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Wie man wird, wer man sein kann - 29 Regeln zur Persönlichkeitsbildung

Rolf Arnold

 

Verlag Carl-Auer Verlag, 2016

ISBN 9783849780388 , 241 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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18,99 EUR

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Regel 1: Nimm deine Biografie als das, was sie ist: eine Erzählung dessen, was gewesen ist. Lies sie und integriere sie, ohne beständig aus ihr zu zitieren!

Menschen leben im Repeat-Modus: Sie sind in ihrem Denken, Fühlen und Handeln stets auch dem treu, was sie waren und was sie geworden sind. Kaum einer vermag aus einer ständigen Distanzierung von seinem früheren Leben heraus eine wirklich tragfähige Vorstellung von der eigenen Zukunft zu entwickeln. Selbst, wenn wir uns aus vergangenen Bindungen gelöst haben, um neue Wege zu gehen, nehmen wir uns selbst und unsere Sicht der Welt mit. Dadurch sorgen wir dafür, dass wir uns nicht völlig verlieren, sondern auch in den neuen Lebenslagen auf vertraute Weise denken, fühlen und handeln können. Nicht selten entfalten die dabei wirkenden inneren Mechanismen allerdings auch eine Art Eigenleben, und ehe wir‘s uns versehen, finden wir uns in den vertrauten Gefühlen der Vergeblichkeit, der Ausgrenzung oder der Enttäuschung wieder. Doch die Anlässe für diese Gefühle liegen nicht im Außen – selbst, wenn wir sie dort immer wieder zu finden meinen.

»Was heißt das denn? Soll ich mich etwa völlig auflösen, um dann mit meinen 52 Jahren Lebenserfahrung völlig ohne Substanz dazustehen?« – so die Frage eines Workshopteilnehmers. »Schließlich bin ich doch bislang ganz gut gefahren mit dem, was ich für angemessen, richtig oder zumutbar hielt, und meinen entsprechenden Reaktionen!« Auf die Nachfrage, ob er denn der Meinung sei, dass er den Menschen, von denen er sich in seinem bisherigen Leben abgewandt hat, mit seiner Beurteilung wirklich gerecht geworden ist, wurde er still und sagte: »Um ehrlich zu sein. Mir passiert es immer wieder, dass ich mich schnell über jemanden aufrege und ihm dann auch kaum mehr eine weitere Chance biete, sich mir anders zu zeigen!«

Dieses Beispiel zeigt: Die eigene Kontinuität ist eine wichtige, aber nicht unproblematische Substanz. Sie gibt unserer Persönlichkeit Beständigkeit, legt ihr aber auch Fesseln an. Lektionen der Vergangenheit, die dereinst das Überleben sicherten, können uns in unserem heutigen Leben einengen und von den einmaligen Potenzialen der jeweiligen Situation trennen.

Wir sehen dann den neuen Arbeitsplatz durch unsere bisherigen Erfahrungen. Dem neuen Vorgesetzten begegnen wir mit dem bei früheren Führungspersonen oder bereits bei den eigenen Eltern entstandenen Unbehagen. Oder wir nähern uns dem neuen Partner voller Ängste und Vorbehalte, die mit ihm nichts, mit unserer Biografie aber viel zu tun haben. Indem wir uns in dieser Weise dem Neuen nähern, betrachten wir es aus unserer Vergangenheit – nicht selten mit dem Ergebnis, dass auch dieses Neue mehr und mehr der Erfahrung gleicht, die wir bereits in uns tragen. »Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind!« heißt es im Talmud, einer jüdischen Schrift aus dem 5. Jahrhundert vor Christus. Dies bedeutet: Wir zitieren beständig aus unserer bisherigen Biografie – meist leise, oft aber auch laut, indem wir in unseren aktuellen Beziehungen Redewendungen verwenden und Vorwürfe adressieren, deren Originalton dem eigenen Kinderzimmer entstammt.

Diesen Wahrnehmungsmechanismus bezeichnet die Sozial- und Wahrnehmungspsychologie seit Langem als Projektion. Gemeint ist damit der Sachverhalt, dass

»(…) ein Mensch immer nur wahrnehmen kann, was er zumindest als Hypothese in sich trägt, bzw. die äußere Realität immer seinen Mechanismen angleicht« (Maurer 2000, S. 36).

Unsere Biografie stiftet uns somit die Hypothesen, mit deren Hilfe wir uns in der Zukunft orientieren – nicht eins zu eins, wohl aber in der Form unserer tragenden Gewissheiten, lauernden Befürchtungen, ausschnitthaften Fokussierungen und in dem steten Bemühen, uns selbst mit unseren vertrauten Formen des Denkens, Fühlens und Handelns wiederentdecken zu dürfen.

Eine tragfähige Konzeption der Persönlichkeitsbildung weiß nicht nur um die Mechanismen der selbst erfüllenden Prophezeiung, sie kennt vielmehr auch deren zähe Verankerung in unserem Leben mit seinen Lektionen (vgl. Watzlawick 1988).

