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Call the Midwife - Im Schatten der Armenhäuser. Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Jennifer Worth

 

Verlag Edel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe, 2016

ISBN 9783841904829 , 300 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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10,99 EUR


 

TEIL II

SCHWESTER MONICA JOANS PROZESS


Schwester Monica Joan


Schwester Monica Joan starb nicht, nachdem sie an einem kalten Novembermorgen im Nachthemd die East India Dock Road entlangspaziert war. Sie zog sich zwar eine schwere Lungenentzündung zu, aber sie starb nicht. Ganz im Gegenteil: Das Erlebnis schien sie sogar verjüngt zu haben. Vielleicht genoss sie es, von Mrs B. und den anderen Schwestern bekocht und verhätschelt zu werden. Zweifellos gefiel es ihr, im Mittelpunkt zu stehen. Vielleicht hatte das neue Wundermittel Penicillin ihr altes Herz angekurbelt. Warum auch immer, Schwester Monica Joan bekam im Alter von 90 Jahren noch mal eine Dosis Lebenslust und schon bald sah man sie wieder in ganz Poplar umherstreifen – zur Freude aller.

Die Nonnen von St. Raymund Nonnatus gehörten zu einem anglikanischen Orden. Sie hatten alle ein Gelübde abgelegt, waren ausgebildete Krankenschwestern und Hebammen und ihre Berufung war es, bei den Ärmsten der Armen zu arbeiten. Sie hatten ihren Sitz in einem Haus in den Docklands seit den 1870er-Jahren, als ihre Arbeit noch revolutionär war. Zu dieser Zeit wurden arme Frauen in der Schwangerschaft und bei der Entbindung überhaupt nicht medizinisch versorgt und die Sterberate war hoch.

Den Beruf der Hebamme gab es damals noch gar nicht. Jede Gemeinde hatte Frauen, die den Frauen bei der Geburt beistanden. Solche Frauen wurden „handywoman“ genannt, ihre Kenntnisse wurden von Mutter zu Tochter weitergegeben und ihre Tätigkeit bestand vorwiegend darin, sich um die Frauen im Wochenbett zu kümmern oder die Toten wegzuschaffen. Manche dieser Frauen kannten sich gut aus und nahmen ihre Aufgabe mit Warmherzigkeit und Verantwortungsbewusstsein wahr. Ausgebildet und registriert waren sie jedoch nicht.

Viele engagierte Frauen, die Nonnen von St. Nonnatus eingeschlossen, kämpften unermüdlich vor dem Parlament, das sie nicht ernst nahm und gegen sie eingestellt war. Sie fanden, dass der Beruf der Hebamme offiziell anerkannt werden sollte, dass Hebammen eine Ausbildung brauchten und offiziell registriert werden sollten. Nachdem eine ganze Reihe Gesetzesvorlagen in diese Richtung abgelehnt worden war, setzten sich die Frauen aber letztlich durch, und 1902 trat das erste Hebammengesetz in Kraft. Das Royal College of Midwives war geboren und die Sterberate im Kindbett und die Kindersterblichkeit verringerten sich.

Diese Nonnen waren echte Heldinnen. Sie begaben sich in die Slums der Docks von London zu einer Zeit, als niemand sonst sich dort hintraute, vielleicht mit Ausnahme der Polizei. Bei Cholera-, Typhus-, Tuberkulose-, Scharlach- und Windpocken-Epidemien hatten sie ihre Patienten behandelt, ohne Rücksicht auf die Ansteckungsgefahr für sich selbst. Sie hatten während beider Weltkriege und selbst während der schweren deutschen Bombardements auf London gearbeitet. Ihre zweifache Berufung, der Dienst für Gott und der zum Wohle der Menschheit, inspirierte sie und hielt sie aufrecht.

Aber es wäre ein Fehler zu denken, dass die Nonnen außer Kirchenglocken und Rosenkränzen nichts kannten und dass das Leben an ihnen vorbeizog. Die Nonnen hatten, jede einzelne genauso wie ihre Gemeinschaft als Ganzes, mehr von der Welt und dem, was dort geschieht, gesehen als viele Menschen in ihrem ganzen Leben. Sie kannten Heldentum und Erniedrigung, Sünde und Erlösung. Nein, diese Nonnen waren keine weltfremden Gutmenschen. Sie waren eine Gruppe von resoluten Frauen, die alles erlebt, die gelebt, geliebt und gelitten hatten und doch ihrer Berufung treu geblieben waren.

Das Nonnatus House lag gleich um die Ecke von der East India Dock Road, der Poplar High Street und dem Blackwall-Tunnel. Es war ein großes viktorianisches Gebäude und grenzte direkt an ein Trümmergrundstück. „The Blitz“, Hitlers Bombenangriffe auf London, hatte ein Drittel der Wohnhäuser in den Docklands zerstört und die meisten verfallenen Gebäude und Trümmer waren noch nicht beseitigt worden. Tagsüber waren die Trümmer damals Abenteuerspielplätze für die Kinder. Nachts waren es die Schlafstätten der Fuselsäufer.

Poplar war immer schon chronisch überbevölkert gewesen. Tatsächlich lebten dort schätzungsweise 50.000 Menschen pro Quadratmeile. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Situation sogar noch schlimmer, da die Wohnhäuser zerstört waren und der Wiederaufbau noch nicht begonnen hatte. Die Menschen zogen einfach bei denen ein, die nicht ausgebombt waren. Nicht selten lebten drei oder vier Generationen einer Familie in einem kleinen Haus zusammen oder 15 Personen in zwei oder drei kleinen Zimmern in den Mietskasernen, den Canada Buildings, den Peabody Buildings oder den berüchtigten Blackwall Tenements. Diese viktorianischen Gebäude waren an vier Seiten um einen Innenhof gebaut. Die Balkone lagen zum Innenhof und bildeten die Arterien der Mietskaserne. Es gab keine Privatsphäre. Jeder wusste alles von den anderen und es kam zu fürchterlichen Schlägereien, wenn die Spannungen der zusammengepferchten Familien sich in häuslicher Gewalt entluden. In den Mietshäusern gab es Wanzen und die Hygiene war mangelhaft. Manche der besseren Häuser hatten eine Innentoilette und fließendes Wasser, aber die meisten hatten weder das eine noch das andere und Infektionen verbreiteten sich wie Lauffeuer.

