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Hinter den Inseln - Roman

Garry Disher

 

Verlag Unionsverlag, 2016

ISBN 9783293303560 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

12,99 EUR


 

Maschinenträume


In den Tagen und Nächten seiner Auseinandersetzung mit der Hitze, dem Staub und seiner eigenen Tollpatschigkeit hält sich der Junge an eines: an das gedämpfte Knirschen der Reifenprofile auf den Schaftrampelpfaden, kurz bevor die Welt erwacht. Er rollt in sanftem, unaufhaltsamem Schwung über den festgetretenen Lehm, tritt nur gelegentlich bei einer Wurzel oder einem steinigen Buckel mitten auf dem Pfad in die Rücktrittbremse. Der Basaltsteilhang im Osten bildet eine starre rosige Linie, eine lange brechende Welle. Bald wird er sich verändern, die Sonne wird ihn rot tünchen. Nicht weit entfernt im Westen bricht sich der Indische Ozean am Eighty Mile Beach. Die Trampelpfade verschwinden an den Dünen. Man muss sich vorbeugen und mit dem Rad über der Schulter die Sandflanken hinaufsteigen, um den Abhang und den harten Sand am Rande des Wassers zu erreichen. Manchmal ankert eine Perlenflotte am Horizont, oder ein holländischer Gulden wird nach dreihundert Jahren Bewegung und Verkrustung am Meeresboden an den Strand gespült. Auch Neil Quiller besitzt solche Dinge. Ansonsten herrscht nur seine Benommenheit.

Als er in den lang gestreckten Schatten der aufgehenden Sonne die Trampelpfade entlangfährt, spürt er in den Lenkergriffen aus Kork zwei schwache Schläge. Er schlingert, riskiert einen Blick nach hinten und sieht eine Schlange, die sich aufbäumt und nach ihm schnappt, bevor sie im Gras verschwindet. Welchen Nutzen sollen die Gamaschen, dornenfesten Reifen und Seilstücke, die er zwischen die Radgabeln gespannt hat, um Kletten fern zu halten, gegen Schlangen haben? Von Schlangen hat ihm Onkel Leonards Hufschmied nichts gesagt.

Neil fängt an zu zittern. Seine Ellbogen können das Gewicht nicht mehr halten, seine Knie die Pedale nicht mehr antreiben. Er steigt ab und müht sich durch ein trockenes Bachbett, bis er weit genug weg ist von den tückischen Grasschatten und lebenden Dingen, dann setzt er sich auf den Boden, atmet aus und ein und hört das Blut in den Schläfen rauschen. Als er sich wieder gefasst hat, legt er sich auf den einladenden Sand. Wäre der Sand der winterliche Schnee eines Februars im Norden Englands, dann würde er einen Engel zeichnen.

Komische Vorstellung, dass hier die Zeit zehn Stunden vor der Zeit dort ist. Wenn hier der Morgen dämmert, legt sich dort ein langes abendliches Zwielicht über den Tyne. In seinem früheren Leben würde er sich nun weigern, sich hinzulegen, und seiner Mutter klagen, es sei zu hell, um einzuschlafen. Er würde sich vielleicht sogar auf die Hintergasse hinausschleichen und die Eulen beobachten, die in Jesmond Dene nisten, wo in den windgeschützten Schatten heiße Stimmen flüstern, Gummilitzen schnalzen, Stoff an Oberschenkeln schabt, Kohlenaugen aufflammen und beißender Qualm weht. In stillen Nächten kann man die Nietschläger auf den Schiffswerften hören. Dann Dunkelheit und ein neuer Tag. Vielleicht kein Schultag, sondern einer, den er mit seiner Mutter verbringt. Ein Tag, der ihrer kranken Lunge gut tut, an dem sie Kräfte sammelt und sie mit der Eisenbahn in die eine Richtung nach Durham oder zu dem Römerwall fahren oder in die andere Richtung zu der von den Dänen geplünderten Priorei, in der auf einer Landspitze drei uralte Könige begraben liegen, zusammen mit denen, die ihr Leben erst kürzlich an die See, ans hohe Alter oder an die Leiden der Geburt verloren haben.

Neil Quiller ist in Gedanken am Grab seiner Mutter gleich an der Mauer, die den Friedhof von der Schule trennt, in der er ein wenig Freude kennen gelernt hatte.

Das Licht in Newcastle war fahler gewesen, Baumwipfel, Laternenpfähle und Schornsteine hatten einem ständig die Sicht versperrt. Nie hatte er Grund gehabt, nach oben zu schauen und die Farbe des Himmels zu benennen.

Hier, auf der anderen Seite der Welt, schon.

Er schlägt die Augen auf. Der Himmel über ihm ist grenzenlos, und das kann er nicht ertragen.

Vielleicht hatte auch seine Mutter gespürt, wie dieser Himmel auf ihr lastete. Am Ende war sie vor ihm davongerannt.

1917, nach einer Seereise von sechzehn Wochen, war sie mit anderen Krankenschwestern in einem Armeekrankenhaus südlich von London stationiert worden. Kein Marschbefehl, die Abenteuerlust hatte sie dorthin gebracht, denn Hazel war stets gewillt gewesen, Risiken einzugehen und Gelegenheiten beim Schopf zu packen.

Die ganzen netten Kerle, die durch ihre pflegenden Hände gingen. Viele von ihnen sah sie an Wunden, verätzten Lungen und Hoffnungslosigkeit sterben.