Bereits der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) hat diesen Mechanismus des Erkennens, Deutens und Schlussfolgerns genauer analysiert. Er sprach von zwei gleichzeitig stattfindenden Wechselbewegungen des Erkennens und Lernens, welche er mit etwas sperrig daherkommenden Begriffen bezeichnete – nämlich der Assimilation (auf eine neue Situation wird mithilfe bereits vorhandener Muster des Denkens, Fühlen und Handelns reagiert) und der Akkomodation (bisherige Muster werden erweitert und an die Wirklichkeit angepasst). Er schreibt:

»Erkenntnis erwächst ursprünglich weder aus den Objekten noch aus dem Subjekt, sondern – aus zunächst unentwirrbaren – Interaktionen zwischen dem Subjekt und diesen Objekten. Diese (anfänglich) sehr einfachen Interaktionen formen ein engmaschiges und unauflösliches Netz. (…)

Kein Verhalten nämlich, selbst wenn es für Individuen neu ist, bedeutet einen absoluten Neuanfang. Es wird stets auf schon vorhandene Pläne übertragen und bedeutet deshalb im Grunde nur die Assimilierung neuer Elemente an bereits aufgebaute Strukturen« (Piaget 1981, S. 32 u. 42).

Wir sind somit ebenso mit unseren Annahmen identisch, wie wir auch zur nüchternen Prüfung, Auswertung und verändernden Schlussfolgerung fähig zu sein vermögen. Dann können sich unsere vertrauten Deutungsmuster wandeln, und wir können auch aus beengenden oder beängstigenden Emotionsmustern aussteigen und Neues wagen. Solche Veränderungen bewirken letztlich eine »Modifikation« unserer »Assimilierungsstruktur« – ein Effekt, den Jean Piaget, wie gesagt, als »Akkomodation« bezeichnet (ebd., S. 44). Diese ist zunächst unwahrscheinlich, funktionieren unsere Wahrnehmungsmechanismen doch so, dass sie nach Bestätigung suchen und die uns verfügbaren und vertrauten Erklärungen zunächst dazu verwenden, das Neue zu interpretieren. Die Hirnforscher sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass angesichts solcher neuen Lagen ein »Neuronennetzwerk«

»(…) neu angelegt bzw. ein vorhandenes ›umverdrahtet‹ werden (muss). Die entsprechenden Areale erhalten nun die Aufgabe, sich mit dem Problem zu befassen. Dabei kann es sich um das Erkennen eines unbekannten Objekts, das Verstehen einer neuartigen Aussage, das Erlernen einer ungewohnten Bewegung, das Lösen eines Problems oder das Vorstellen eines neuartigen Sachverhalts handeln. Letztlich müssen immer neue Neuronenverknüpfungen angelegt werden, die in der Lage sind, ein Verhalten zu steuern oder einen internen Zustand zu erzeugen, welcher vom Gehirn als Lösung des Problems angesehen wird. Das geschieht mit allen Mitteln, die dem Gehirn zur Verfügung stehen, und dies sind neben den aktuellen Sinnesdaten auch die Gedächtnisinhalte, die auf ihre mögliche Relevanz hin geprüft werden müssen« (Roth 1997, S. 232).

Persönlichkeitsbildung muss deshalb – so die diesem Buch zugrundeliegende These – um die eigenen – gewissermaßen: bevorzugten – Erfahrungs-, Interpretations- und Bewertungsmuster wissen, will sie nicht die für jegliche Persönlichkeitsbildung grundlegende Dimension der Bewusstwerdung verfehlen.

Wer in diesem Sinne wirklich um seine eigene Strukturdeterminiertheit weiß, der beobachtet, beurteilt und bewertet zurückhaltender. Ihm bleibt stets bewusst, dass er »nicht weiß«, um den bekannten Spruch von Sokrates (469–399 vor Chr.) korrekt zu zitieren. Dieser hatte nämlich keineswegs behauptet, dass er »nichts« wisse, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass alles menschliche Wissen letztlich ein »Scheinwissen« sei (Böhme 2002, S. 195 ff.) – gespeist und häufig zur Entschiedenheit versteift durch unser Bedürfnis nach Sicherheit, Bescheidwissen und Rechthaben, weil wir nach Berechtigung streben. Letztlich können wir heute einen Schritt weiter gehen als Sokrates und ernüchtert feststellen: »Ich weiß, dass ich nicht weiß, sondern nur beständig aus meiner Biografie, der Summe meiner Geschichten, Erfahrungen und Ichzustände, zitiere!«

Wer in diesem Sinne das eigene Wissen als Scheinwissen entlarven konnte und diesen Zustand tatsächlich auszuhalten vermag, der mutet sich seinem Gegenüber dann nicht mehr so zu, wie er selbst die Situation kognitiv und emotional zu konstruieren gelernt hat, sondern weiß um die beständig störende Einmischung seiner eigenen Gewissheit. Für ihn ist der Satz Ludwig Wittgensteins leitend, der feststellte: »Dass es mir – oder Allen – so scheint, daraus folgt nicht, dass es so ist« (Wittgenstein 1984, S. 119). Er muss dann nicht mehr derjenige bleiben, der sich berechtigt fühlt, weil er Recht hat, sondern er kann sich berechtigt fühlen, weil ihm die Vordergründigkeit dieses Gefühls bewusst geworden ist und er nach anderen Substanzen seiner Identität zu suchen in der Lage ist. Welche Substanzen könnten dies sein? Ludwig Wittgenstein schreibt:

»Dass es den Menschen so scheint, ist ihr Kriterium dafür, dass es so ist. (…) Wir haben Vorurteile die Verwendung der Wörter betreffend« (ebd., S. 60).

Die Substanz der Persönlichkeitsbildung kann sich deshalb auch nicht aus einer anderen Gewissheit – frei von Vorurteilen und Überlieferung – ergeben. Sie kann nur aus der spürbar gelebten Ernüchterung über das, was uns zäh umklammert und zur Entschiedenheit drängt, entstehen. Zunächst ist es deshalb weiterführend, in Konflikten und...