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Lagune

Nnedi Okorafor

 

Verlag Cross Cult, 2016

ISBN 9783959812528 , 370 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Kapitel 1


DIE FAUST


Der Moment, als Adaora und die beiden fremden Männer, kurz bevor es geschah, an diesem speziellen Ort eintrafen, war unheimlich. Exakt drei Meter vom Wasser entfernt um genau 23:55 Uhr am 8. Januar 2010. Adaora kam von der Nordseite des Strandes. Der große, verschleierte Mann kam von Osten. Der blutige Mann in der Armeeuniform von Westen. Sie schlenderten in die Richtung, die sie eingeschlagen hatten, und musterten einander, als deutlich wurde, dass ihre Wege sich kreuzen würden.

Nur Adaora zögerte. Dann ging sie wie die beiden anderen weiter. Sie war in Lagos geboren und aufgewachsen und sie trug gut sitzende Jeans und eine unauffällige Bluse. Wahrscheinlich hatte sie an diesem Strand mehr Zeit verbracht als die beiden Männer zusammen.

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und richtete den Blick nach vorn. Das offene Meer war rund fünfhundert Meter von ihr entfernt. Dort breitete sich der Atlantik über den Sandbänken aus. Wann immer etwas Schlimmes geschah, führten ihre Füße Adaora hierher, an den Bar Beach von Lagos.

Man könnte sagen, dass Bar Beach die nigerianische Gesellschaft perfekt widerspiegelte. An diesem Ort vermischte sich alles. Der Ozean vermischte sich mit dem Land und die Reichen mit den Armen. Bar Beach zog Drogenhändler, Obdachlose, verschiedene Akzente und Sprachen, Möwen, Müll, Sandmücken, Touristen, alle möglichen religiösen Eiferer, fliegende Händler, Prostituierte, Freier, ins Wasser vernarrte Kinder und ihre unaufmerksamen Eltern an. Die beliebtesten Treffpunkte waren die Strandbars und kleinen Restaurants. Das Meer vor Bar Beach war für ernsthafte Schwimmer jedoch zu gefährlich. Selbst den besten drohte wegen der vielen Ripströmungen ein nasses Grab.

Adaora hatte ihre Sandalen ausgezogen. Wahrscheinlich war das keine gute Idee, denn die Nacht war dunkel. Bisher war sie jedoch weder in Holzsplitter, rostige Nägel, Glasscherben noch scharfe Steine getreten. Sie sehnte sich so sehr danach, den kühlen Sand zwischen den Zehen zu spüren, dass sie bereit war, das Risiko einzugehen. Trotz des ganzen Mülls haftete Bar Beach immer noch etwas Heiliges an.

Am 12. Juni 1993, dem Tag, an dem die demokratischsten Wahlen in der Geschichte Nigerias abgehalten worden waren, hatte Adaora ihren Vater zum Strand begleitet und gesehen, wie er vor Freude weinte. Am 23. Juni hatte ihre Mutter sie hierher gebracht, weil ihr Vater und ihre Onkel zu Hause fluchten und schrien, nachdem das Militär diese Wahlen annulliert hatte.

Sie war hierhergekommen, um zu vergessen, dass ihre beste Freundin mit ihrem Biologieprofessor schlief, um seinen Kurs zu bestehen. An dem Tag, an dem ihr von der Universität Lagos der Doktortitel in Meeresbiologie verliehen worden war, war sie hierhergekommen, um den höheren Mächten dafür zu danken, dass sie ihr geholfen hatten, während der Arbeit daran nicht den Verstand zu verlieren (und dafür, dass sie mit niemandem hatte schlafen müssen, um diesen Titel zu bekommen).

Letztes Jahr war sie hierhergekommen, um zu weinen, nachdem ihr Vater zusammen mit dreißig anderen Menschen beim gescheiterten Überfall auf einen Luxusbus ums Leben gekommen war. Der Überfall hatte auf dem Lagos-Benin Expressway stattgefunden, einer der vielen, vielen, vielen gefährlichen Straßen Nigerias. Die Banditen hatten den Passagieren befohlen, den Bus zu verlassen und sich auf die zu diesem Zeitpunkt leere Straße zu legen. Sie waren so dumm gewesen, dass sie nicht auf die Idee gekommen waren, ein Lastwagen könne auftauchen und (aus Angst vor den bewaffneten Banditen Gas gebend) alle überfahren, inklusive der Banditen.

Und nun ging Adaora am Strand entlang, weil ihr geliebter, perfekter Ehemann, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet war, sie geschlagen hatte. Hart geschlagen. Nur wegen eines Hip-Hop-Konzerts und eines Priesters. Zuerst hatte sie verletzt und benommen dagestanden, die Hand auf die Wange gelegt und gehofft, dass die Kinder nichts gehört hatten. Dann hatte sie ausgeholt und zurückgeschlagen. Das hatte ihren Ehemann so wütend gemacht, dass er sich auf sie gestürzt hatte. Doch sie war vorbereitet gewesen. In diesem Moment hatte sie nicht mehr an die Kinder gedacht.