Die meisten Männer arbeiteten am Hafen und Tausende von ihnen strömten morgens durch die Tore. Die Tage waren lang, die Arbeit schwer und das Leben hart, aber die Cockney-Männer kannten es nicht anders und sie konnten einiges aushalten. Die Kulisse von Poplar war die Themse. Die Boote, die Kräne, die Geräusche der Sirenen und das Gluckern des Wassers gehörten zum Geräuschteppich, der hier seit Generationen gewebt wurde. Der Fluss war der ständige Begleiter der Menschen hier, er war Freund und Feind, Arbeitgeber und Spielplatz. Für die Mittellosen wurde er nicht selten die letzte Ruhestätte.

Trotz der Armut und der Entbehrungen war das Leben der Cockneys auch reich, an Menschlichkeit, Humor, Dramen und Melodramen, Pathos und Tragödien. Die Nonnen von St. Raymund Nonnatus hatten die Menschen in Poplar seit mehreren Generationen versorgt. Das vergaßen die Cockneys nicht und die Nonnen wurden von der gesamten Gemeinde geliebt, respektiert und sogar verehrt.

Zu der Zeit, von der ich erzähle, trug sich etwas zu, wodurch das Nonnatus House bis in seine Grundfesten erschüttert wurde. Eigentlich wurde ganz Poplar davon erschüttert, denn es sprach sich im gesamten Bezirk herum und eine Zeit lang redeten die Leute hier von nichts anderem.

Schwester Monica Joan wurde des Ladendiebstahls angeklagt.

Eines Tages, als ich nass und hungrig von meinen abendlichen Hausbesuchen zurückkehrte, spürte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Wie so oft fragte ich mich insgeheim, wie jemals jemand so dumm sein konnte, Bezirkshebamme zu werden. Hätte es nicht auch ein gemütlicher kleiner Bürojob getan, dachte ich, als ich meine Tasche aus dem Fahrradkorb nahm und schon genau wusste, dass ich jetzt noch eine Stunde lang meine Instrumente säubern und sterilisieren musste, bevor ich alles wieder für den nächsten Tag zusammenpackte. Ja, dachte ich zum tausendsten Mal. Ein angenehmer, bequemer Bürojob mit regelmäßigen Arbeitszeiten und Zentralheizung, bei dem ich an einem ruhigen Schreibtisch an meiner Olivetti sitzen und an meine abendliche Verabredung denken konnte. Ein Job, bei dem man nur dafür verantwortlich war, das Protokoll der letzten Besprechung richtig abzulegen, und bei dem ein abgebrochener Fingernagel zum Schlimmsten gehörte, was passieren konnte.

Ich trat ins Haus und sah als Erstes lauter große, schmutzige Fußspuren auf den schönen viktorianischen Fliesen im Hausflur. Große Fußspuren im Ordensstift? Sie waren auf jeden Fall zu groß, um von einer der Nonnen zu stammen. Konnte es sein, dass vor Kurzem eine Gruppe Männer hier gewesen war? Das schien um sieben Uhr abends sehr unwahrscheinlich. Wenn der Pfarrer oder einer der Kuratoren vorbeigekommen wären, hätten sie keine schmutzigen Fußstapfen hinterlassen. Und wenn ein Lieferant am Vormittag so eine Schweinerei hinterlassen hätte, wäre noch vor dem Mittagessen sauber gemacht worden. Aber da waren sie – große, schmutzige Fußspuren im ganzen Flur. Es war rätselhaft.

Dann hörte ich Schwester Juliennes Stimme aus ihrem Büro. Sie sprach normalerweise leise und gedämpft, aber jetzt hatte ihre Stimme eine gewisse Schärfe. Entweder war sie ängstlich oder nervös, es war schwer zu beurteilen. Dann erklangen Männerstimmen. Es war sehr merkwürdig, aber ich wollte mich nicht lange aufhalten, denn ich wusste, dass ich erst die Tasche vorbereiten musste, bevor ich etwas zu essen bekommen würde, also machte ich mich auf den Weg zum Praxisraum, wo ich Cynthia, Trixie und Chummy ins Gespräch vertieft vorfand.

Chummy hatte offenbar einem Polizeiwachtmeister und einem Polizisten die Tür geöffnet, die nach der leitenden Schwester gefragt hatten. Chummy war ganz aufgeregt, wie immer, wenn ein Mann den Raum betrat. Außerdem war es derselbe Polizist gewesen, den sie einmal versehentlich umgefahren hatte, als sie das Fahrradfahren gelernt hatte. Sie war höchst verlegen, als sie ihn wiedererkannte. Die Männer traten ein und in ihrer grenzenlosen Verwirrung hatte sie die Haustür so fest zugeschlagen, dass es wie ein Pistolenschuss klang. Dann war sie über die Fußmatte gestolpert und dem Polizisten, den sie ein Jahr davor umgefahren hatte, in die Arme gefallen.

Chummy war immer noch so außer sich, dass man kaum ein klares Wort aus ihr herausbekam. Cynthia hatte das Türenknallen und Chummys Sturz gehört und nach dem Rechten gesehen. Sie hatte die Beamten zum Büro begleitet und dann Schwester Julienne...