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Peitsche

Dick Francis

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257606706 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{5}Teil I Februar


1


Gestern habe ich meine Lizenz verloren.

Seine Lizenz zu verlieren und von Newmarket Heath verwiesen zu werden ist für einen professionellen Steeplechase-Jockey genauso wie für einen Arzt der Rausschmiß aus der Ärztekammer, nur schlimmer.

Rennverbot und Rennbahnverbot. Außerdem Rennstallverbot, was mich vor ein ziemliches Problem stellt, da ich in einem Rennstall wohne.

Kein Einkommen und vielleicht auch keine Wohnung mehr.

Die vergangene Nacht war richtig mies, und ich würde die gräßlichen schlaflosen Stunden am liebsten vergessen. Entsetzen und Verwirrung, das Gefühl, daß es einfach nicht wahr sein konnte, daß alles ein Irrtum war – das hielt bis nach Mitternacht an. Aber das Stadium der Ungläubigkeit bot wenigstens einen gewissen Trost. Der Schock der vollen Erkenntnis bot überhaupt keinen mehr. Mein Leben glich den verstreuten Scherben einer kaputten Teetasse, und ich war total aus dem Leim.

Heute morgen nach dem Aufstehen habe ich mir Kaffee aufgebrüht und vom Fenster aus den Stallburschen zugesehen, wie sie sich im Hof zu schaffen machten, dann aufsaßen und auf der Straße zu den Downs davontrabten, und dabei spürte ich zum erstenmal so richtig, was es heißt, ein Ausgestoßener zu sein.

Fred bellte nicht wie sonst zu meinem Fenster hoch: »Willst du den ganzen Tag in deiner Bude rumhängen?«

{6}Diesmal ja.

Keiner von den Stallburschen blickte auf – sie hielten mehr oder weniger angelegentlich den Blick gesenkt. Und sie waren still. Totenstill. Ich sah zu, wie Bouncing Bertie seine knapp vierundsechzig Kilo auf den Wallach hievte, den ich in letzter Zeit ritt, und die Art, wie er seinen dicken Hintern in den Sattel pflanzte, hatte fast etwas Abbittendes.

Und auch er hielt den Blick gesenkt.

Bis morgen würden sie sich wohl wieder einkriegen. Morgen würden sie neugierig sein und Fragen stellen. Mir war klar, daß sie mich nicht verachteten. Sie empfanden Mitleid. Wahrscheinlich zuviel Mitleid, um sich wohl zu fühlen. Und sie waren verlegen: das auch. Und vermieden es aus instinktivem Feingefühl, der totalen Katastrophe allzu rasch ins Gesicht zu sehen.

Als sie fort waren, trank ich langsam meinen Kaffee und überlegte, was ich als nächstes tun sollte. Ein scheußliches, absolut scheußliches Gefühl von Leere und Verlust.

Die Zeitungen waren wie üblich durch meinen Briefschlitz gesteckt worden. Was wohl der Zeitungsjunge, der ja schließlich wußte, was er da ablieferte, gedacht hatte? Ich zuckte die Achseln. Konnte genausogut lesen, was sie geschrieben hatten, die verdammten Pressehengste, zum Teufel mit ihnen.

Von Sporting Life bekamen wir aus Nachrichtenknappheit die Schlagzeilen und die volle Behandlung.

»Cranfield und Hughes disqualifiziert.«

Oben auf der Seite war ein Bild von Cranfield, und in der Mitte eins von mir, breit lächelnd, eine Aufnahme von dem Tag, an dem ich den Hennessey Gold Cup gewonnen hatte. Irgendein kleiner Redakteur hatte seiner Ironie freien Lauf gelassen, dachte ich vergrätzt, und das fröhlichste Bild gedruckt, das er im Archiv hatte ausbuddeln können.

Die dicht bedruckten Zentimeter nördlich und südlich von meinem glücklichen Gesicht waren ungeminderte Düsterkeit.

{7}›Die Stewards haben gesagt, daß meine Erklärung sie nicht zufriedenstellt‹, meinte Cranfield. ›Sie haben mir meine Lizenz entzogen. Ich habe keinen weiteren Kommentar abzugeben.‹

Hughes, so der Artikel, habe fast genau das gleiche gesagt. In Wirklichkeit hatte Hughes, wenn ich mich recht erinnerte, gar nichts gesagt. Hughes war viel zu fassungslos gewesen, um ein Wort geordnet hinter das andere setzen zu können, und wenn er überhaupt etwas gesagt hätte, wäre es nicht druckreif gewesen.

Ich las nicht den ganzen Artikel. Ich hatte das alles schon über die anderen gelesen. Anstelle von ›Cranfield und Hughes‹ konnte man jeden anderen Jockey und Trainer einsetzen, der schon einmal gesperrt worden war. Die Zeitungsberichte darüber waren jedesmal gleich: von keinerlei Faktenkenntnis getrübt. Da es sich bei der Überprüfung eines Rennens um ein Privatverfahren handelte, war die Entscheidungsinstanz nicht verpflichtet, die Öffentlichkeit oder die Presse zum Verfahren zuzulassen, und da sie nicht dazu verpflichtet war, tat sie es auch niemals. Wie so mancher andere zur Nabelschau neigende Betrieb schien sie vielmehr ständig darum bemüht zu verhindern, daß allzu viele Leute dahinterkamen, was wirklich vor sich ging.