Sie wusste nicht, wie lange sie und ihr Mann sich wie wilde Hunde auf dem Boden gewälzt hatten. Und wie der Kampf geendet hatte … das war nicht normal gewesen. Einen Moment lang hatten sie noch gerauft, im nächsten wurde ihr Mann mysteriöserweise zu Boden gedrückt, als hielten starke Magneten seine Hand- und Fußgelenke dort fest. Während er sich wand und schrie, war Adaora aufgestanden, hatte ihre Schlüssel gegriffen und war aus dem Haus geflohen. Zum Glück lebten sie auf Victoria Island, nur wenige Minuten von Bar Beach entfernt.

Sie rieb sich die geschwollene Wange. Trotz ihrer dunklen Haut würde die Röte auffallen. Sie streckte das Kinn vor und versuchte, die beiden Männer, die von rechts und links auf sie zukamen, zu ignorieren. Nach dem, was sie gerade mitgemacht hatte, würde sie sich von keinem Mann den Weg versperren lassen. Doch als sie näher kam, musterte sie die beiden verstohlen.

Sie runzelte die Stirn.

Der Mann in der Armeeuniform sah aus, als hätte er einen Tag mit »viel, viel Pfeffer« hinter sich. Er erinnerte Adaora an einen geprügelten Löwen. Er machte sich nicht die Mühe, das Blut, das ihm aus der Nase tropfte, abzuwischen. Und sein halbes Gesicht war geschwollen. Doch sein Blick war fest und ungebrochen. Bei dem anderen Mann handelte es sich um einen großen, dunkelhaarigen Kerl, dürr wie eine Vogelscheuche, der einen schwarz-weißen Schleier trug. Vielleicht war er ein Muslim. Er musterte den näher kommenden, erschöpft wirkenden Soldaten eindringlicher als Adaora.

Sie gingen weiter in gerader Linie aufeinander zu. Adaora sah den Mann mit dem Schleier aus zusammengekniffenen Augen an. Irgendetwas ist mit ihm, dachte sie, während sie auf das Meer zuging. Aber was? Doch sie wurde nicht langsamer. Und so trafen sie alle drei aufeinander. Der große Mann sagte als Erster etwas. »Entschuldigung …«

»Sagen Sie mir, dass das ein Witz ist«, unterbrach ihn Adaora, als sie erkannte, weshalb ihr der Mann aufgefallen war. »Sind … sind Sie … darf ich fragen, ob …«

Der große Mann seufzte genervt und entfernte seinen Schleier. »Das bin ich«, sagte er, ohne sie ausreden zu lassen. »Aber nennen Sie mich nicht Anthony Dey Craze. Ich wollte nach dem Konzert noch etwas spazieren gehen. Heute Nacht möchte ich nur Edgar genannt werden.«

»Na wao!«, rief sie lachend aus und legte die Hand auf ihre schmerzende Wange. »Den Schal hatten Sie auf Ihrem Albumcover an, richtig?« Nach dem, was zu Hause geschehen war, überraschte es sie, dass sie lachen konnte. Doch das tat gut. »Ich hätte eigentlich auf Ihrem Konzert sein sollen!«

Irgendwann hatte ihr Mann Chris seine Entscheidung, sie mit ihrer besten Freundin Yemi zu Anthony Dey Crazes Konzert »gehen zu lassen«, wohl bereut, denn er hatte ihr den Weg versperrt, als sie das Haus verlassen wollte. »Seit wann muss ich dich überhaupt um Erlaubnis fragen?«, hatte sie verblüfft zu ihm gesagt. Da hatte er sie geschlagen.

»Bitte«, sagte der blutende Soldat. Er zog das grüne Barett von seinem glatt rasierten Kopf und wrang es in seinen zitternden Händen. »Hat einer von Ihnen ein Handy? Ich muss dringend meinen Vater anrufen. Ich bezahle Sie auch gut dafür.«

Adaora hörte ihm kaum zu, sondern betrachtete ihn zum ersten Mal aus der Nähe. Er war nicht nur verletzt, er war auch zutiefst verstört. Das Blut, das aus seiner Nase lief, glänzte im Licht der Straßenlampen und dem des Monds. Sie nahm die Hand von ihrer brennenden Wange und streckte sie nach ihm aus.

»Hey, mein Freund«, sagte Anthony und sah den Soldaten besorgt an. Er zog sein Handy aus der Tasche. »Sie bluten! Brauchen Sie Hilfe? Geht es Ihnen …«

»Nein!«, fuhr der Soldat ihn an.

Adaora wich zurück und hob instinktiv die Fäuste.

»Mir geht es nicht gut! Sehe ich aus, als ginge es mir gut?« Er streckte die Hand nach Anthonys Handy aus. »Ich muss sofort jemanden anrufen! Meine Fam…«

MUUM!

Anthony ließ sein Handy fallen und sie alle drei warfen sich in den Sand, die Hände auf den Kopf gepresst. Adaora sah entsetzt zuerst den blutenden Soldaten, dann Anthony an. So ein Geräusch hörte man nicht an Bar Beach oder sonst irgendwo in Lagos. Die lautesten Geräusche an Bar Beach wurden normalerweise von Frauen verursacht, die Männer anschrien, oder von den Fehlzündungen alter Autos auf den Straßen. Dieses Dröhnen war so tief, dass Adaora es in der Brust...