ein. Eine eilig aus der Nachbarschaft herbeigerufene Wehmutter sorgte sich bei der schwierigen Geburt um das Wohl der Mutter, aber auch des neugeborenen Knaben. Sie schwitzte Blut und Wasser, hatte sie doch nie an einer Ausbildung zur Hebamme teilgenommen, nie den Ammeneid abgelegt. Ihre Kenntnisse stammten allein von ihrer Mutter, die von den Bäuerinnen gerufen wurde, wenn eine Niederkunft bevorstand. Geburtshilfe war zwar per Gesetz nur den examinierten Ammen vorbehalten, doch die konnte sich auf dem Land niemand leisten, die gab es nur in der Stadt.
Die Geburt war schmerzvoll und langwierig, man musste um das Leben der Mutter fürchten. Zudem zeigte das Neugeborene deutliche Anzeichen einer körperlichen Missbildung. Wie sollte die Wehmutter damit umgehen? Bei derartigen Komplikationen könnte sie sehr schnell in den Verdacht einer ‚weisen Frau’ geraten, als Hexe denunziert werden und auf dem Scheiterhaufen landen. Tief besorgt wandte sie sich an die Bauersfrau, die ihr bei der Niederkunft helfend zur Hand ging.
„Die schwere Geburt hat Eure Schwester zu sehr geschwächt. Ich rate Euch dringend, einen studierten Arzt hinzuzuziehen. Der Junge ist aber wohlauf, obschon ich zu bedenken gebe …“
„Was ist mit dem Balg?“, mischte sich Bauer Johann ein, angelockt vom lauten Geschrei des Neugeborenen. Ungewöhnlich für den schweigsamen Mann. Beunruhigt sah er auf den kleinen Körper, den großen Kopf, die kurzen Beinchen. Der Volksmund beteuerte mit ernsthafter Miene, in einem verkrüppelten Körper wohne nicht nur der Teufel, sondern auch ein wirrer Geist. Besser sei es, den Teufelsbraten ohne Zaudern unter Anrufung aller Heiligen im Namen des Herrn sofort bei der Geburt zu töten. Doch Johann scherte sich nicht um solche, in seinen Augen unsinnige Hexensprüche.
„Was wollt ihr? Ist doch alles dran, alle Finger und Zehen und das Zippelche, was einen Jungen ausmacht. Wäre das Neugeborene ein Mädchen, dann hätten wir sicher ein Problem. Rettet seine Seele und tauft ihn auf der Stelle auf den Namen Carl, damit ich ihn im Kirchenbuch von Sankt Peter in Dietz eintragen lassen kann. Ich hole derweil einen Medicus vom Lympurger Hospital.“
Anna verstarb im Wochenbett. Der herbeigerufene Arzt fragte Johann ungehalten, welche Hebamme denn bei der Geburt behilflich war. Johann wies auf die Eilbedürftigkeit hin, er habe keine andere Wahl gehabt, als eine Wehmutter aus der Nachbarschaft zu rufen. Achselzuckend bohrte der Medicus nicht weiter nach und beruhigte die Schwester der Verstorbenen, als sie die Hände bestürzt vors Gesicht schlug. Nein, die Amme trage keine Schuld am Tod der Mutter. Wer denn der Vater des Kindes sei, fragte der Arzt, er bräuchte den Namen für den Geburtsschein, darauf bestünden Klerus und Stadtrat. Doch sowohl Lisbeth als auch Johann waren überfragt. Anna hatte das Geheimnis, wer sie geschwängert hatte, mit ins Grab genommen. Sie wurde ohne Aufsehen auf dem Armenteil des Friedhofs von Sankt Peter in Dietz verscharrt. Für einen Sarg hatte es nicht gereicht.
Als Kind war Carl eine armselige Kreatur. Der zu große Kopf saß auf einem zu schmächtigen Körper und dieser auf zu kurzen Beinen. Er hatte sich die pechschwarzen Haare vor die dunklen Augen gestriegelt, als wolle er die Welt nur durch ein dichtes Netz sehen oder sich verstecken oder vor dem Spott über seine Figur und die Hasenscharte schützen.
Seine ersten Lebensjahre hatte Carl in der einsamen Hofreite ‚Blumroth’ seines Oheims Johann Pauli verbracht, fern der Stadt, draußen vor der Stadtmauer Lympurgs, jenseits des Wehrgrabens Schiede. Der Hof hatte im Dreißigjährigen Krieg stark gelitten und bestand nur noch aus einem heruntergekommenen Gehöft samt Viehstall und einer kleinen, einsturzgefährdeten Kapelle. Aber immerhin verfügte er über ein eigenes Gotteshaus. Pauli hatte die Hofstatt vom edelmütigen Freiherrn von Hohenfeld gegen einen niedrigen Zins gepachtet mit der Auflage, sie soweit herzurichten, dass sie wieder ertragreich bewirtschaftet werden konnte. Ein Gewinn für beide, den Freiherrn ebenso wie den Hofbeständer.
Johann war ein schweigsamer, in sich gekehrter Mensch. Das hatte seine Gründe. Seine Kindheit verlebte er auf einem bescheidenen, aber durchaus einträglichen Bauernhof in Mühlen an der Lahn unweit von Lympurg. Die beschauliche Lage in Sichtweite zur Dietkirchener Sankt Lubentiuskirche tröstete nicht über die schweren Zeiten hinweg, die der große Krieg mit sich brachte. Ständig waren durchziehende, halb verhungerte und verlotterte Söldner mit ihrem Tross vor allem bei den Bauern nach ess- oder versilberbarer Beute aus, so auch in Mühlen. Sie nahmen sich mit unvorstellbar roher Gewalt Früchte, Vieh, Geschirr und selbst die Möbel zum Verfeuern – ohne Rücksicht auf die fünfköpfige Familie Pauli. Schließlich war nichts Essbares mehr am Hof zu holen, das Vieh war längst geraubt, die Ernte so mager, dass es selbst für die Bauernleute zum Leben nicht reichte. Dennoch forderten eines Tages schwedische, sturztrunkene Soldaten die Herausgabe von Früchten und Branntwein, die sie noch auf dem Hof wähnten. Brutal, gewaltsam, entmenscht. In ihrer furiosen Wut folterten sie erst den Vater mit dem barbarischen Schwedentrunk, dann schlugen sie auf die Mutter ein, ins Gesicht, in den Bauch. Aus Zorn, ohne Beute abziehen zu müssen, hängten sie den nur...