Dann war der Krieg zu Ende, und es zog sie nach Aberdeen. Sie konnte nicht zurück ins nordwestliche Australien, nur vorwärts, anderswohin. »Ich dachte, Schottland wäre auch nicht schlechter als anderswo. Aber als wir über die Brücke über den Tyne kamen, hast du in meinem Bauch so gestrampelt, und ich war von dem Fluss, den Schiffen und der Burg so angetan, dass ich einfach aus dem Zug gestiegen bin.«

Sie war voll von Geschichten dieser Art, voll von Geheimnissen. Neil lauschte, zählte zwei und zwei zusammen und zauberte sich so eine Gestalt herbei, die sein Vater hätte sein können: ein englischer Offizier, nein, ein Australier, nein, ein Kanadier, ein Soldat mit einer harten, flachen, tabakbraunen Brust, an den sich die liebeshungrige Wirbelsäule eines Sohnes kuscheln konnte. Ein Mann, der immer ein Grinsen auf den Lippen trug; stets spielten Lichter in seinen Augen. Ein Mann, der später starb oder nach Hause zurückkehrte.

Doch Neils Mutter sagte: »Ach, dein Vater könnte überall und nirgends sein, mein Junge. Mach dir keine Sorgen. Wir haben ja uns zwei.«

In Newcastle war Schluss mit Wegrennen. Es gab einen Sohn durchzubringen und jede Menge Arbeit für eine Krankenschwester in einer Stadt der Hochöfen und des geschmolzenen Metalls. Sie siedelte sich in Jesmond an, nur zwanzig Minuten zu Fuß bis zur Royal Infirmary und zum Stadtzentrum. Als ihre Lungen dreizehn Jahre später der alles durchdringenden Feuchtigkeit erlagen, fragte sich Neil, ob sie dies nicht aus Sympathie mit ihren Soldaten und Schiffbauern taten. Seine Mutter ersparte ihm nichts; das war ihre Art, ihn auf ihren Tod vorzubereiten, und schon bald war er so in ihr Sterben vertieft, dass es ihm wie ein Lebenszustand erschien.

Dass sein Vater ein kanadischer Soldat war, bestätigte oder leugnete sie allerdings nie.

»Tante Crystal und Onkel Len werden dich aufnehmen, mein Lieber«, sagte sie. »Sei stark, mir zuliebe.«

Neil war mit Überseekoffer und Fahrrad vierzehn Wochen auf See. In Fremantle holte ihn der Agent der Schifffahrtslinie ab, eilte mit ihm den Kai entlang und sagte: »Wir haben nicht viel Zeit.« Neil bestieg ein zweites Schiff, den monatlich verkehrenden Dampfer von Fremantle nach Singapur, der ihn in Broome absetzen sollte. Die folgenden sechs Tage stand er an der Reling im gammelnden Gemüsedunst der Kisten rings um ihn herum, frischer Proviant für die Häfen des Nordens.

Crystal, die Schwester seiner Mutter, die sich ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase hielt, holte ihn am anderen Ende der Reise ab. Sie war so steif und knorrig wie ein Stück Seil und hatte das rohe Aussehen einer enttäuschten Frau in einem trockenen Klima – ganz anders als seine Mutter, die bis kurz vor ihrem Tod rund und weich gewesen war, stets scharfsinnig und humorvoll. Neil ging neben ihr den langen Anlegesteg in Roebuck Bay entlang, das Fahrrad schlug ihm gegen die Hüfte, ein Timorese hinter ihnen trug den Überseekoffer, doch seine Tante fragte ihn nicht einmal, wie es ihm ging, erwähnte Hazels Tod mit keinem Wort, stellte keinerlei Vermutungen an. Es war, als könne sie ihre Gedanken nicht auf England konzentrieren, auf eine Seereise oder die Bedürfnisse und Kümmernisse eines dreizehnjährigen Jungen. Neil sah ihren Strichmund, was ihn an einen Tag kurz vor dem Tod seiner Mutter erinnerte, an einen Brief, den sie in der Faust zerknüllte:

»Meine Schwester hat nie ein Wort über dich verloren, hat nie anerkannt, dass ich krank bin, hat nie angeboten zu kommen und bei mir zu sein, obwohl Leonard ihr die Überfahrt bezahlt hätte. Ich war immer die bevorzugte ältere Schwester, sah besser aus, war klüger, hatte mehr Glück, und offenbar gilt das selbst auf meinem Sterbebett.«

Dann hatte sie innegehalten und sich weit zurückerinnert. »Leonard war in mich verliebt, musst du wissen.«

Neil, der spürte, dass er nur ein weiterer Schicksalsschlag im Leben seiner Tante war, ging stumm bis zum Ende der Anlegestelle, wo ein staubiger Tourenwagen unter einem Baum wartete. Haarlem Downs, sagte Crystal zu ihm, sei sechs Stunden entfernt, die ganze Strecke nur Staubpisten.

An jenem ersten Abend hatte sein Cousin Cameron gesagt: »Neil, sag mal ›heim‹.«

»Hoim.«

»Hah! Sag mal ›stehen‹.«

Neil tat, wie ihm geheißen. »Stohn.«

Die Dunns rings um den Esszimmertisch grinsten ihn an. Der Schimmer in Crystals Augen war wie ein Nagel zu Hazels Sarg; Onkel Leonards Pfeife gluckerte feucht; Cameron schaute unter seinen schläfrigen Lidern hervor. Neil zog die ihm vertraute Beklommenheit fester um sich und säbelte an seinem Stück Ziegenfleisch herum. Er saß in einem steinernen Zimmer in einem Haus an der Grenze der Zivilisation. Die Esszimmerstühle waren mit Büffelleder bezogen, Gewehre hingen an hölzernen Haken über der Anrichte, es gab ein...