Der Daily Witness stocherte genauso im Nebel herum, außer daß Daddy Leeman an seinen üblichen Wallungen von hochtrabender Prosa litt. Er schrieb:

Kelly Hughes, bislang aussichtsreicher Mitbewerber um die diesjährige Krone der Hindernisjockeys und im vergangenen Jahr Fünfter der Rangliste, wurde gestern zu Lizenzentzug auf unbegrenzte Zeit verurteilt. Der dreißigjährige Hughes verließ die Verhandlung zehn Minuten nach Cranfield. Mit blassem, grimmigem Gesicht bestätigte er den Verlust seiner Lizenz und fügte hinzu: ›Ich habe keinen weiteren Kommentar abzugeben.‹

{8}Sie hatten ganz schön scharfe Ohren, diese Pressefritzen.

Ich legte seufzend die Zeitung hin und ging ins Schlafzimmer, um meinen Bademantel gegen eine Hose und einen Pullover zu vertauschen. Danach machte ich mein Bett, und danach setzte ich mich drauf und starrte ins Leere. Ich hatte sonst nichts zu tun. Ich hatte nichts zu tun, soweit das Auge reichte. Leider konnte ich auch an nichts anderes als die Untersuchung denken.

Grob gesagt hatte ich meine Lizenz verloren, weil ich ein Rennen verloren hatte. Ich hatte in der letzten Januarwoche im Lemonfizz Crystal Cup in Oxford einen heißen Favoriten auf den zweiten Platz geritten, und gewonnen hatte ein Außenseiter, den niemand auf der Rechnung hatte. Reines Pech, nur war es leider so, daß beide Pferde von Dexter Cranfield trainiert wurden.

Der Zieleinlauf war von der Tribüne mit empörtem Geschrei bedacht worden, und man hatte mich den ganzen Weg bis zum Absattelring ausgebuht. Dexter Cranfield hatte angesichts der Tatsache, daß er in einem der größten gesponserten Jagdrennen der Saison den ersten und zweiten Platz belegte, eher besorgt als erfreut dreingeschaut, und die Rennleitung hatte uns beide aufgefordert, eine Erklärung abzugeben. Man sei, hatten sie dann verkündet, mit unseren Erklärungen nicht zufrieden. Man werde die Sache an den Disziplinarausschuß des Jockey Club weiterleiten.

Der Disziplinarausschuß hatte vierzehn Tage später ebenso starke Zweifel daran, daß der kuriose Ausgang des Rennens Zufall gewesen war. Absichtlicher Betrug am Wettpublikum, hieß es. Skandalös, unehrlich, empörend, hieß es. Der Pferderennsport müsse auf seinen guten Ruf bedacht sein. Wir beide seien nicht zum erstenmal unter Verdacht geraten. Um andere abzuschrecken, müßten strenge Strafen verhängt werden.

Weg, hieß es. Gesperrt. Auf euch können wir verzichten.

In Amerika wäre das nicht passiert, dachte ich deprimiert. Dort deckte eine Wette auf einen Starter zugleich sämtliche {9}Starter desselben Stalles oder auch desselben Besitzers ab. Wenn also der Stall-Außenseiter statt des Stall-Favoriten gewann, kamen die Wetter trotzdem an ihr Geld. Höchste Zeit, daß diese Regelung auch auf dieser Seite des Atlantiks eingeführt wurde. Nein, falsch: nicht höchste Zeit, sondern längst überfällig.

In Wahrheit war Squelch, mein heißer Favorit, auf der Zielgeraden regelrecht unter mir verhungert, und daß ich noch den zweiten und nicht den fünften oder sechsten Platz belegt hatte, war das reinste Wunder. Und wenn nicht so viele Leute auf ihn gesetzt hätten, hätte ich ihn niemals so rangenommen, wie ich es getan hatte. Daß mich dann ausgerechnet Cranfields anderer Starter Cherry Pie drei Meter vor dem Ziel überholte, war einfach wahnsinniges Pech.

Bewaffnet mit Unschuld und in der begründeten Annahme, daß zwar die Stewards in Oxford sich von der feindseligen Reaktion des Publikums hatten beeinflussen lassen, der Disziplinarausschuß dagegen die Angelegenheit in einer Atmosphäre kühler Vernunft behandeln würde, war ich ohne die geringsten Befürchtungen zu der Verhandlung gegangen.

Die Atmosphäre war denn auch kühl. Geradezu eisig. Daß sie selbst mit Vernunft gesegnet waren, betrachteten die Stewards als ausgemacht. Mir und Cranfield dagegen schienen sie überhaupt keine zuzubilligen.

Der erste leise Hinweis darauf, daß uns der Himmel auf den Kopf fallen würde, ergab sich, als sie eine Liste von neun früheren Rennen verlasen, in denen ich für Cranfield einen geschlagenen Favoriten geritten hatte. In sechs dieser Rennen hatte ein anderer von Cranfields Startern gewonnen. In den anderen drei hatte Cranfield ebenfalls noch andere Starter gehabt.

»Das heißt«, sagte Lord Gowery, »es handelt sich keineswegs um den ersten derartigen Fall. Es ist immer wieder vorgekommen. Früher sind diese Ergebnisse anscheinend nicht aufgefallen, aber diesmal haben Sie den Bogen eindeutig überspannt.«

{10}Ich muß ziemlich dumm ausgesehen haben, als mir vor Verblüffung der Mund aufklappte, und das Problem war, daß sie offenbar glaubten, ich wäre verblüfft darüber, wieviel sie zum Beweis meiner Schuld ausgegraben hatten.

»Aber das ist teils schon Jahre her«, protestierte ich. »Sechs bis sieben, in einigen Fällen.«

»Was ändert das?« fragte Lord Gowery. »Es ist nun mal passiert.«

»So etwas passiert jedem Trainer von Zeit zu Zeit«, sagte Cranfield hitzig. »Das müssen Sie doch wissen.«

Lord Gowery bedachte ihn mit einem emotionslosen Blick. Dieser...